Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Gregor Sander über das Spiel Borussia Dortmund gegen Arsenal FC (16.9.2014).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Echte Liebe

Kurz vor dem Anpfiff sagt Sanni dann endlich was. „You'll never walk alone“ ist verklungen, und die Spieler stehen schon auf dem Platz. Die Fans der Südtribüne springen unaufhörlich auf und ab und singen: „Borussia Dortmund, olé“. Auch auf der Westtribüne, wo Sanni und Kalle ihre Plätze haben, stehen alle und sehen auf den Schiri, der in einer merkwürdigen weißen Hose dasteht, die Pfeife schon im Mund. „Warum ist der im Schlafanzug“, denkt Kalle und dann sagt Sanni: „Ohne Mats und Marco. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie die aussehen. Und Shinji auf der Bank.“

Nach ein paar Minuten rennt Mkhitaryan in den Arsenal-Strafraum, lässt mit einer Körpertäuschung die Abwehrspieler stehen und stürzt. Der Schiri in seiner Schlafanzughose pfeift, aber keinen Elfmeter, sondern er zeigt dem Armenier die gelbe Karte. „Mit dem Schiri werden wir Spaß bekommen“, sagt Kalle und sieht Sanni an. Die nickt immerhin.

Am Morgen war Kalle die Oesterholzstraße runtergelaufen, Richtung Borsigplatz. Hatte bei Böhmer zwei Kaffee geholt, einmal schwarz für sich und einmal mit viel Zucker für Hotte. Er klingelte im Erdgeschoss neben der Bäckerei. Hotte sah erst ihn an und dann den Kaffee: „Hömma, hab ich Geburtstach? Und hab ich dat vergessn?“

Kalle folgte dem kleinen Mann mit der dicken Brille, dem der Bauch über den Bund seiner Jeans hing, in sein „Reich“, so nannte Hotte das eine Zimmer, in dem er aß, schlief und Dinge tat, von denen Kalle nur die Hälfte verstand. Auf einem großen schwarzen Tisch standen mehrere Computer, verbunden von einem Haufen Kabel. Hotte ließ sich in einen abgeschabten Ledersessel fallen und sagte: „Wat willse?“

Kalle setzte sich an den Tisch, nahm einen Schluck Kaffee und sagte: „Westfalen-Welle verlost heute Freikarten für Champions League.“ Er deutete auf die Computer.

Hotte guckte über seine Hornbrille, seine grauen buschigen Augenbrauen hingen fast über den Gläsern. „Und da willse der Erste sein, der anruft, ne?“

Kalle nickte.

„Weiße wann die dat verlosn?“, fragte Hotte.

Kalle schüttelte den Kopf.

Hotte machte das Radio an, und Heino sang „Willenlos“ von Marius Müller-Westernhagen. „Dat schwierichste is“, sagte Hotte, „dat wir getz diese Scheißmusik hörn müssn.“

Drei Stunden später holte Kalle zwei Tickets am Funkhaus ab. Die Spätsommersonne legte sich wie Sahne über den Tag.

Der BVB setzt Arsenal permanent unter Druck. In der 29. Minute flankt Immobile von links, aber Miki haut das Ding drüber. Sanni schlägt sich die Hände auf den Kopf und lässt sie dort liegen. Kalle sieht sie von der Seite an, ihre schmalen Hände, die knubbelige Nase und ihre rotblonden Locken mit ein paar grauen Strähnen. Sie ist seit 17 Jahren seine Frau, aber vor zwei Wochen hatte sie gesagt: „Ich glaube, wir sind am Ende. Du wirst dich nie ändern, nie!“ Er ist dann runter in die Kneipe, und seitdem hat sie kein Wort mehr mit ihm geredet. Zwei Wochen lang.

Großkreutz hebt den Ball vom eigenen Strafraum in den Lauf von Immobile. Der kantige Italiener nimmt die Kugel an der Mittellinie an und rast los. Drei Verteidiger um sich, er könnte abspielen, aber er bricht in den Strafraum ein und haut das Ding links unten rein. Das Stadion bebt, und der Schiedsrichter pfeift gar nicht mehr an.

Halbzeit. 

Kalle lässt sich auf den Sitz fallen. Sanni geht an ihm vorbei aufs Klo. Wortlos, aber mit einem Strahlen im Gesicht.

Als er sie vorhin von der Schicht abgeholt hat, am Klinikum, hat sie nichts gesagt. Selbst als er ihr die Karten unter die Nase gehalten hat. „Wo haste denn die her?“ stand in ihrem Gesicht, aber gesagt hat sie nichts. Kalle hielt ihr die Jeansweste mit den Strasssteinen und dem großen BVB-Aufnäher hin, und sie schlüpfte hinein.

Als Kevin drei Minuten nach Wiederanpfiff den Ball in den Lauf von Aubameyang hebt und der Gabuner im Fallen den Ball noch ins Tor stolpert, wird Kalle ganz ruhig. Er greift noch im Stehen nach Sannis Hand.

Sie sieht ihn nicht an, aber sie zieht auch die Hand nicht weg. Und Kalle weiß, dass er noch nichts gewonnen hat, aber er weiß auch, dass er zurück im Spiel ist.

von Gregor Sander

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Gregor Sander
Gregor Sander

Der Linksfuß Gregor Sander, geb. 1968 in Schwerin, ist gelernter Schlosser und ausgebildeter Krankenpfleger. Er besuchte die Berliner Journalistenschule und lebt heute als freier Autor in Berlin. Sein Romandebüt »Abwesend« wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2009 erhielt er den 3sat-Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur (Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb) in Klagenfurt. Der Erzählungsband »Winterfisch« wurde mit dem Preis der LiteraTour Nord (2012) und dem »Deutschen Erzählerpreis« (2013) ausgezeichnet. In diesem Jahr erschien sein zweiter Roman »Was gewesen wäre«. In der DFB-Autorennationalmannschaft spielt Sander linker Verteidiger oder im linken Mittelfeld. Sein Moment für die Ewigkeit: ein Tor mit dem Außenrist unter die Latte beim traditionellen Spiel gegen die österreichischen Schriftsteller während des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs.

Evonik Industries
Evonik Industries

Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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