Es ist 20.31 Uhr am Abend des 28. Mai 1997, als Schiedsrichter Sandor Puhl das Endspiel der UEFA Champions League zwischen Borussia Dortmund und Juventus Turin im Münchner Olympiastadion anpfeift. Exakt 95 Minuten und 45 Sekunden wird es dauern. Dann ist der größte Erfolg der Vereinsgeschichte perfekt.

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Juventus Turin hatte den Titel im Vorjahr durch ein 4:2 im Elfmeterschießen gegen Ajax Amsterdam gewonnen und war vor dem fünften Endspiel der UEFA Champions League (oder dem 42. Finale um den Europapokal der Landesmeister; denn um diese Trophäe ging es) haushoher Favorit.

Die Italiener waren damals das Maß aller Dinge auf dem Kontinent, hatten die Gruppe mit fünf Siegen und einem Unentschieden klar vor Manchester United gewonnen und sich in den K.o.-Runden zunächst mit etwas Mühe gegen Rosenborg Trondheim (1:1, 2:0) und dann souverän im Halbfinale gegen den Vorjahresfinalisten Ajax (2:1, 4:1) durchgesetzt, während Borussia Dortmund die Gruppe punktgleich hinter Atlético Madrid als Zweiter (gleichwohl souverän mit vier Siegen, einem Unentschieden und einer Niederlage) beendet hatte und mit vier K.o.-Siegen (AJ Auxerre 3:1, 1:0 / Manchester United 1:0, 1:0) in dieses Endspiel einzog.

Es war das siebte Aufeinandertreffen zwischen beiden Klubs seit Mai 1993, also innerhalb von vier Jahren. Doch nur einmal hatten sich die Schwarzgelben durchsetzen können – in einer Partie, in der es für Turin um nichts mehr ging. Hinzu kamen ein 2:2 im UEFA-Cup-Halbfinale 1995 sowie vier Niederlagen.

In der Dortmunder Mannschaft fehlten einige Härtefälle. So der langjährige Kapitän Zorc oder Tretschok, der im Halbfinal-Hinspiel das 1:0-Siegtor gegen Manchester geschossen hatte, und für Feiersinger, der den bis zum Finale verletzten Sammer erstklassig vertreten hatte, war noch nicht mal Platz auf der Bank (auf der seinerzeit nur vier Feldspieler sitzen durften).

Das Spiel nahm zunächst den erwarteten Verlauf: Borussia fand sich weitgehend in der Defensive wieder, agierte hektisch und gehemmt, versuchte aber, vor den Augen der über 30.000 eigenen Fans im Olympiastadion (59.000 Zuschauer) sporadisch für Entlastung zu sorgen. So setzte sich Chapuisat in der Anfangsphase auf der linken Seite gegen Di Livio durch, doch Linksverteidiger Juliano lenkte Riedles Schuss zur Ecke.

Zidane war anfangs von Lambert kaum unter Kontrolle zu bringen. Der Franzose initiierte Angriff um Angriff. Nach einer Flanke von Vieri kam Jugovic im Zweikampf mit Reuter am Elfmeterpunkt zu Fall, doch Puhl ließ weiterlaufen. In der vierten Minute war es eine Standardsituation, die für größte Gefahr sorgte: Juliano köpfte eine Zidane-Ecke knapp neben das Tor. Wenig später traf Vieri das Außennetz.

Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis es die Schwarzgelben schafften, Juves Fuß vom Gaspedal zu schieben und das Geschehen etwas zu beruhigen. Die Angriffe waren zwar nicht so flüssig wie gewohnt, dafür aber deuteten die schnellen Konter bereits an, wo an diesem Abend eine Chance liegen könnte. Dass sich die Mannschaft zerriss und in jeden Zweikampf schmiss, als wäre es der letzte, muss nicht gesondert erwähnt werden.

Dann die 29. Minute. Die Italiener hatten einen dieser Konter auf Kosten eines Eckballs abwehren können. Den schlug Möller in den Strafraum. Peruzzi faustete, ein Mitspieler verlängerte ihn nach außen. Rechts, außerhalb des Strafraums, aber stand nur ein Dortmunder: Lambert flankte gefühlvoll nach innen, Riedle nahm den Ball mit der Brust an und legte ihn sich vor auf den linken Fuß – trockener Schuss an der Fünfmeterlinie, das 1:0! Der Torschütze hatte sich dabei im Rücken von zwei Italienern durchgesetzt und dem Torwart keine Chance gelassen. Auch im elften Spiel der Champions-League-Saison 1996/97 war den Borussen damit das erste Tor der Partie geglückt (Bilanz zuvor: 8 Siege, 1 Unentschieden, 1 Niederlage). Und Juve lag erstmals zurück – und ließ sich abermals nach einer Ecke brüskieren.

