Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Norbert Kron über das Spiel Borussia Dortmund gegen Galatasaray Istanbul (04.11.2014).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Ein Herz und zwei Seelen

Sie stehen auf der Tribüne wie aneinandergewachsen, siamesische Zwillinge, die sich wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Ihre Augen oszillieren im Flutlicht, man sieht ihnen an, wie sie ihre Leidenschaft für den Fußball verbindet, und das Einzige, was sie unterscheidet, sind die Fanschals, die sie tragen: der Borussia-Schal bei dem Einen und der von Galatasaray beim Anderen. Es ist, als hätten ihre Eltern sie ihnen schon in der Wiege um den Hals gebunden, um sie, diese osmanischen Zwillinge, voneinander unterscheiden zu können.

Es ist Halbzeit, ich gehe auf die beiden zu, muss herausfinden, was es mit ihnen auf sich hat. Das Stadion bebt im Rhythmus der Fangesänge, einsnull liegt der BVB in Führung, nach einem dieser unnachahmlichen Reus-Tore, das er nach einem Tornadospurt aus vollem Lauf erzielt hat. Die Zwillinge schauen auf, als ich sie anspreche und frage, ob sie Brüder seien.

"Nein, Freunde von klein auf", lachen sie, "wir kommen aus dem gleichen Vorort." - "Wer Deutscher und wer Türke ist? Sieht man nicht so!" - "Ich weiß, ja, ich sehe auch wie ein Türke aus." Tatsächlich, Serkan Demirtas und Florian Dresen sind das Paradebeispiel einer deutsch-türkischen Fußballfreundschaft: der Eine BVB-Fan, der Andere Galatasaray-Fan. Zerreißt es sie nicht, wenn sie auf solch ein Spiel gehen, muss es nicht wie ein Dolchstich in ihre Doppelseele gewesen sein, wenn die eine Mannschaft über die andere siegt? Wird nicht des Einen Herz bluten, während des Anderen Freudentränen vergießt?

Genau das ist es, was mich interessiert hat, als ich mich auf den Weg zu diesem Spiel gemacht habe: einen Blick in das deutsch-türkische Fußballherz zu werfen, Einblick zu bekommen in die Gefühlslage einer Stadt, die den Fußball so integrativ lebt wie kaum eine Andere, mit berühmten Polen, wie es sie schon immer im Ruhrgebiet gab, und mit spielprägenden „Deutschtürken“, die hier aufgewachsen sind. Niemand könnte mir dazu besser Auskunft geben als der Journalist Levent Aktoprak, der selbst ein "Deutschtürke" ist, wie er im Buche steht: Die Eltern kamen Anfang der 60er als Gastarbeiter in den Pott, der Vater fuhr im Bergbau ein. "Mein Vater war für Fenerbahce, meine Mutter für Galatasaray." Gegensätzlicher geht es kaum, vielleicht blieb dem jungen Levent deshalb nur die Möglichkeit, das Dortmunder Schwarz-Gelb von Kindheit an aufzusaugen. Er in türkischen Fußballfarben? "Wenn ich mich so kleiden würde, wäre dat türkische Fußballfolklore", sagt er in breitem Dortmunder Westfälisch. "Mein Lebensmittelpunkt war immer hier, ich kann nur Ruhrgebiet-Fan sein."

Deshalb hat er vor fünfzehn Jahren auch einen Fanclub gegründet, zusammen mit Andreas Goldberg vom Zentrum für Türkeistudien. Heute heißt der Fanclub "BVB international" und ist das beste Spiegelbild des Clubs, ein MultikultiVerein, in dem Deutsche, Türken, Italiener und Polen zusammen der Borussia huldigen - und mit Profispielern in Schulen gehen, um sich gegen Rassismus zu engagieren. "Ausländer gab‘s hier im Ruhrgebiet schon immer", sagen Franz-Josef Kanz und Jochen Nadolsky-Vogt, zwei Urgesteine des Fanclubs, die Levent Aktoprak an diesem Abend flankieren, "aber man muss wach und aktiv bleiben, den Austausch der Kulturen durch Spiele und Mannschaften fördern."

