Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Simon Roloff über das Spiel Borussia Dortmund gegen Juventus Turin (18.03.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Als er die Vornamen der Startelf ausgerufen hat; als mir von den Nachnamen, durch das Stadion zurückgebrüllt, ein kalter Stromstoß in die Wirbelsäule fährt; als an diesem Mittwochabend noch alles in Ordnung scheint, steht er vor einem Bistrotischchen. Neben uns türmt sich die Südtribüne bis unters Stadiondach und er prüft sie, auf seiner Plattform stehend wie ein Surfer die Welle bevor sie bricht. Er trägt einen Kapuzenpulli, auf dem vorne quer „Borusse“ steht und dessen Farbe sich seine Haare über die Jahre angeglichen haben. Dazu dunkle Hose, schwarz-gelbe Pumaschuhe, eine Lesebrille und Sport-InEars. Das Spiel wird angepfiffen, er holt Luft.

Experten, Moderatoren und sogar Stadionsprecher müssen im professionellen Fußball bei aller Leidenschaft eine gewisse äußere Zurückhaltung zeigen. Norbert Dickel hat davon gehört und spricht wahrscheinlich mit Achtung, aber etwas vage von Kollegen, die sich an die Regel halten. Er ist der Durchlauferhitzer der Gefühle, bei ihm bricht aus dem neutralsten Satz plötzlich Tendenz hervor, aus jedem Kommentar wird eine Auslegung und wie der da reingeht das ist Rot, mit beiden Beinen, hat der sie noch alle?! Auf Sendung kann er über ein Dortmunder Gegentor in Tränen ausbrechen, und was er über Wolfgang Starks Sehfähigkeit zu sagen hatte, brachte ihn vor den DFB-Kontrollausschuss.

Und dann Tevez, ansatzlos. Dickels Gesicht bleibt unbewegt, er wendet sich ungläubig zum Bildschirm hinter ihm und murmelt etwas, das aus Jugendschutz-Gründen hier nicht wiedergegeben werden kann. Von da an dreht Juve vor dem eigenen Tor bei und verteidigt wie eine straff geführte römische Galeere. Sie verschieben für das Dortmunder Mittelfeld zu schnell und sind zu gut gestaffelt für Hummels lange Bälle. Und sie haben Vidal, diese Strafraumdrohne, diesen Duracell-Prätorianer. „Dieses „...“ (s.o., Jugendschutz) sagt Dickel nach dem achtundachtzigsten Foul an Reus. Aber einer wie Vidal tätowiert sich Beschimpfungen auf die Unterarme und zischt sie beim nächsten Bankdrücken durch die Zähne.

Juve also an diesem Abend mit imperialer Dominanz, die Dortmunder hingegen so, wie ich mir griechischen Demokratien in ihrer Spätzeit vorstelle: müde, etwas unentschlossen und sich ihrer Schwächen viel zu sehr bewusst. Diese melancholischen Ballverluste von Sokratis. In der antiken Tragödie erkennt der Held immer zu spät, dass die Kacke ordentlich am Dampfen ist, und alles was er dagegen tun kann, macht es am Ende nur noch schlimmer. Und auch Dortmund lädt Juve nun mit viel Ballbesitz ohne Durchschlagskraft zum Kontern ein, und Dickels Körper scheint das Verhängnis schon zu ahnen. Er steht ganz gerade, belastet beide Füße, der Oberkörper bebt und biegt sich. Bei einem Freistoß von Reus erfasst ihn der Takt der Tribüne, seine Finger kneten die Handflächen in doubletime. Seine Wortmeldungen im Livestream bitten, richten, strafen. Nach einer Flanke, in die Arme von Buffon gechippt, tritt er so heftig in die Absperrung, dass sie leicht vibriert. Und je weiter das Spiel fortschreitet, desto fester faltet er die Hände um das Stadionmikrophon.

Ich bin schon nach einer Halbzeit völlig fertig, meine Notizen kann ich kaum noch lesen., Aber Dickel, dieser Gefühlsmalocher, leidet, schimpft, schwitzt, beschwert und erregt sich weiter. Er will etwas für den Livestream sagen, hat aber versehentlich das Stadionmikro angelassen. Wahrscheinlich würde er wirklich gerne ein paar Worte Richtung Spielfeld loswerden. Nach dem Abpfiff dann dieses bodenlose Gefühl von etwas Unvermeidlichem, wie es die schmerzhaften und verdienten Niederlagen mit sich bringen. Im Stadion wird Dir das von keinem Fernsehexperten und keinem Spielerinterview wegerklärt. Da muss man wie Dickel erst mal eine Weile stehen, leise fluchen und sich durcharbeiten. Und steht fassungslos, wie vor dieser unerklärlichen Dortmunder Saison; wie vor echten Tragödien und dramatischen Geschichten.

von Simon Roloff

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Simon Roloff

Simon Roloff spielt in der Autorennationalmannschaft gerne auf der Position und im Stil von Arturo Vidal, nur bisher ohne die Tattoos. Vielleicht auch mit etwas weniger Torriecher. Alles andere, Passicherheit, Zweikampfstärke, Schnelligkeit, Ausdauer, Übersicht, Kreativität etc. sind ungefähr gleichwertig. Trotzdem sagen alle, es sei gut dass er nicht Profifussballer sondern Juniorprofessor für Literaturwissenschaft und Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim geworden ist. Sein Moment für die Ewigkeit: Er ist vor einiger Zeit beim ersten Kick mit seinem kleinen Sohn getunnelt worden.  

    

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