Sie hatte kaum begonnen, die Fußball-Saison 2020/21, da ließ Borussia Dortmund schon wieder die Rekorde purzeln. Jude Bellingham, Neuzugang vom Birmingham City FC, setzte sich im DFB-Pokalspiel beim MSV Duisburg mit seinem Debüt-Treffer zum 2:0 mit 17 Jahren und 77 Tagen an die Spitze der jüngsten Dortmunder Pflichtspiel-Torschützen.

Fünf Tage später, beim Bundesliga-Auftakt gegen Borussia Mönchengladbach, legte der Engländer dem ebenfalls erst 17-jährigen Giovanni Reyna dann die 1:0-Führung auf – mit einem Gesamtalter von 34 Jahren das gewissermaßen jüngste Tor der schwarzgelben Bundesliga-Historie. Dass mit Bellingham und Reyna in Duisburg erstmals überhaupt in einem Pflichtspiel zwei 17-Jährige in der Startelf von Borussia Dortmund gestanden hatten, wurde angesichts der spektakulären Bundesjugendspiele beinahe schon zur Randnotiz.

Europa staunt. Ja, über den FC Bayern München, gemäß Expertise von BVB-Sportdirektor Michael Zorc "aktuell wahrscheinlich die beste Mannschaft der Welt". Europa staunt aber auch über Borussia Dortmund.

Eine Sache des Konzepts

Denn während die allermeisten Spitzenklubs in der englischen Premier League, der spanischen La Liga, in der italienischen Serie A, der französischen Ligue 1 und auch in der Bundesliga zum Teil furchteinflößend negative Transfersalden ausweisen, weil ihre Kaderentwicklung auf dem Prinzip beruht, fertige – und damit teure – Spieler zu verpflichten, hat sich der BVB schon vor einigen Jahren für einen komplett anderen Weg entschieden. Die Verantwortlichen um Michael Zorc und Nachwuchskoordinator Lars Ricken haben ihren Fokus darauf ausgerichtet, das Scouting zu perfektionieren und die vielversprechendsten Talente zu entdecken, bevor andere Klubs überhaupt auf sie aufmerksam werden.

Das Konzept geht auf – in zweierlei Hinsicht. Einmal, weil Borussia in den vergangenen Jahren für viele dieser Spieler hohe Transfererlöse erzielen konnte. Als einer der ganz, ganz wenigen Top-Vereine weist der BVB daher nach Verrechnen aller Transferausgaben mit allen Transfereinnahmen unter dem Strich eine schwarze Zahl aus. Genannt seien nur Ousmane Dembélé (2017 zum FC Barcelona) und Christian Pulisic (2020 zum FC Chelsea). Aber auch Pierre-Emerick Aubameyang (2018 zum FC Arsenal) gehört durchaus in diese Kategorie. Selbst wenn er mit 24 Jahren kein ganz junger Spieler und kein komplett unbeschriebenes Blatt mehr war, als er 2013 von AS St. Étienne zu den Schwarzgelben wechselte.

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Klar, die finanziellen Effekte nimmt der BVB als positive Nebenwirkung gerne mit. Vor allem aber hat sich die Strategie des Klubs in den vergangenen Jahren zum sportlichen Erfolgsmodell entwickelt. Als "eines der spannendsten Projekte im europäischen Fußball" bezeichnen viele Experten diesen Dortmunder Weg daher. Lothar Matthäus findet gar: "Der BVB kann stolz darauf sein, dass er inzwischen die führende Adresse bei den größten Talenten in Europa ist."

Auch die erfahrenen Profis im Kader der Borussia haben mächtig Spaß an der Ausrichtung des Vereins. Emre Can, der beim FC Bayern, in Liverpool und bei Juve schon ein paar ganz brauchbare Mitspieler hatte, findet es schlicht "geil, was für tolle Kicker wir in unserer Mannschaft haben". Und Weltmeister Mats Hummels befand nach dem 3:0-Auftaktsieg gegen Borussia Mönchengladbach: "Wir haben bei der Mischung unterschiedlicher Charaktere und bei der Altersstruktur eine sehr gute Balance im Kader und viele Stärken, die wir auf den Platz bringen können. Das ist ein Haufen guter Fußballer mit ganz viel Qualität. Wenn wir das in die richtige Form bringen, sind wir eine Top-Mannschaft."

