Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Jörg Schieke über das Spiel Borussia Dortmund gegen Hannover 96 (25.10.2014).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Das Gift

Schwarzalge!

Ich hatte es befürchtet. Zweieinhalb Stunden vor dem Anpfiff des Krisenbewältigungsspiels gegen Hannover 96 war dieses eine Wort gefallen, dieses Feindwort, dessen Gefährlichkeit sie im Ruhrgebiet gar nicht richtig einschätzen können. Aber ich, ich bin von der Ostsee. Und ich mag den BVB mehr als alle anderen Vereine aus dem Westen. Ich war nach Dortmund gefahren, um die malerischen Pässe des Mats Hummels zu beschreiben und die endlich mit einem Sieg in der Bundesliga besiegelte Heimkehr des Shinji Kagawa zu feiern. Neben mir im Stadion mein Abwehrgefährte in der Autorenmannschaft, Christoph Nussbaumeder, der, weil er ein Bayer ist, natürlich immer zu Bayern hält, mit Nebensympathiegefühlen für die Borussia. Ein Bayern-Anhänger hat in diesen Tagen viel leichtere Sorgen mit sich rumzutragen als ein Fan der Borussia. Er schaut auf die Bundesliga-Tabelle und fragt sich: Was hat Manuel Neuer mit dem Papst besprochen? Wird Xabi Alonso den Ball im nächsten Spiel wohl noch öfter als 205 Mal berühren – vielleicht 323 Mal? Oder wird er gar, mitten im Spiel, den Ball 143 Mal auf dem Kopf jonglieren?

Vor dem Spiel gegen Hannover können wir, Nussbaumeder und ich, an einer Stadionführung teilnehmen, von der Kneipe „Rote Erde“ rüber ins alte Stadion, die "Kampfbahn Rote Erde", und dann sogar in den Tunnel, den die Spieler im Signal Iduna Park auf dem Weg von der Kabine zum Spielfeld durchschreiten. Es gibt eine Kante, die Jan-Koller-Gedächtniskante, die an den tschechischen Hünen und ehemaligen BVB-Stürmer Jan Koller erinnert. Koller, über zwei Meter groß, musste praktisch auf allen Vieren durch den Tunnel, damit er beim Einlaufen nicht durch die Decke stieß.

Das sind schöne Geschichten, und es hätte so weitergehen können. Bis uns dann erzählt wird, dass der BVB mit dem Spiel gegen Hannover zugleich seinen neuen Rasen einweiht. In den letzten Wochen hatte eine Unkrautpflanze namens Schwarzalge angegriffen, weshalb während der Spielpause ein neuer Belag verlegt worden war.

Die Schwarzalge? Hatte ich richtig gehört?

Ja. Und da wusste ich, dass alles noch schwerer wird. Weil es nicht reicht, einfach einen neuen Rasen drüber zu legen, denn ich bin von der Ostsee und kenne mich aus mit den Algen. Meine ganze Kindheit lang, Sommer für Sommer, habe ich mich wehren müssen gegen Quallen und Algen. Die Alge, egal ob an Land oder im Wasser, ist hinterhältig, fies und unberechenbar. Sie ist der natürliche Verbündete alles Bösen. Wenn du einmal beim Schwimmen in die Algen geraten bist, vergisst du es nie. Die Alge ist ein Gift, für das es kein Gegengift gibt, und je kleiner die Dosis, desto größer die Wirkung. In meiner Heimatstadt Rostock sind die Fischer mit ihren Netzen manchmal in einen Algenteppich geraten – und dann gab´s bei uns tagelang nichts zu essen. Die Alge – und die Schwarzalge ist, wie der Name schon sagt, ein besonders düsteres Exemplar ­–  reizt nicht nur die Haut des Schwimmers, sie gräbt sich als Fluch ein in jedes Stück Erde, auf dem sie jemals gewachsen ist. Sie vergiftet die Spielzüge einer Fußballmannschaft und legt sich über die Verbindungsstellen, die es braucht, um zum Beispiel eine Abseitsfalle richtig zu schalten.

