Oder: Wie ich mich im schwarzgelben Rausch des Fußballs fand

Wenn ich mich nicht irre, war ich erst zweimal in meinem Leben in einem Fußballstadion. Das erste Mal liegt über sechzig Jahre zurück, als ich ungefähr so alt war wie Anton, mein Enkelsohn, heute. Vielleicht könnte ich mich daran gar nicht erinnern, gäbe es nicht ein Foto davon: ich in einer Reihe vor meiner Mutter, meinem Stiefvater, Erich Mielke, Walter und Lotte Ulbricht, dahinter Erich Honecker. Wir sitzen in der ersten Reihe hinter einer Ballustrade aus Naturstein.

Ich habe ein kleingeblümtes Sommerkleid an mit schwarzen Samtstreifen am Saum, um den Hals ein Pioniertuch. Meine Mutter trägt eine Sonnenbrille mit weißem Rahmen, alle Männer haben ähnliche Schirmmützen auf dem Kopf, nur ich blinzle gegen die Sonne. An das Spiel erinnere ich mich nicht, nehme aber an, dass der SC Dynamo gegen ASK Vorwärts gespielt hat, also Polizei gegen Armee, und dass Erich Mielke mit blutrotem Kopf herumgesprungen ist. Ihm unterstand die Sportvereinigung Dynamo, und mein Stiefvater, zu dieser Zeit Chef der Deutschen Volkspolizei, war sein Stellvertreter. Für Fußball habe ich mich damals nicht interessiert. Erst viel später, als Männer in meinem Leben eine Rolle spielten, ließ ich mich vom allgemeinen Erregungstaumel infizieren, lernte, was Abseits ist und wann es einen Eckball gibt. Ich erinnere mich, dass Eusebio einmal geweint hat und mit seinem Hemdzipfel die Tränen abwischte; seitdem liebte ich ihn. Überhaupt musste ich, da mich Fußball immer noch nicht interessierte, meine Leidenschaften über Sympathien und Antipathien für einzelne Spieler kanalisieren, wenn ich irgendwie an der kollektiven Fußballextase teilhaben wollte.

Erst in den letzten Jahren hat sich mein Verhältnis zum Fußball geändert, was damit begann, dass es nach 1990 nun eine Nationalmannschaft gab, deren Siege ich leidenschaftlich wünschen und deren Niederlagen ich ebenso betrauern konnte. Und Anton, mein Enkelsohn, wurde seit der ersten Klasse begeisterter Fußballer, später Torwart, beim SV Pfefferwerk, so dass ich mich, weil ich ihm eine ernsthafte Gesprächspartnerin sein wollte, um die wichtigsten Belange der Bundesliga zu kümmern begann, was wiederum mein Interesse auf Jürgen Klopp mit seinem BVB lenkte und dazu führte, dass ich zum ersten Mal mein Herz an eine Fußballmannschaft hängte. Das ist in diesem Fall natürlich nichts Besonderes, fast alle Menschen, die ich kenne, sind Dortmund-Fans, auch wenn sie sich für Fußball sonst gar nicht interessieren. Aber alle lieben Geschichten von Verlierern, die wieder aufstehen und zu Siegern werden, so wie Dortmund, als der Verein fast verloren war, wieder auferstanden ist. Und alle lieben Klopp, wenn er sein Recht behauptet, auf doofe Fragen doofe Antworten zu geben. Die übrigen Gründe liefern die Bayern, wenn sie Spieler kaufen, die sie nicht brauchen, nur damit andere sie nicht haben.

Anton Maron in Aktion
You'll never walk alone: Anton singt mit der Südtribüne

Daß ich zum zweiten Mal ein Fußballspiel leibhaftig erlebt habe, hat mit Dortmund und Anton zu tun. Eines Tages wurden wir gefragt, ob wir, Anton und ich, uns an den „Generationen-Interviews“ in der FAZ beteiligen wollen, in der die Wünsche, Erinnerungen und Erfahrungen der Großelterngeneration mit den Träumen und Lebenswelten der Enkel konfrontiert werden. Wir wollten und Anton präsentierte sich auf seinem Foto zum Text mit einem Fußball unter dem Arm und dem entschlossenen Blick eines Torwarts. Es war wohl dieses Foto, das uns die Einladung von Evonik, dem Hauptsponsor des BVB, zu einem Fußballspiel nach Dortmund und mir meinen zweiten Stadionbesuch bescherte. Wir fuhren zum Halbfinal-Pokalspiel gegen Wolfsburg. Die Wolfsburger hatte der BVB zehn Tage vorher knapp besiegt, danach Real Madrid geschlagen und die Bayern 3:0. Aber was, wenn sie ausgerechnet bei unserem Spiel verlieren? Wäre unsere Reise dann verdorben? Durfte man so überhaupt denken über ein Fußballspiel? Tausende Fans reisten erfolglosen Mannschaften nach und blieben ihnen Niederlage für Niederlage treu. Nicht ohne Bewunderung für die Leidensbereitschaft dieser wahren Fans wünschte ich mir für unsere einzigartige Reise einen Sieg, natürlich auch für Dortmund, damit sie ins Finale kommen, aber eben auch für Anton und mich. Wir hatten Glück, wir haben gesiegt. Wir Dortmunder.

