Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Thomas Klupp über das Spiel Borussia Dortmund gegen Bayern München (04.04.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Mario, willkommen daheim!

Bis zur 80. Minute hat die Wand das Pfeifen nur geübt. Höchstens 300 Dezibel als Dickel bei der Mannschaftsaufstellung den Namen Robert Lewandowski verliest. Ähnliche Werte bei den Alonso-Fouls, gefühlte Spitzen als Schweinsteiger sich auf dem Rasen krümmt und Boateng Reus im Sechzehner am Fuß erwischt. Ist aber alles noch weit unterhalb der Tinnitusgrenze, habe ich anderswo auch schon gehört.

Dann aber, als der vierte Offizielle in der 80. die Auswechseltafel in den Dortmunder Abendhimmel reckt und die grüne 19 aufleuchtet, bricht ein Pfeiforkan los, als würde jedes einzelne Luftmolekül im Stadionrund explodieren. Quasi Slayer-Konzert mit dem Ohr direkt an den Boxen. Um mich herum gen Himmel fliegende Fäuste, zum Bersten gespannte Halsmuskelstränge und vor Anstrengung bebende Lippen, die hochfrequent ihre Botschaft skandieren:

Echte Liebe vergeht nicht. Echte Liebe vergisst nicht. Und vor allem: Echte Liebe vergibt nicht. Mario, willkommen daheim! 

Obwohl ich (sorry, please!) gebürtiger Bayernfan bin und Mario seit Rio den Besten finde, macht mir der Sound gehörig Laune. Genau so muss das sein, denke ich, und pfeife volles Rohr mit. Weil ich eben noch für die Roten gebrüllt habe, guckt das schwarz-gelbe Pärchen neben mir jetzt richtig misstrauisch rüber, aber sie haben mit ihrem Pfiffen ja Recht. Da hat einer  nicht nur seinem Jugendverein in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Rücken gekehrt, sondern ist auch noch zum Erzrivalen übergelaufen, der ohnehin alles zu Asche kauft, was ihm gefährlich wird. (Als Nächstes kriegt De Bruyne aus Wolfsburg sein Angebot, hundert Pro!) Und das alles für was? Für ein paar Millionen mehr auf dem Konto, für ein bisschen mehr Schickeria und alljährliche Champions-League-Garantie. Na, ehrlich gesagt sind das auch nicht die allerschwächsten Argumente. So oder so, jedenfalls hat Götze sich seinen Willkommensgruß hier redlich verdient.

Zumal in einer Stadt wie Dortmund, die sich ihren ganz eigenen Walk of Fame geschaffen hat: 103 vom Borsigplatz bis zum Stadion in Teer und  Gehwegplatten hinein gefräste Sterne, die von den großen emotionalen Momenten des Vereins erzählen. Auf der Hohen Straße zum Beispiel das Relegationstor von Jürgen »die Kobra« Wegmann '86 gegen die Fortuna, auf der Strobelallee die '97er Champions-League-Sieger von Reuter bis Kohler, und dann, direkt vor dem Stadion, mein persönlicher Favorit: Stern 94 »Rettung aus der Finanzkrise«. 2005 wohlgemerkt. Der Walk of Fame, ein echter Pilgerweg, in die raue Haut der Stadt tätowierte Fußballgeschichte, die Sterne von den Schritten ihrer Bewohner tagtäglich von Neuem auf Hochglanz poliert. Eine Stadt überdies, die sich an diesem Samstag anfühlt wie ein einziges schwarz-gelbes Festival und die ich spätestens um halb Fünf Uhr früh schweissdurchnässt, bierdurchtränkt und Arm-in-Arm mit dem Soester BVB-Ultra Marius H. auf der Tanzfläche der Marlene Bar in mein Herz schließe wie wenige Städte zuvor. 

Und der Mario da unten an der Seitenlinie? Was ihm wohl so alles im Kopf herumgeht, während er sich die roten Stutzen hochzieht und der Pfeiforkan weiter auf ihn niederprasselt? Denkt der so Effenberg-mäßig: »Jajaja! Euer Hass macht mich nur stärker! Mehr! Lauter! Mehr!« Oder eher Kurany-like: »Also, für ne Mille mehr zieh' ich mir das auch in meiner Moskauer Stammdisko rein.« Oder: »Begrüßt ihr so euren Finaltorschützen?« Oder kotzt er innerlich über Pep ab, weil der ihn erst zehn Minuten vor Schluss auf den Rasen schickt? Ehrlich gesagt, habe ich keinen Schimmer. In Mario Götze schau ich nicht rein. Der fährt nach außen hin konsequent seine Teflon-Taktik, die alle Deutungsversuche wie Wasser abperlen lässt.

Was nicht heißt, dass in ihm drin nicht eine Menge am Arbeiten ist. Ist es im Moment sogar ganz bestimmt. Sicher unwahrscheinlich, aber vielleicht empfindet er sogar etwas Ähnliches wie ich. Nämlich dass diese Pfiffe großartig sind. Dass er sich dafür im Grunde bedanken müsste. Eben weil sie von echter Liebe erzählen, nur jetzt halt umgekehrt. Und weil sie für ein paar grundsätzliche Werte stehen, die in der heutigen Fußballwelt mit ihren Beratern, Lobbyisten, globalen Konzernstrukturen, obszönen  Transfersummen und Spielergehältern mindestens so viel Tritte abbekommen wie die Sterne auf Dortmunds Walk of Fame. Ich meine, und hier abschließend mal den Pathosregler auf Orkanniveau hochgezogen: Traditionsbewusstsein, Vereinsverbundenheit, Treue.

Allright, Mario, und jetzt gib's ihnen! Abklatschen und raus aufs Feld!

von Thomas Klupp

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Thomas Klupp

Thomas Klupp, geboren 1977 in Erlangen, spielt bei der Autorenmannschaft im Mittelfeld. Nach langen Nächten stellt ihn der Trainer aber gerne auch in der Innenverteidigung auf. Klupp hat 2009 den Roman Paradiso veröffentlicht und schreibt gerade an seinem zweiten Buch. Sein Moment für die Ewigkeit: Als er in der D-Jugend bei der 0:16 Niederlage mit dem VfB Weiden gegen die Spvgg Weiden vom gegnerischen Mittelstürmer nach Spielende mit den Worten verabschiedet wurde: »Ehrlich wahr, Du hast mir das Leben heut ganz schön schwer gemacht.«  

    

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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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