"Borussia Dortmund ist für meine weitere Entwicklung der perfekte Klub"

Wer sich nun fragt: "Wann hat das eigentlich angefangen mit diesem Jugendwahn?", landet unweigerlich im Sommer 2016. Gewiss, Shootingstars, die noch die Schulbank drückten und zum Training gebracht werden mussten, weil sie zu jung für den Führerschein waren, hat es auch davor immer wieder gegeben. Erinnert sei an die Spielzeit 1994/95 als der "Baby-Sturm" mit Lars Ricken (18) und Ibrahim Tanko (17) ins kalte Wasser springen musste, weil sich die etablierten Offensivkräfte reihenweise schwer verletzt hatten. Die beiden machten das so gut, dass der BVB am Ende der Saison zum ersten Mal nach 32 Jahren wieder Deutscher Meister wurde.

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Oder an die Spielzeit 2008/09, als Borussias neuer Trainer Jürgen Klopp die Talente Mats Hummels und Neven Subotic nach Dortmund holte und die beiden 19-Jährigen als „Kinderriegel“ in die Innenverteidigung stellte. Zwei Jahre später war der BVB Meister. Erinnert sei an Nuri Sahin, der mit 16 Jahren, 10 Monaten und 18 Tagen noch immer jüngster schwarzgelber Bundesligaspieler und mit 17 Jahren und 82 Tagen nach wie vor jüngster Dortmunder Bundesliga-Torschütze ist. Erinnert sei an Mario Götze und viele andere.

Warum die Saison 2016/17 dennoch den Kick-Off für die neue Strategie markiert: Weil in jenem Sommer in Alexander Isak (16), den Eigengewächsen Christian Pulisic, Jacob Bruun Larsen (beide 17), Felix Passlack und Dzenis Burnic (beide 18), Mikel Merino (18) und Emre Mor (19) plötzlich nicht weniger als sieben Akteure unter 20 Jahren im Kader auftauchten und ein Jahr nach dem Ende der Ära Klopp einen Generations- und Strategiewechsel sichtbar machten. 2017 folgten Dan-Axel Zagadou (18), Sergio Gomez (16) und Jadon Sancho (17), im Sommer darauf dann Leonardo Balerdi (19) sowie Leihspieler Achraf Hakimi (19) und vor Jahresfrist Mateu Morey (19), Giovanni Reyna (16) sowie – in der Winterpause – Erling Haaland (19).

Die beiden frischesten Neuzugänge in dieser Auflistung sind Jude Bellingham (17) und Reinier (18). Als Bellingham von seinem Heimatverein Birmingham City FC, bei dem er innerhalb kürzester Zeit Kultstatus erlangte, zum BVB kam, lieferte er eine Begründung für diesen "nächsten Schritt" in seiner Laufbahn, die fast schon stereotyp klingt. "Borussia Dortmund ist für meine weitere Entwicklung der perfekte Klub. Es gibt auf der ganzen Welt keinen Verein, der Talente so konsequent fördert und auf ein höheres Level hebt. Die Art und Weise, wie der BVB jungen Spielern dabei hilft, besser zu werden, hat mir und meiner Familie die Entscheidung sehr leicht gemacht."

"Kein Rekord hält für die Ewigkeit!" - schon gar nicht beim BVB

Nun ist es ja nicht so, als würden andere ambitionierte Vereine keine jungen Talente verpflichten. Der Unterschied ist: Beim BVB stehen sie nicht nur im Kader, sondern häufiger als überall sonst auch wirklich auf dem Platz. Sie werden nicht erst in der 80. Minute eingewechselt, wenn Spiele wahlweise längst gewonnen oder – noch unangenehmer – bereits verloren sind. Sie spielen oft von Anfang an, genießen Vertrauen, bekommen Verantwortung übertragen. Und können so ihr Potenzial entfalten. "Inzwischen", sagt Sportdirektor Michael Zorc, "werden wir aktiv von den Familien oder Beratern der Spieler angesprochen, weil sie bei uns eine höhere Durchlässigkeit und ein besseres Entwicklungspotenzial sehen." Und auch wenn nicht jeder der Hochveranlagten beim BVB zündet, hat kaum einer von ihnen die Zeit in Schwarzgelb bereut. In der Regel klappte es dann andernorts – und die Zeit in Dortmund war nicht verschenkt. 

