Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Ingo Metzmacher über das DFB-Pokalfinale gegen den VfL Wolfsburg (30.05.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Der Mond, der Takt, die Welt dreht sich weiter

Das Beste kam am Schluss. Es lief die letzte Spielminute und der VfL Wolfsburg führte verdient mit 3:1, als dessen Fans das ewig alte Lied anstimmten: Oh, wie ist das schön, oh wie ist das schön! Sowas ham wir lange nicht gesehn, so schön, so schön! Aus abertausend Kehlen. Immer und immer wieder. Spätestens jetzt wurde jedem Dortmunder klar, hier war nichts mehr zu holen. Der Traum vom Borsigplatz dahin. Jürgen Klopp stand gedankenverloren am Spielfeldrand. Der Mond hing über der Tribüne wie eine einsame Laterne.

Da erhebt sich aus dem Nichts der Dortmunder Fanblock und singt sein eigenes Lied. Heja, heja, BVB . Von den Wolfsburgern ist kaum noch etwas zu hören. Deren Jubel zweitrangig. Die Aufmerksamkeit gehört plötzlich den Schwarzgelben und ihrem scheidenden Trainer. Der Gesang schwillt an, als sich Jürgen Klopp ein letztes Mal auf den Weg zu ihnen macht. Fans haben ein feines Gespür. Sie erkennen die Stärken und die Schwächen ihrer Protagonisten. Schwamm drüber. Heute gilt es Danke zu sagen für die aufregendsten sieben Jahre in der jüngeren Vereinsgeschichte. Mich hat das umgehauen. Es ist so ehrlich, es kommt aus tiefstem Herzen.

Ich war seit Kindheitstagen ein leidenschaftlicher Fan. Ich wusste, was es bedeutet, für die eigene Mannschaft zu schreien. Oder auch, aus Protest gegen den Schiedsrichter gellend zu pfeifen. Das war Musik für meine Ohren, so mittendrin im Fanblock, so dicht aneinandergedrängt, dass man Mühe hatte, das Spiel überhaupt zu sehen. Was gibt es Schöneres, als gemeinsam zu jubeln? Und was kann uns besser trösten in der Niederlage als das Gefühl, nicht allein zu sein?

Als ich ein Junge war, ging ich jeden Tag auf den Fußballplatz. Es war mir das Schönste. Hausaufgaben, Klavierüben, das musste sein. Aber dann ... Wir spielten auf roter Erde. Da konnte man sich schon mal wehtun. Was kümmerte es mich? Fußballspielen war gleichbedeutend mit der großen Freiheit, mit einem weiten offenen Feld, mit Zeit, die ich selbst bestimmen konnte. Samstagnachmittag saß ich dann pünktlich und kerzengerade vor unserem alten Radio. Bundesliga mit Kurt Brumme am Mikrophon. Die Melodie habe ich heute noch im Ohr. Ebenso die Stimmen der Reporter: Die letzten Minuten am Betzenberg, Ausgleich in Hamburg und was passiert bei der Borussia im Stadion „Rote Erde"?

Anstoß im Berliner Olympiastadion. Die beiden Fanblöcke singen sich die Seele aus dem Hals. Vorteil Borussia, eindeutig. Die Stimmen sitzen besser, die Songs sind lange eingeübt. Man versteht sein eigenes Wort nicht. Es gibt ja auch noch nicht so viel zu sagen. Erste große Chance nach fünf Minuten. Kagawa hebt den Ball hinter die Abwehr, Aubameyang vollstreckt. Den hätte ich auch gemacht. Sah irgendwie zu leicht aus. Aus akustischer Sicht verstummen die Wolfsburger Gesänge schlagartig. Die Dortmunder haben eindeutig Oberwasser. Und was wäre wohl aus dem Spiel geworden, wenn Reus aus 10 Metern nicht über das Tor geschossen hätte? Hätte, wenn und aber ... zählt im Fußball nicht (und nicht nur da).

Auf dem Gymnasium musste ich in einem Aufsatz begründen, warum Fußball weltweit die beliebteste Sportart sei. Unser Deutschlehrer hatte die Antwort schon parat. Fußballspiele, so erklärte er, ersetzten kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Völkern. Das sei der Grund für ihre Popularität, punktum. Er war selbst im Krieg gewesen und schien es zu wissen. Mir gefiel diese These nicht, von Anfang an. Sie trifft nicht den Kern der Frage.

Da ich Musiker bin, fand ich schließlich eine andere Erklärung. In der Musik ist die Folge von Spannung und Entspannung innerhalb einer vorgegebenen Dauer sehr wichtig. Höhepunkte müssen sehr genau gesetzt werden. Es dürfen ihrer auch nicht zu viele vorkommen. Es gilt, eine Balance zu finden zwischen dichten und weniger dichten Ereignissen. Aus musikalischer Sicht ist ein Fußballspiel ein Stück, das 90 Minuten dauert. Ich glaube, dass das Verhältnis zwischen der Gesamtlänge des Spiels und den in dieser Zeit möglichen Höhepunkten ein besonders günstiges ist. Das zeigt auch die Erfahrung. Seitdem dieses Spiel existiert, fallen im Durchschnitt drei Tore. Man könnte es auch mit Herbert Achternbusch sagen. Es gibt drei Höhepunkte im Leben: die Geburt, die Hochzeit und den Tod.