Im Block links unter uns saßen die glücklosen grünen Wolfsburger Fans, die tapfer ihre Chöre brüllten und dazu wie Rotfrontkämpfer rhythmisch die Fäuste streckten in Richtung der Südtribüne, der übermächtigen Dortmunder Gelben Wand. Anton schwenkte seinen schwarzgelben Schal mal über dem Kopf, mal spannte er ihn wie ein Transparent vor sich und wiegte sich im Takt der Fangesänge. Ich hatte keinen Schal und bin wohl auch durch Alter und Erfahrung zurückhaltender in kollektiven Kundgebungen. Aber ich spürte, wie mich von Minute zu Minute die Masse der 80.000 tiefer einsog, wie ich verschmolz mit Ihrem Jubel, ihrem enttäuschten Seufzen, wenn der Ball das gegnerische Tor verfehlte und dem erleichterten Stöhnen, wenn er das eigene nicht traf. Ich jubelte, seufzte, stöhnte mit und zweimal sprang ich auf und schrie wie alle: Toooor! Die Gelbe Wand gegenüber hüpfte auf und ab, und sang etwas, das ich nicht verstehen konnte, laut und mächtig, wenn auch nicht so herzzerreißend wie die 20 000 Iren, die ihre Mannschaft, als sie bei der Europa-Meisterschaft 2012 gegen Spanien 0:4 zurücklag, auf ihrer Hymne „The fields of Athenry“ durch die letzten Spielminuten trugen. Die Wolfsburger links unter uns hatte ich vergessen. Die Gelbe Wand stimmte den Schlachtruf an: Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin, die 80.000 fielen ein, Anton mit seiner hellen Stimme rief begeistert: Berlin, Berlin, und dann ich auch: Wir fahren nach Berlin. Finale, Finale. Dortmund gegen die Bayern, David gegen Goliath, Leidenschaft gegen das große Geld! Oder doch nur Fußball?

Ich weiß immer noch nicht, ob ich mich für Fußball eigentlich interessiere. Aber wenn nicht Fußball, was ist es dann, das mich jubeln oder fluchen lässt, das uns bei besonderen Spielen vor dem Bildschirm versammelt und zu hemmungslosen Gefühlsausbrüchen hinreißt, so dass mein Hund wie bei Gewitter in den dunkelsten Winkel der Wohnung flüchtet? Ist es ein angeborenes Bedürfnis, ganz entschieden für etwas zu sein und damit ebenso entschieden gegen etwas? Eine gefahrlose Form der Aggressionsabfuhr (solange sie nicht in Schlägereien endet)?

An diesem Abend im Stadion ergriff mich etwas, das ich nachträglich als den Rausch durch ein kollektives emotionales Erlebnis identifizierte, etwas, das es im Leben jenseits des Fußballs nur noch selten gibt. Vielleicht bei einem großen Streik, oder wenn ein Hochwasser Hilfsbereite aus allen Landesteilen mobilisiert, oder, und das war mein größtes Erlebnis dieser Art, als 1989 die Mauer fiel. Das sind Friedensvarianten für kollektive Gefühlsphänomene. Wer einmal von ihnen erfasst wurde, ahnt, wie im kollektiven Rausch auch irre tödliche Feindschaften entstehen können, wenn der Einzelne sich auflöst in der verführerischen Macht eines gemeinsamen Wollens.

Wir müssen den Fußball feiern für seine friedenserhaltende Kraft. Es geht um alles, wir dürfen Feinde haben und Feinde sein, wir dürfen zu einer liebenden und hassenden Masse gehören – für neunzig Minuten, um dann ins zivile Leben zurückzukehren.

Anton und ich fuhren schon am nächsten Tag wieder nach Berlin. Anton wird sich an unsere Reise noch erinnern, wenn er so alt ist wie ich jetzt, denn er hat Fotos: Anton mit Marcel Schmelzer, mit Neven Subotic, mit Teddy de Beer, und er hat ein Torwarttrikot, unterschrieben von Weidenfeller.

Und ich ahne langsam, warum mich Fußball doch interessiert.
Monika Maron

Erstmals erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 27. April 2014

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Zur Person:

Monika Maron ist 1941 in Berlin geboren, wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte u. a. die Romane ›Flugasche‹, ›Die Überläuferin‹, ›Stille Zeile sechs‹, ›Animal triste‹, ›Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte‹, ›Endmoränen‹ und ›Ach Glück‹, außerdem mehrere Essaybände und die Reportage ›Bitterfelder Bogen‹. Zuletzt erschien der Roman ›Zwischenspiel‹. Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis (1992), dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2003), dem Deutschen Nationalpreis (2009) und dem Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011).

Zum Weiterlesen:

Monika Marin - Stille Zeile Sechs
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