Niemand hatte ja so recht erklären können, was in Dortmund in den letzten Wochen passiert war. Großartig in der Champions League, erfolglos in der Bundesliga. Aber würde es reichen, den alten Rasen wegzureißen und dafür einen neuen auszulegen? Import-Rollrasen aus Holland; DFB-, DFL- und UEFA-zertifiziert? Gras aus Holland, bewusstseinserweiternd, ein Rauschmittel für die Heimmannschaft, ein Schlafmittel für den Gegner? So war es geplant. Der geeignete Rasen für das Projekt Heimkehr: Heimkehr, Rückkehr zu alter Stärke in der Bundesliga.

Und Dortmund legt los. Sie quälen sich, sie rennen, aber je mehr sie sich quälen, desto unsicherer werden sie. Einer macht einen Fehler, und dann laufen sie alle hinterher, um den Fehler wieder auszubügeln. Keiner meckert, aber es kostet Kraft, zu viel Kraft, ständig die eigenen kleinen Fehler korrigieren zu müssen, es ist wie ein schleichendes Gift.

Schließlich die 62. Minute, Freistoß für Hannover, 20 Meter vor dem Tor der Borussia, halblinks – typische Schwarzalgen-Situation. Wer schießt? Natürlich Kiyotake, ein bei Hannover spielender Japaner. In Japan kennen sie sich aus mit Algen; sie mischen die Alge in den Salat oder entsorgen sie auf riesigen Müllbergen, und einer wie Kiyotake schießt den Ball mit japanischem Unterschnitt algenclever ins Tor.

Auf jeder Sekunde, die jetzt vergeht, steht groß und fett KÄMPFEN drauf. Klopp, endlich, bringt Kagawa, auch er ein Japaner, ein Heimkehrer, ein Wuselfußballer.  Sie brauchen jetzt seine wie hingehauchten Lupfer in den Strafraum oder diesen einen Pass gegen die Laufrichtung, wie ihn nur Kagawa spielen kann. Kagawa ist für gewöhnlich schon wach, wenn die andern noch schlafen, weil er aus einer anderen Zeitzone kommt. Und also rackert er los, zieht von links außen in die Mitte und wieder zurück, versucht dies und das mit Reus oder Mkhitaryan. Aber es klappt nicht, es klappt schon wieder und bis zum Ende nicht.

Schlusspfiff; Dortmund null, Hannover eins.

Trauer ja, aber keine Vorwürfe. Alle haben gesehen, wie die Borussia sich quält, wie sie ackert. Nach dem Spiel, bei der Pressekonferenz, sagt Jürgen Klopp genau das, was zu sagen ist: Wir werden weitermachen, weiterkämpfen, für uns, für euch, für alle. So war es immer in Dortmund, und so wird es auch weiterhin sein. Um die Schwarzalge zu besiegen, um sie rauszukriegen aus der Dortmunder Erde und aus den Gedanken, braucht es halt Zeit, manchmal einen ganzen Herbst lang. Und also sind sie aufgestanden, auf der Südtribüne, im ganzen Stadion: Die Gelbe Wand bröckelt nicht, die Gelbe Wand stellt sich der schwarzen Alge entgegen.

von Jörg Schieke

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Jörg Schieke

Jörg Schieke wurde 1965 in Rostock geboren. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und lebt heute in Leipzig. Für seine Bände mit Gedichten und Erzählungen (zuletzt: „count down“) wurde er mit dem Brentano-Preis der Stadt Heidelberg und dem Bertelsmann-Stipendium der Stadt Leipzig ausgezeichnet. In der Autorennationalmannschaft spielt er seit Gründung der Mannschaft auf der Position des Innenverteidigers. Sein Moment für die Ewigkeit: Nach acht Jahren voller endloser Abwehrkämpfe durfte er im Jahr 2013, beim Spiel der Autonama (Abkürzung für die deutsche Fußballnationalmannschaft der Schriftsteller) gegen Brasilien und beim Stand von acht zu eins, zum ersten und bislang einzigen Mal mit nach vorn gehen ­­–  und schoss gleich ein Tor!

Evonik Industries
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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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