Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Florian Werner über das Spiel Borussia Dortmund gegen den Hamburger SV (04.10.2014).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Der Richtige

Als meine Tochter unlängst aus der Kita nach Hause kam, erklärte sie aus heiterem Himmel, dass sie ab sofort Dortmund-Fan sei. Dazu schwenkte sie eine selbstgebastelte Fahne, auf der tatsächlich deutlich lesbar „BVB“ zu lesen stand. Der einzige Schönheitsfehler: Die Fahne war rot, wie das Trikot des FC Bayern oder die Ausweichgarderobe des HSV. Höchste Zeit, mit ihr an den Ort des Geschehens zu fahren. Nach Dortmund, nach Dortmund, nach Dortmund.

Im Zug packt meine Tochter als erstes ihren Rucksack aus und präsentiert die Utensilien, die man ihrer Meinung nach für einen Stadionbesuch braucht: Faschingsschminke für eine fangerechte Kriegsbemalung. Buntstifte und Papier, um eine neue, größere Fahne zu basteln. Eine Medaille, die sie vergangenen Winter beim Skirennen gewonnen hat („Weil, das hat auch was mit Sport zu tun“). Außerdem ein Schachbrett, mit dem wir die folgende Partie spielerisch vorwegzunehmen beschließen.

Meine Tochter übernimmt die Rolle des BVB, ich spiele des Teufels Advokat, also den HSV. Ich bin kein guter Schachspieler, gefühlt Tabellenletzter, aber um meine Tochter zu bezwingen, reicht es allemal: Ihr Spielaufbau ist fahrig, im Mittelfeld fehlt ihr die Übersicht, insgesamt agiert sie viel zu passiv, zudem sind ihre Angriffe nach dem verletzungsbedingten Ausfall mehrerer Offiziere auf die Aktionen eines einzigen Läufers beschränkt, den ich im Geist auf den Namen „Schmelzer“ taufe. Aber so ganz auf sich allein gestellt kann auch er nichts ausrichten, meine Bauern machen die Räume dicht, der HSV gewinnt.

Abergläubisch wie ich bin, komme ich nicht umhin, auch unsere weiteren Bahnfahrtüberbrückungsaktivitäten prophetisch zu deuten: So gehen meiner Tochter beim Malen der BVB-Fahne (diesmal ordnungsgemäß in Schwarzgelb) die Buntstifte aus, es mangelt ihr an Farbigkeit und Intensität. Und auch ihre Skimedaille kann ich nur als Omen für eine Talfahrt lesen, eine Schlitterpartie auf den dreizehnten Tabellenplatz. Rückblickend fühle ich mich sogar ein wenig mitschuldig an der Niederlage des BVB, möchte meine Tochter und mich an dieser Stelle aber dennoch als Nachfolger für die verstorbene Fußballorakelkrake Paul aus dem Aquarium in Oberhausen empfehlen: Zusammen haben wir, wie Paul, acht Extremitäten, außerdem bis dato eine Treffergenauigkeit von 100 Prozent.

Anders als der BVB, der die Liebe meiner Tochter gleich bei ihrem ersten Stadionbesuch auf eine harte Probe stellt: In der 35. Minute leistet sich Ramos einen fatalen Fehlpass, später bricht sich Schmelzer den Mittelhandknochen, nach dem Spiel spricht Klopp ganz unumwunden von einem „Tiefpunkt“. Aber wie jede Frischverliebte lässt sich meine Tochter von solchen Äußerlichkeiten nicht beirren, ja sie vollzieht innerhalb der 90 Minuten sogar den Schritt vom Zuschauer zum Teilnehmer, vom Individuum zum Kollektiv: „Die müssen jetzt auch mal ein Tor schießen“ (80. Minute) − „Wir haben verloren“ (90.+6). Sie gehört jetzt dazu.

Aber, mit Verlaub: Warum eigentlich zu Dortmund? Von mir hat meine Tochter die Liebe zum BVB jedenfalls nicht geerbt − nicht, dass ich etwas gegen den Verein hätte, neinnein, einige meiner besten Freunde sind Dortmunder, aber ich bin eben einfach kein Fan. Einen Moment lang habe ich meinen Schwiegervater im Verdacht, meine Tochter indoktriniert zu haben, er ist Marxist und hält dem einstigen Arbeiterverein schon aus ideologischen Gründen die Treue, aber das streitet sie rundheraus ab: „Der Opa hat nix damit zu tun. Ich wollte einfach Dortmund-Fan sein.“ Mehr als dieses Argument und ein tautologisches „Bayern ist total doof, und Dortmund ist total toll“ lässt sie sich nicht entlocken. Vielleicht lässt sich die Liebe, sei es zu einem Menschen oder einem Verein, aber auch gar nicht besser begründen.

Ich muss gestehen: Die Entscheidung meiner Tochter macht mich ein bisschen wehmütig. Schließlich ist das ihr erster Schritt in die Unabhängigkeit. Sie hat eine Entscheidung getroffen, auf die ich nachweislich keinen Einfluss hatte. Sie hat sich ohne mein Zutun für einen Verein entschieden, so wie sie sich auch eines Tages für einen Mann (oder eine Frau) entscheiden wird, ohne vorher meine Meinung einzuholen. Ich hoffe, dass er der Richtige für sie ist.

von Florian Werner

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Florian Werner

Florian Werner, 1971 geboren, schreibt erzählende Sachbücher und Prosa und spielt in der DFB-Autorennationalmannschaft auf der Position des linken Außenverteidigers. Gerade erschien: "Helium und Katzengold. 92 elementare Geschichten" (Nagel & Kimche 2014). Er lebt mit seiner Familie in Berlin. Sein Moment für die Ewigkeit: Schoss sein allererstes Länderspieltor für die DFB-Autorennationalmannschaft im Juni 2014 - in Rio de Janeiro, auf einem löchrigen, drogenumwehten Bolzplatz in der Favela da Maré.

Evonik Industries
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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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