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Beinahe zwangsläufig führt die Entwicklung dazu, dass die schwarzgelben Klubrekorde seit einiger Zeit schneller purzeln, als die Statistiker mitschreiben können. Sechs der zehn jüngsten Pflichtspieldebüts datieren auf die Zeit seit 2016: Pulisic (30.01.2016), Isak (14.03.2017), Sancho (21.10.17), Gomez (08.04.2018), Reyna (18.01.2020) und zuletzt Bellingham (14.09.2020). Die anderen vier Spieler sind Nuri Sahin, Ibrahim Tanko, Marc-André Kruska und Mario Götze. Lars Ricken, der bei seinem Debüt erst 17 Jahre, 7 Monate und 19 Tage alt war, wurde unlängst von Bellingham aus den Top 10 verdrängt. Jener Bellingham, über den sein neuer Teamkollege Thorgan Hazard fast schon bewundernd sagt: "Er mag erst 17 Jahre alt sein, aber er spielt Fußball wie ein Mann." Zweikampfstark, physisch robust, dabei technisch stark und mit einer beeindruckenden Ruhe und Sicherheit am Ball.

Auch bei den Torschützen rappelt‘s aktuell praktisch permanent in den Listen der Chronisten. Als Gio Reyna am 4. Februar 2020 beim DFB- Pokal-Aus in Bremen sein erstes Pflichtspieltor für den BVB erzielte, war er mit 17 Jahren und 83 Tagen exakt einen (!) Tag älter als Nuri Sahin am 26. November 2005 bei seinem 2:0 in Nürnberg. Doch als Jude Bellingham am 14. September beim 5:0-Pokalsieg in Duisburg gleich bei seinem Pflichtspieldebüt im schwarzgelben Dress zum 2:0 traf, war er fünf Tage jünger als seinerzeit Sahin. Der darf sich damit trösten, weiter jüngster Dortmunder Liga-Schütze zu sein. Doch es fragt sich: Wie lange noch? In Youssoufa Moukoko könnte ihn noch in dieser Saison ein Eigengewächs ablösen. Moukoko wird am 20. November 16 Jahre alt. Dann darf er bei den Profis spielen.

Gebt mir einen Ball! Gebt mir eine Wiese! Stellt zwei Tore hin!

Wie kein anderer pulverisierte Jadon Sancho in den vergangenen beiden Spielzeiten die Bestmarken. Erster Doppel-Packer des Jahrgangs 2000. Jüngster zweifacher Doppel-Packer der Bundesliga-Historie. Jüngster Spieler, dem 15 Tore gelangen. Erster Profi unter 20 Jahren mit 25 Liga-Treffern. Sowohl in der vergangenen Bundesliga-Saison (17 Tore, 17 Assists) als auch wettbewerbsübergreifend (20 Treffer, 20 Vorlagen) war Sancho Top-Torschütze, Top-Vorbereiter und damit Top-Scorer unserer Schwarzgelben – nicht nur auf die Saison 2019/20 bezogen, sondern historisch. Beides sind Vereinsrekorde und Wahnsinnswerte für einen jungen Kicker.

Wohlgemerkt: Sancho ist selbst erst 20 und hat sich beim BVB von einem außergewöhnlichen Talent zu einem Weltklassespieler entwickelt. Und er lieferte zu Beginn der neuen Saison gleich wieder: Ein Tor und eine Vorlage im Pokalspiel in Duisburg, Sensations-Vorarbeit zum 3:0 gegen Gladbach durch Erling Haaland... 

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Der junge Norweger. Das Phänomen. Die Maschine. Der einzige Spieler in der Geschichte von Borussia Dortmund, der sowohl in der Bundesliga als auch im DFB-Pokal und in der Champions League gleich bei seinem ersten Einsatz ins Schwarze traf. Nachdem Haaland in der Winterpause 2019/20 aus Salzburg zum BVB wechselte, erzielte er bei seinen ersten drei Bundesliga-Einsätzen sieben Tore. Für die ersten drei beim 5:3 in Augsburg benötigte er als Joker gerade 23 und für alle sieben Treffer zusammen nur 134 Minuten. Seine Quote lag bei 100 Prozent. Sieben Torschüsse, sieben Einschläge – die Neudefinition des Effizienz-Begriffs. Hinzu kommt diese beinahe kindliche Freude, die Erling Haaland versprüht. Diese Botschaft: Fußball ist der geilste Sport der Welt. Gebt mir einen Ball! Gebt mir eine Wiese! Stellt zwei Tore hin, zieht ein paar Linien und lasst mich einfach nur spielen!

Spielen – das ist es, was die jungen Wilden von der Strobelallee wollen. Der BVB lässt sie. "Positive Dynamik sollte man nicht aufhalten", sagt Sportdirektor Michael Zorc. Und auch wenn der eine oder andere nicht ewig das BVB-Trikot tragen wird, ist der Dortmunder Weg doch richtig und sogar alternativlos. Heute. Und sicher auch in Zukunft.