Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Frank Willmann über das Spiel Borussia Dortmund gegen die TSG 1899 Hoffenheim (05.12.2014).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Glühende Wellen

Bereits auf der Berliner Stadtautobahn wurde ich erstmals auf die Probe gestellt. Ein schwerer Unfall. Neunzig Minuten Stau. Zeit, um über den Sinn des Lebens im Allgemeinen und den Fußball im Besonderen nachzudenken. Im Radio wetterte ein Arbeiter gegen die Schließung eines Werks. Nicht nur ein Verlust an Jobs, sondern ein Verlust an Lebenssinn.

Das Stauerlebnis wiederholte sich bei der Einfahrt nach Dortmund. Depri-Zeit auch beim BVB? Übertrainer und Volksheld Klopp am Limit? Dortmund grüßt vom letzten Platz der Tabelle, dort, wo normalerweise die kleinen Clubs im Meer der Pein nach Luft japsen. Wie konnte das geschehen? Es muss sich um einen Rechenfehler handeln! Jemand hat die Tabelle auf den Kopf gestellt! (Tja, wenn nur die Bayern nicht da oben wären).

Seit Kloppos Inthronisierung hat sich der BVB in die Herzen Fußballdeutschlands gekickt. Der charismatische Wüterich hatte es geschafft, das weiße Tischtuch der Unschuld über Dortmund zu legen. Wo andernorts  geldgeprotzt wird, hat sich Dortmund Restgüte bewahrt. Obzwar der Club einer der knallharten Global Player im Geschäft des europäischen Fußball ist, ging er seines Charakters nicht verlustig. Dortmund ist für etliche teutonische Fußballfreunde ein Synonym für Begeisterung und Zusammengehörigkeitsgefühl. Und das Wichtigste, zumindest bis zu Saisonbeginn: Borussia steht im „Kampf zwischen Gut und Böse“ für „das Gute“ im deutschen Fußball.

Heute also Laternenchampion BVB gegen Emporkömmling Hoffenheim. Die Angst vor lächerlichen Gegentoren (Dauerzitat Klopp anlässlich diverser Niederlagen) schwebt nicht über dem Stadion. Im Gegenteil, hoffnungsvolle Dortmund-Fans eilen wild entschlossen zu ihren Plätzen.

Auch Messias Klopp scheint keineswegs am Ende. Ein Rücktritt ausgeschlossen. Feuern kann er sich nur selbst. Was man als Außenstehender schwer nachvollziehen kann, wird im ausverkauften Stadion schnell Realität. Achtzigtausend Fans stehen wie ein Mann hinter dem BVB. Die Kathedrale, das Stadion, ist bereit für das Hochamt des Fußballs. Selbstverständlich mit Klopp als würdigem Zeremonienmeister.

Ruhrgebiet ist Ruhegebiet, hier lässt man sich Zeit. Sechs erfolgreiche Jahre unter Klopp vergessen die Menschen nicht. Vorm Kick großes Fähnchen wedeln und schrilles Einstimmen durch Stadionsprecher Norbert Dickel. Mir ist der Mann noch als Brachialosaurus im Dortmunder Sturm ein Begriff. Nun prügelt er die Stimmung auf den Siedepunkt.

Ich sitze mit meinem Sohn Artur auf der Nordtribüne. Vor uns die gelbe Wand mit ihren fünfundzwanzigtausend Stehplätzen. Die Wand ist ein Klangmonster, wenn sie freudvoll Ballet tanzt, wankt das Stadion. Doch auch auf den teuren Plätzen ist das Fanvolk laut, eine überraschende Erfahrung. Das Stadion hat ein Eigenleben, es grummelt, murmelt, raunt, sondert glühende Wellen ab.

Mein Sohn prognostiziert ein knappes 2:1 für den BVB. Die gelbe Wand zeigt via Banner, was sie vom Konstrukt Hoffenheim hält: „Auch im 7. Jahr gehört ihr nicht zum Inventar. TSG verpisst euch.“ Selbst im VIP-Bereich kennt man das Wort „Wichser“. (Gibt es auch VIPSER??) Die Fans geben alles, doch der Funke geht nur sehr schwach auf die Mannschaft über. Gleichwohl reicht das für Gündogans Siegtor in der siebzehnten Minute, welches mein Sohn punktgenau ankündigt. Unter dem Zauberstab eines drolligen Schiedsrichtergespanns werden dem BVB ein Tor und der TSG ein Elfmeter verweigert.

Dickel schreit Einwechsler warm, und Klopps Rasenkämpfer retten den Sieg über die Spielzeit. Puh, geschafft.

Ob´s für die Champions League reicht? Ohne CL-Einnahmen droht dem Verein der Abgang diverser Helden. Ach egal! Heute ist heute. Hauptsache Sieg.

Die gelbe Wand singt, wir verstehen „Lalala“, „Nie, Nie, Nie“ und „Oh, Oh, Oh“.

Kloppo kloppt sich aufs schwarzgelbe Herz. Seine Fans lobpreisen ihn, die Spieler und die Südtribüne hopsen zur Melodie von Jingle Bells.

Achtzigtausend schwarzgelbe Engel liebkosen einander, der DJ legt ein paar BVB-Schnulzensongs auf  „Tamm Tamm… Niemals untergehen… ewig Treu…“,  hallt es in den Nachthimmel über Dortmund.

Rückreise ohne Stau!  

von Frank Willmann

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Frank Willmann

Frank Willmann, geboren 1963 in Weimar, 1984 nach Westberlin ausgereist, lebt heute in Berlin. Neben einigen literarischen Titeln schreibt er zur Berliner Mauer, zur Kulturgeschichte des deutschen Fußballs und zu Subkulturen in der ehemaligen DDR. Er veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema Fußball, zuletzt »Stadionpartisanen nachgeladen. Fans und Hooligans in der DDR« (2013), »Zonenfußball. Von Wismut Aue bis Rotes Banner Trinwillershagen« (2011), „Der Fluch der Wahrheit – Willmanns Fußballkolumnen“ (2013), die allesamt Kultstatus errangen. Willmann schreibt derzeit eine wöchentliche Fußballkolumne für den Tagesspiegel und regelmäßig für das Fußballmagazin „11Freunde“. Zuletzt erschien das Buch: „Mauerkrieger“ (Ch. Links Verlag 2014). Sein Moment für die Ewigkeit: das live erlebte 4:0 meines Vereins FC Carl Zeiss Jena am 1.10. 1980 gegen den AS Rom im Europapokal der Pokalsieger.

Evonik Industries
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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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