Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Jan Böttcher über das Spiel Borussia Dortmund gegen den 1. FSV Mainz 05 (13.02.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Jetzt ist er auch noch treu

Als er sich aufwärmt, sieht er mich im Innenbereich stehen und spielt mit mir Doppelpass. Ich halt einfach den Fuß hin, zack, hat er den Ball zurück. Gut, ich stehe hinter der Werbebande, aber auch das passt: Ich will heute gar nichts anderes sein als Marcos Werbebande. Ich will ihm huldigen, nach all dem Mist, den er im letzten Jahr erlebt hat, nach Bandausriss und Brasilienwehmut, nach Bakalorz und Bußgeldbescheid. Ich will ihm huldigen, weil er gelitten hat, weil er aufgestanden ist, um in der schwersten Stunde sein Licht unter dem Scheffel hervorzuholen und es seinem Verein hinzuhalten. Seht, ich bin der Reus und will vorangehen durchs Dunkel. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt. Ich will am Ende des Kreuzweges euer schüchterner Erlöser sein. Und das Stadionmagazin ruft zurück: UNS MARCO.

Das Spiel gegen Mainz war auf diesem Kreuzweg kein ganz profanes. Ich hatte die Leute schon auf der Zugfahrt gelöchert, ob es etwas bedeute, wenn Freitag, der Dreizehnte, in den Karneval fällt. Wie heißt überhaupt dieser Freitag? „In der karnevalistischen Mythologie“, sagte einer der Fahrgäste, „is dat wohl der Erste Ausnüchterungstag.“ Um es so kurz zu machen, wie es das Spiel wollte: Der Kater kam nach 52 Sekunden als Volleyschuss, Soto trug auf seiner Mainzer Glatze den Zylinder des Leichenbestatters, und der Stift aus Blei schrieb weiter an seiner saisonbegleitenden Erzählung ‚Gegentor – wat nu?’ Er schrieb davon, dass die ganze schöne Reus’sche Vertragsverlängerung auch ein Transfer gewesen war – von schwarzgelber Gegenwartsangst in süße Zukunftsmusik. Und dass es so einfach nicht ist. Nach nur einer Spielminute kommt die Gegenwart zurück. Sie hat eine Tabelle dabei.

Der, dem ich huldige, nagelt gleich den Gegenstoß gegen den Innenpfosten. Signalwirkung? Ja, aber. Zehn ganz okaye Minuten. Marco spielt ein paar genaue Bälle, drischt aber auch einen unnötig hoch in meine Richtung (wir sitzen jetzt in Block 71). Das BVB-Passspiel wirkt verzagt, in den Köpfen spukt das Bloß-kein-zweites-Gegentor-Gespenst, und Nuri Sahin zeigt immer mit dem Arm irgendwohin, ohne dass er wohl selbst daran glaubt, der Taktgeber dieser Freejazztruppe zu sein. Zur Halbzeit 0:1, ein Standardergebnis mittlerweile, das achselzuckend zur Kenntnis genommen wird. Ich bin ein bisschen ungehalten, fordere Abstiegskampf.

Mein Bruder, Wahlmainzer mit 05-Dauerkarte, sendet zur Pause SMS-Häme. Erst zu Weihnachten hat er mir eine Das ist Mainz-CD geschenkt mit Liedern, in denen davon gesungen wird, dass man in Mainz lieber der Stadt treu ist als der Freundin, dass man in Mainz auch mal rausgeht, wenn man Langeweile hat, mit einer wichtigen Einschränkung allerdings: „Klar gibt es auch Ecken, in die ich mich nicht trau.“ So ist es wohl, den Mainzern fehlt die Traute bei der Ecke, die Subotic kurz nach Wiederanpfiff ins Tor vor der Südtribüne wuchtet. Dann kommt Marco, bringt die Borussia einmal in Führung, nachdem er den Torwart umkurvt hat. Und noch einmal, indem er einen Pass spielt, zu dem sich die Trainer auf der Pressekonferenz später genial und Weltklasse zuraunen werden. Von links mit’m rechten Außenrist, aber so, dass der Ball sofort an Höhe gewinnt, viel Effet, millimetergenau in den Lauf von Aubameyang, 3:2.

Dann steht man da und hält sie nicht mehr aus, diese Fussballfernsehmaschine und ihre tausendmal durchgequatschte individuelle Qualität, die ein Spiel entscheidet. Im Stadion, im Moment des exakt getimten Passes, sind diese Sprachhülsen ein Hohn. Da zahlt auch niemand die Millionen zurück, die er verdient und verdienen wird. Da ist aber ein Pass geschehen, den wir Weltlichen niemals spielen können.

Marcomagie.

Er hat in Freiburg getroffen, dann seine Unterschrift bis 2019 gesetzt, und an diesem Abend dreht er für den BVB erstmals in dieser Saison einen Rückstand in einen Sieg. Der Junge ist jung und schnell. Er kann Weltklasse sein. Jetzt ist er auch noch treu. Wat für’n Portfolio! Aber Portfolio, das ist schon wieder die falsche Sprache, und deshalb schnell zurück in den wichtigsten Moment dieses Abends.

Er hat schon vor dem Anpfiff stattgefunden: Norbert Dickel sagt bei der Mannschaftsaufstellung nur die Nummer 11 an, aber er gibt den Fans lange nicht den Vornamen, er lässt sie zappeln, und in diese Pause hinein legt sich der Jubel, so wie sich ein langer schwarzgelber Schal langsam in eine Erdmulde legt und sie auffüllt, bis er über den Rand schwappt. Nein, das Bild muss ich leider wieder zurückziehen. Das Faszinierende ist gerade, dass der Moment rein akustisch ist und akustisch rein bleibt – nicht ein einziges billiges Spruch-Transparent ragt in die Gefühle.

So hört sich das also in Dortmund an, denke ich, wenn gleichberechtigte Partner eine Ehe eingehen. Wenn Liebe nicht den eigenen Stolz verstellt. Wenn die Fans wissen, dass ihr Klammern nur zu Verkrampfungen des Menschensohnes führen würde. Da Trauzeuge zu sein, am Spielfeldrand, das war’s. 

von Jan Böttcher

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Jan Böttcher

Jan Böttcher ist am 10. Februar geboren und hat bislang immer nur erzählt, dass er seinen Fünfundzwanzigsten am Grab von Bertolt Brecht feierte, weil der große Mann an zeitgleich 100 Jahre alt wurde. Jetzt ist dieser 10. Februar also auch der Tag, da Marco Reus seinen Vertrag beim BVB verlängerte. Böttcher schreibt neben Büchern auch Lieder zur Gitarre, er hat bislang vier Romane und ebenso viele CDs mit seiner Band „Herr Nilsson“ veröffentlicht. Den Autorenfußballern schrieb er eine Hymne und hat mit ihnen auch „You’ll never walk alone“ geübt – das Ergebnis duldet aber keinen Vergleich zur Südtribüne, deren auch musikalische Geschlossenheit ihn schwer beeindruckt hat. Sein Moment für die Ewigkeit: Wie er als kleiner Junge dem Beckenbauer einen Trainingsball zur Ecke schob und ein fürwahr kaiserliches „Der Junge denkt mit“ zu hören bekam. 

    

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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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