Wie es donnert, brodelt, kocht, dieses Stadion, als die zweite Halbzeit beginnt. Während der BVB-Block von der anderen Seite seine Hymnen anstimmt, bringen die türkischen Ultras zweihundert Meter unter mir auf der Nordtribüne die Arena mit ihren Basstrommeln zum Vibrieren. So laut schlägt hier das Fußballherz, dass man sich wie im Mutterleib des Fußballs fühlt - ja, hier spürt man sie, Echte Mutterliebe.

Dass das Spiel anfangs fahrig war, liegt vielleicht daran, das der deutschtürkische Mittelmotor des BVB fehlt: Sahin verletzt, Gündogan kommt erst in der 63. Minute. Was sagt Levent Aktoprak zu den beiden? "Gündogan und Sahin – das ist ein bisschen so wie Reformation bei uns in Deutschland im 16. Jht. Der eine bekennt sich zu Deutschland und will für Deutschland spielen. Der andere ist immer noch emotional abhängig von der alten Kulturtradition der Eltern und Großeltern."

Auch der Mann, der neben mir auf der Nordtribüne sitzt, ist einer mit zwei Herzen in der Brust. Kutlu Paksoylu wuchs in Istanbul auf, ging dort auf die deutsche Schule und arbeitet seit anderthalb Jahren bei einer Firma im Hochsauerland. Als Fenerbahce-Fan jubelt er natürlich, als das Spiel jetzt auf Hochtouren kommt und Sokratis und Immobile (unterstützt von einem Eigentor durch Semih) drei weitere Dortmunder Hochgeschwindigkeitstore schießen - der Gegentreffer von Hakan Balta fällt nicht ins Gewicht. Aber die Bengalos, die aus dem Ultrablock von Galatasaray plötzlich auf den Platz fliegen, schockieren auch ihn, donnernde Kanonenschläge, die der harte Kern mitten in die BVB-Anhänger wirft.

Levent Aktoprak spricht aus, was er und alle anderen denken: "Die meisten wollen mit denen nix zu tun haben. Da wird fortgesetzt, was sich in Istanbul bei den Kloppereien gegen Dortmunder angedeutet hat. Aber was unsere Hooligans und Ultras angeht, können wir leider auch Lieder singen."

Und Serkan Demirtas und Florian Dresen? Die gehen wie osmanische Zwillinge nach Hause, einträchtig und unzertrennlich wie ein Mann mit zwei Herzen in der Brust. Galatasaray hat in der Champions League für dieses Jahr verspielt. Für die Borussia dagegen zählt nach dem Einzug ins Achtelfinale ohnehin nur eins: auch in der Bundesliga wieder einen Lauf zu bekommen. Bald wird auch der „deutschtürkische“ Mittelfeldmotor wieder dabei helfen.

von Norbert Kron

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Norbert Kron

Norbert Kron, geboren 1965, lebt als Schriftsteller und ARD-Fernsehjournalist in Berlin. Viele Veröffentlichungen, u.a. die Romane "Autopilot" (2002), "Der Begleiter" (2008). Seine TV-Beitrage, u.a. in "titel thesen temperamente", behandeln oft Themen der deutschen Geschichte. Er erhielt zahlreiche Stipendien (u.a. in Villa Aurora, Los Angeles, Deutschen Literaturfonds). Im nächsten Frühjahr erscheint seine Israel-Anthologie "Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen" (S. Fischer). In der Autorennationalmannschaft spielt er in der Innenverteidigung oder im Sturm. Sein Moment für die Ewigkeit: Als er im Spiel gegen die DFB-Traditionself Klaus Fischer so kalt stellte, dass der so gut wie keinen Stich machte. 

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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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