Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Uli Hannemann über das Spiel Borussia Dortmund gegen Borussia Mönchengladbach (09.11.2014).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Stoppelkamp rückwärts

Medaillon vom Kabeljau in Hummersauce mit Shrimps, Broccoli, Pumpernickel-Croutons und Linsenreis. Meine Freundin hat mir zum Abschied dringend empfohlen, hier nicht „so viel zu fressen und zu saufen, nur weil es umsonst ist.“ Das wäre peinlich und unprofessionell, hat sie gesagt. Ich solle ihr keine Schande machen, hat sie hinzugefügt. „Also nicht so wie sonst.“ Eben hat sie dasselbe noch mal gesimst, falls ich ihre Worte vergessen haben sollte. Leider zu spät.

Apropos Schande: Nach dem Sieg des SV Werder startet die Borussia ganz entspannt vom letzten Tabellenplatz. Es kann nur aufwärts gehen. Und so gilt die Borussia diesmal als klarer Favorit.

Allerdings die vom Niederrhein. Jeder erwartet einen Pflichtsieg beim Tabellenletzten. Zumindest jeder, der die Tabelle über die Ahnung stellt. Doch das Leben ist kein Konstrukt aus toten Zahlen. Dass sich Dortmund nicht auch diese Saison noch lässig für die CL qualifiziert, glaube ich erst, wenn der Club rechnerisch abgestiegen ist. Kurz vor Beginn der Partie wird es hektisch: Beim Fototermin für diese Seite soll ich wider Erwarten lächeln. Bis das halbwegs klappt, habe ich fast den Anpfiff verpasst.

Was mir dann während der starken Anfangsviertelstunde des BVB auffällt, ist das Raunen. Ein Fehler, ein Raunen. Kein negatives Raunen – das spürt man -, keine Pfiffe und doch gut vorstellbar als vieltausendfacher Druckverstärker. Dennoch liegt beim BVB sofort ein eindeutiges Plus an Griffigkeit, an Aufwand, an Torchancen. Erstaunlich, dass die Gladbacher es nicht schaffen, Nadelstiche zu setzen, das Raunen von einer aufmunternden Tonart in eine ängstliche kippen zu lassen und so ihren psychologischen Vorteil aus der Konstellation zu ziehen. Die Moral der Dortmunder Spieler scheint wahrlich intakt zu sein, nur die Abschlüsse wackeln. Auch als neutraler Beobachter leide ich mit, doch was heißt schon neutral? Es ist nur menschlich, dass man sich insgeheim eher der Seite zuschlägt, in deren Heim man zu Gast ist, und – das gebietet alleine der Sachverstand – an diesem Abend sportlich mehr bietet. Und nicht zuletzt hat sich Borussia Dortmund über die letzten Jahre hinweg im ganzen Land latente Sympathien als letzter legitimer Sachwalter des Widerstands gegen die Leute, die sonst immer gewinnen, erworben. Das alles soll jetzt auf dem Spiel stehen? Zur Pause verzeichnet Dortmund 15:0 Torschüsse. Es steht Null zu Null. Vernicelle-Maronenpüree auf Vanillecreme. Das Funknetz ist überlastet – mich erreichen keine weiteren Ermahnungen.

Die zweite Hälfte. Gerade als sich das Anrennen des BVB in seiner Ergebnislosigkeit zu erschöpfen droht, hilft nach dem ungefähr achtzehnten vergeblichen Torschuss der Dortmunder ausgerechnet der allererste der Gladbacher. Aufs eigene Tor. Ins eigene Tor.

Ein Kunststoß. Christoph Kramer, der Weltmeister, vollführt den „Einfachen Stoppelkamp Rückwärts“. Fast von der Mittellinie, unbedrängt und über den eigenen Torwart hinweg. Der Jubel wirkt, gemessen an der Bedeutung des Treffers, beinah verschämt. Womöglich liegt es an der Überraschung über ein Tor ohne die übliche Vorgeschichte einer sich dramatisch aufbauenden Gelegenheit, oder sogar an einer instinktiven Urfairness, die den Torschützen angesichts seines Missgeschicks schont. „Mama, warum hat der Mann das gemacht?“, fragt eine helle Kinderstimme in meinem Kopf.

Das Tor ändert nichts am Charakter des Spiels, direkt nach der Führung trifft Reus zum zweiten Mal das Aluminium. Mönchengladbach gelingt es einfach nicht, Druck aufzubauen. Abpfiff, Erleichterung, gemeinsames Feiern der Mannschaft mit dem Publikum. Bevor hier Hui Buh, das Abstiegsgespenst, allzu laut mit seiner rostigen Viererkette rasselt, verscheucht man es einfach mit Willenskraft. Westfälischer Sauerbraten vom Weiderind mit Apfelrotkohl und Butterspätzle in der Zwiebelschmelze. Und Bier. Kater kommt von Catering.

von Uli Hannemann

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Uli Hannemann

Uli Hannemann, * 1965 in Braunschweig. Er lebt und arbeitet in Berlin, wo er unter anderem für die „taz“ schreibt und Mitglied der Lesebühnen „Reformbühne Heim & Welt“ sowie „LSD – Liebe statt Drogen“ ist. Nach Veröffentlichung mehrerer Bücher mit Kurzgeschichten erschien im März 2014 seine erster Roman „Hipster wird’s nicht. Der Neuköllnroman“ (Berlin Verlag). Er ist Gründungsmitglied der Autorennationalmannschaft, wo er die verschiedensten Abwehrpositionen bekleidet. Sein Moment für die Ewigkeit - in Ermangelung erwähnenswerter Offensivaktionen: Direkt vor dem eigenen Tor grätschte er dem einschussbereiten Sportchef der Süddeutschen Zeitung, Klaus Hoeltzenbein,  von hinten den Ball weg und verhinderte so den Ausgleich in der Nachspielzeit.

Evonik Industries
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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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