Ein Fußballspiel hat keine Partitur. Es wird mehr oder weniger frei gespielt. Aber es gibt Regeln. Die wichtigsten betreffen die Tatsache, dass es zwei Mannschaften gibt, Länge und Breite des Spielfelds, die Anzahl der Spieler, Position und Größe des Strafraums sowie die Maße der beiden Tore. Alle anderen Regeln, wie Foul oder Abseits, fallen in den subjektiven Bereich des Schiedsrichters. Der ist eine Reizfigur. Denn über seine Entscheidungen lässt sich trefflich streiten.

Die Dortmunder bestimmen das Spiel. Da pfeift der Schiedsrichter. Freistoß für den VfL. Klopp regt sich mächtig auf. Wird das gefährlich? Neun Meter muss die Mauer weg. Obwohl zwei Wolfsburger antippen, können die nach vorne stürzenden Dortmunder den Schuss von Naldo nicht verhindern. Langerak wehrt nach vorne ab und Gustavo trifft im Nachschuss. Der Torschrei aus der grünen Kurve erreicht mein Ohr mit Verspätung. Vielleicht haben sie gar nicht damit gerechnet. Auf jeden Fall fällt das Tor unerwartet und das Spiel kippt.

Warum das so ist, gehört zu den Geheimnissen des Fußballs, dessen wichtigstes in dem Satz zusammengefasst wird, Spiele würden im Kopf entschieden. Die Dortmunder stehen vor dem 2:0 und bekommen ein vermeidbares Gegentor. Die Wolfsburger hingegen glauben plötzlich an sich und entfalten ihre ganze Stärke. Und die ist beträchtlich. In der nächsten Viertelstunde schießen sie zwei weitere Tore, blitzsauber herausgespielt. Eine Vorentscheidung. Die Fans fallen ungläubig in ihre Sitze zurück.

Pause. Durchatmen. Ich versuche mir vorzustellen, wie Jürgen Klopp seine letzte Pausenansprache hält. Eindringlich, Mut machend, beschwörend. Er wollte doch noch einmal um den Borsigplatz fahren. Ich bin sicher, er gibt alles.

Die Dortmunder Fans lassen sich nicht lumpen. Auch sie haben eine Pausenansprache gehalten und sich dazu entschlossen, die Mannschaft anzufeuern mit allem, was sie haben. Die Mannschaft spielt auf ihre Kurve zu, das muss doch beflügeln. Und tatsächlich, Reus setzt sich auf der linken Seite durch und flankt scharf nach innen. Kagawa ist da, erwischt den Ball und lenkt ihn aufs rechte untere Eck. Wie in Zeitlupe erlebe ich diese Zehntelsekunden. Der Ball rollt quasi auf mich zu in Richtung Tor. Alle Blicke folgen dem Ball, verdichten sich auf ihn wie unter einem Brennglas, den Schrei schon auf den Lippen.

Vom Pfosten ins Aus...

Klopp wechselt noch dreimal. Hinter mir wird Málaga beschworen, bis in die Nachspielzeit. Abpfiff. Es hat nicht sollen sein.

Und dann? Und dann geht es wie ein Ruck durch die Fankurve.

Heja BVB.

Heja BVB.

Der Mond leuchtet weiterhin, ein bisschen verrutscht, aber sonst in Takt, die Welt dreht sich weiter.

Vielleicht fährt Jürgen Klopp, bevor er Dortmund ganz verlässt noch einmal ganz für sich allein um den Borsigplatz. Irgendwann in der Nacht, wenn es keiner mitkriegt. Ich würde gern wissen, welche Musik er dabei hört. Wie auch immer, ich wünsche ihm eine gute Reise.

von Ingo Metzmacher

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Ingo Metzmacher

Der aus Hannover stammende Dirigent Ingo Metzmacher begann seine Karriere beim Ensemble Modern in Frankfurt sowie an der Brüsseler Oper. Von 1997 bis 2005 war er Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper. Anschließend übernahm er für drei Jahre das Amt des Chefdirigenten an der Niederländischen Oper in Amsterdam und stand überdies von 2007 bis 2010 an der Spitze des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. Im Januar 2015 wurde er zum Intendanten der Kunstfestspiele Herrenhausen ab 2016 ernannt. Als Gastdirigent leitete er viele der führenden Orchester der Alten und der Neuen Welt. Zudem trat er regelmäβig bei bedeutenden Festivals und an international bekannten Opernhäusern auf. Er ist Autor der Bücher ›Keine Angst vor neuen Tönen‹ und ›Vorhang auf! Oper entdecken und erleben‹. 

     

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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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