Es ist der Wahnsinn, der absolute Wahnsinn, was sich am 9. April 2013 abspielt. So wie man heute noch über das Jahrhundertspiel gegen Benfica Lissabon aus dem Dezember 1963 redet, wird man in 50 Jahren von dieser magischen Nacht sprechen. Von diesen zwei Toren in der Nachspielzeit gegen den FC Malaga. Zwei Tore in 69 Sekunden.

Das Überraschungsteam aus Spanien ist scheinbar der leichteste Gegner im Viertelfinale der UEFA Champions League, tatsächlich aber eine ganz harte Nuss. 0:0 endet das Hinspiel, der BVB lässt dabei viele Chancen aus. Und erlebt im Rückspiel das, was es im Fußball alle 20 Jahre mal gibt…

„Dieses Spiel werde ich nie vergessen“, kommentiert Jürgen Klopp das, was als „Fußball-Wunder von Dortmund“ in die Geschichte eingeht. Nach Eliseus Abseitstor zum 2:1 für einen bärenstarken FC Malaga ist acht Minuten vor dem regulären Ende die Hoffnung auf den Einzug ins Halbfinale auf den Nullpunkt gesunken.

Bei vielen. Aber nicht bei allen

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Als Graham Chambers, der Vierte Offizielle, um 22 Uhr und 33 Minuten die Tafel in die Luft hält, die die Nachspielzeit signalisiert, gibt sie Stadionsprecher Norbert Dickel nicht etwa bekannt, nein, er schreit, er donnert sie heraus: „Nach-spiel-zeit vieeeeerr Mi-nu-ten!!!“ Trainer Jürgen Klopp gestikuliert, wirbelt an der Seitenlinie. Er peitscht die Mannschaft nach vorne, um in diesen vier Minuten das eigentlich Unmögliche zu schaffen: Zwei Tore müssen her!

Als Marco Reus den Ball zum 2:2-Ausgleich über die Linie bugsiert, sind 90 Minuten und 45 Sekunden absolviert. Dickel peitscht ein: „Und weiter Jungs, und weiter Jungs!“ Denn der BVB braucht noch einen weiteren Treffer. Nach 0:0 im Hinspiel und jetzt 2:2 spricht die Auswärtstor-Arithmetik für die Andalusier.

Hören wir doch nochmal rein, was Danny Fritz im BVB-Netradio sagt, und beginnen wir bei einem Einwurf von Marcel Schmelzer auf Robert Lewandowski: „Lewandowski jetzt mit der Flanke in die Mitte. Die kommt nicht schlecht. Schieber, Reus – Reus in die Mitte, nun mach ihn rein. TOR, TOR, TOR, TOR, TOR, TOR, TOR, TOOOOOOR, TOOOOOOOOR, TOOOOOOOR!”

Nach Santanas Siegtreffer zum 3:2 nach 91:54 Minuten gibt es kein Halten mehr. Nicht auf dem Rasen, nicht auf den Rängen. „Ich dachte, ich hätte im Leben schon alles erlebt, aber so etwas noch nicht“, meint BVB-Chef Hans-Joachim Watzke: „Ich bin fix und fertig. Wir waren tot – und auf einmal wieder im Halbfinale.“ Durch einen Treffer, der eigentlich nicht zählen durfte, aber da die Spanier selbst ein Abseitstor anerkannt bekommen haben, gleicht sich das aus.

In bemerkenswerter Art und Weise erfüllt die Mannschaft ihre Aufgaben im Ligaalltag und strebt mit Siebenmeilenstiefeln der erneuten Qualifikation zur UEFA Champions League entgegen. Als der FC Augsburg im Signal Iduna Park Schiebers Führungstreffer einer auf allen vier Offensivpositionen umformierten Borussia in einen eigenen 2:1-Vorsprung umwandelt, kommen kurz nach der Pause Götze und Lewandowski ins Spiel – und geben diesem eine ganz neue Richtung. Erneut Schieber sowie Subotic und schließlich Lewandowski sorgen für einen 4:2-Heimsieg.

Noch deutlicher wird es in Fürth. Bereits nach einer halben Stunde führt Schwarzgelb durch Tore von Gündogan (2), Götze und Blaszczykowski mit 4:0, verpasst am Ende mit 6:1 (nochmal Götze und dann Lewandowski) den höchsten Auswärtssieg aller Zeiten um ein Tor. Einem 2:0 über den FSV Mainz 05 (Reus trifft bereits nach 32 Sekunden, Lewandowski dann drei Minuten vor dem Ende) folgt ein 2:1 bei Fortuna Düsseldorf, wo weniger Sahins Traumtor und Blaszczykowskis Siegtreffer Gesprächsstoff liefern, als vielmehr die Tatsache, dass die Mannschaft gegenüber der Champions-League-Besetzung auf zehn Positionen verändert ist.

Denn hier trifft der BVB im Halbfinale auf Real Madrid. Hunderte Fans campieren bereits zwei Tage vor Vorverkaufsbeginn vor der Geschäftsstelle, um eine Karte zu ergattern. 65.829 Zuschauer verwandeln den Signal Iduna Park im Hinspiel in einen Hexenkessel. Die Stimmung ist von der ersten Sekunde an bombastisch. Und sie explodiert erstmals, als Lewandowski nach sieben Minuten und 39 Sekunden zum 1:0 trifft. Real kommt aus dem Nichts durch Ronaldo zum Ausgleich (43.). Doch mit einem lupenreinen Hattrick und seinen Treffern Nummer zwei, drei und vier in diesem Spiel schießt Lewandowski die Borussia bis zur 67. Minute mit 4:1 in Front.  

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Das Rückspiel im Estadio Santiago Bernabeu wird in der Walpurgis-Nacht vom 30. April auf den 1. Mai zu einer Nervenschlacht. „Es war der erwartete, vielleicht auch befürchtete Tanz in den Mai“, äußert der sichtlich vom Spiel gezeichnete Dr. Reinhard Rauball. „Wir haben uns noch nie so gefreut über ein verlorenes Spiel und haben das eigentlich Unmögliche geschafft“, kommentiert Marcel Schmelzer den 0:2-„Sieg“.

Real Madrid setzt wie angekündigt zur „La Remontada“ – zur Aufholjagd – an und Schwarzgelb von Beginn an unter Dauerdruck, um das 1:4 aus dem Hinspiel noch wettzumachen. Die Katalanen legen ein unglaublich hohes Tempo vor, doch Weidenfeller lässt sich nicht überwinden. In Halbzeit zwei hat Schwarzgelb sogar mehrfach die Führung auf dem Fuß, das Spiel komplett unter Kontrolle. Doch als Benzema in der 82. Minute zum 1:0 trifft, nimmt der Wahnsinn seinen Lauf. Ramos macht sechs Minuten später das 2:0. Real wirft alles nach vorne und strapaziert die Nerven eines jeden Borussen bis aufs Äußerste. Als Schiedsrichter Webb auch noch sechs Minuten nachspielen lässt, trifft er Subotic bis ins Mark: „Als ich das gesehen habe, dachte ich, ich sterbe.“

Neven segnet natürlich nicht vorzeitig das Zeitliche, sondern ist mit dabei, als die Mannschaft von Borussia Dortmund am 25. Mai 2013 vor 86.298 Zuschauern ins Londoner Wembleystadion einläuft…
Boris Rupert