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Chapuisat hatte diese nach Doppelpass mit Möller erzwungen, und wieder war es Möller, der die Ecke hereingab, wieder von der linken Seite, wieder kam Riedle an den Ball, diesmal wuchtig per Kopf aus acht Metern – nach 34 Minuten führte Borussia Dortmund gegen den haushohen Favoriten mit 2:0.

Juventus Turin reagierte mit wütenden Attacken. Zidane traf mit einem Schuss aus 17 Metern den Pfosten, Vieris Treffer zählte nicht, da der Italiener zuvor die Hand eingesetzt hatte. Mit Glück, Geschick und einem großen Kämpferherz brachten die Borussen den Vorsprung in die Halbzeitpause.

Nach Möllers Freistoßflanke köpfte Riedle knapp vorbei, auf der anderen Seite parierte Klos einen Gewaltschuss von Boksic glänzend, lenkte einen abgefälschten und daher immens tückischen Schuss von Vieri ans Lattenkreuz. Durchatmen bei allen Dortmundern!

In der 64. Minute aber war der Anschlusstreffer nicht mehr zu verhindern. Boksic setzte sich auf der linken Seite gegen Heinrich durch, die Hereingabe aber schien zu ungenau, geriet in den Rücken des zur Pause eingewechselten Jungstars Del Piero, doch der bugsierte die Kugel technisch höchst anspruchsvoll mit der Hacke ins BVB-Tor.

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Borussia Dortmund aber fand die perfekte Antwort. Hitzfeld zauberte seinen Joker aus dem Ärmel: In der 70. Minute schickte er Ricken für den ausgepowerten Chapuisat auf den Rasen. Juve setzte das Spiel mit einem Einwurf fort, doch bevor Boksic an den Ball kommen konnte, hatte Sousa ihn bereits „geklaut“, leitete blitzschnell weiter auf Möller, der die Lücke in der Turiner Abwehr sah, den Ball perfekt durch die Schnittstelle spielte. Ricken erlief ihn sich, schaute einmal kurz hoch zum weit vor seinem Tor postierten Peruzzi, nahm aus 26 Metern halbrechter Position Maß und schoss ihn per Bogenlampe rechts oben in den Winkel – ein Traumtor nach einem perfekten Konter! Acht Sekunden war Ricken auf dem Platz, acht Sekunden!

RTL-Kommentator Marcel Reif, der eine Zehntelsekunde vor Rickens Schuss „lupfen, jetzt!“ gefordert hatte, meinte: „Das sind Märchen, die gibt’s nicht. Die Gebrüder Grimm drehen sich im Grabe um.“

Für Juventus Turin gab es keine märchenhafte Auferstehung mehr in diesem Spiel. Das 3:1 war die Entscheidung. Vom erneuten Zwei-Tore-Rückstand erholte sich Italiens Rekordmeister nicht mehr. Die Schwarzgelben brachten den Vorsprung nun sicher ins Ziel, feierten im 100. Europapokalspiel der Vereinsgeschichte den größten Erfolg.

Kurzzeitige Irritationen gab es dann nur noch vor der Siegerehrung. Da der langjährige Kapitän Zorc erst in der 89. Minute eingewechselt worden war, trug Sammer, sein Vertreter, die Binde. Die Mannschaft drängte Zorc aufs Podium, um den Pokal als Erster in Empfang zu nehmen. Doch der zierte sich, ehe Sammer ein Machtwort sprach: „Mach voran und geh’ endlich nach oben!“
Boris Rupert

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BVB – JUVENTUS TURIN 3:1 (2:0) am 28.05.1997                 

Borussia Dortmund: Klos – Kohler, Sammer, Kree – Reuter, Lambert, Sousa, Heinrich – Möller (89. Zorc) – Riedle (67. Herrlich), Chapuisat (70. Ricken)
Juventus Turin: Peruzzi – Porrini (46. Del Piero), Ferrara, Montero, Juliano – Deschamps – Di Livio, Zidane Jugovic – Vieri (71. Amoruso), Boksic (87. Tacchinardi)
Bank: De Beer, Tretschok – Rampulla, Pessotto
Tore: 1:0 Riedle (29., Lambert), 2:0 Riedle (34., Ecke Möller), 2:1 Del Piero (66., Boksic), 3:1 Ricken (71., Möller)
Schiedsrichter: Puhl (Ungarn)
Gelbe Karten: Sousa, Ricken – Porrini, Juliano
Zuschauer: 59.000 in München, Olympiastadion (ausverkauft)