Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Benedict Wells über das Spiel Borussia Dortmund gegen Bayer Leverkusen (23.8.2014).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Das Experiment

Die Südtribüne, ein Mythos. 25.000 Fans, nur Stehplätze. Hier pumpt das schwarzgelbe Herz von Borussia Dortmund. Bei diesem Anblick muss ich an ein Zitat von Hornby denken: „Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden." Denn wie in der Liebe, gibt es auch beim Fußball ein wehmütiges „Was wäre, wenn…“ Diese eine besondere Beziehung, die sich nie verwirklicht hat. Wie meine zum BVB.

Ich war zehn Jahre alt, als mich nach der WM in den USA das Fußballfieber überkam. Nun brauchte ich nur noch einen Verein. Nach dem ersten Spieltag der Bundesligasaison 1994/95 schien die Wahl klar: Dortmund. Gerade hatte das Team um Möller, Sammer und Chapuisat 1860 München mit 4:0 abgefertigt. Wie konnte ich da nicht Fan werden? Antwort: Weil mein bester Freund bereits BVB-Fan war und etwas dagegen hatte. Da ich gebürtiger Münchner bin, war er der Ansicht, dass ich Bayernfan sein müsse. „Vergiss es“, sagte ich immer wieder. Doch dann kam der zweite Spieltag und Bayern verlor mit 1:5 gegen Freiburg. Und irgendwie lag ein Zauber in dieser lächerlich hohen Niederlage. Als die Spieler gedemütigt vom Platz schlichen, bekam ich Mitleid; es war plötzlich „meine“ Mannschaft, „meine“ Verlierer. In diesem Moment wurde ich zum Bayernfan, in einer Saison, in der wir am Ende Sechster wurden und Dortmund Meister. Eine Entscheidung fürs Leben. Denn man kann den Beruf wechseln, die Partnerin, den Wohnort, sogar den Glauben. Aber nicht den Verein.

Als die Einlaufmusik ertönt, recken die Fans ihre Schals in die Höhe und schwenken ihre schwarzgelben Fahnen. Ich muss an meine unbändige, fast den Schädel spaltende Freude nach Robbens Tor gegen den BVB im Champions-League-Finale denken und fühle mich wie ein Eindringling. Und da beschließe ich ein Experiment. Für ein Spiel bin ich wieder zehn Jahre alt und entscheide mich für Dortmund. Für ein Spiel gehe ich fremd und gebe der unerfüllten Liebe eine zweite Chance.

Mein Start als BVB-Fan ist denkbar beschissen. Schon nach neun Sekunden hat Bayer Leverkusen gegen mein neues Team getroffen. Ich bemühe mich, wütend zu sein, fühle aber nichts, höchstens Erstaunen. Denn auch in den nächsten Minuten spielt Leverkusen überraschend mutig und attackiert früh. Es ist, als würden zwei riesige, rote Hände die Dortmunder Abwehr packen und durchschütteln.

In der Halbzeit fachsimpeln zwei ältere Frauen vor mir über das Spiel, ich selbst gehe meine mögliche Vergangenheit als BVB-Fan durch. Wären dann nicht Scholl und Deisler, sondern Dede und Rosicky meine Lieblingsspieler gewesen? Hätte ich statt nach der Niederlage gegen ManU nach der Niederlage gegen Rotterdam geweint? Und vor allem: hätte ich Bayern gehasst? Ganz bestimmt.

Nach dem Wechsel will Dortmund, das sieht man. Das Team spielt schon seit Jahren taktisch komplex, und dennoch wirkt es auf den Zuschauer so wunderbar ehrlich und einfach. Jürgen Klopp ist als Trainer wie der Mathelehrer, den man gern gehabt hätte, und der offenbar selbst schwierigste Formeln so erklären kann, dass sie auch der größte Laie versteht.

„Heja, BVB!“ Die Südtribüne hüpft geschlossen. Sie hält eine wilde Messe ab, singend, klatschend, pfeifend, jubelnd, und auf einmal schwappt etwas von dieser kollektiven Begeisterung auch auf mich über. Ich feuere plötzlich lautstark an, schimpfe auf den Schiedsrichter oder ärgere mich über leichtfertige Ballverluste. In meinem einzigen Spiel als BVB-Fan soll endlich der verdammte Ausgleich fallen. Wenigstens ein Tor, einmal jubeln. Stattdessen schießt Leverkusen in der letzten Minute das 0:2. Danach folgt Leere. Meiner Dortmunder Affäre und mir war an diesem Abend kein Glück beschieden, doch auf dem Rückweg nach München habe ich noch immer die Bilder der „gelben Wand“ im Kopf. Es gibt Stadien, in denen wird das Spiel beobachtet. In Dortmund dagegen wird es gelebt. Das muss ich zugeben, auch als Bayernfan.

von Benedict Wells

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Benedict Wells

Benedict Wells, geboren 1984, zog nach dem Abitur nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein Debüt "Becks letzter Sommer" erschien 2008 im Diogenes Verlag. Es wurde mit dem bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und gerade mit Christian Ulmen in der Hauptrolle fürs Kino verfilmt. Sein dritter Roman "Fast genial" stand monatelang in den Bestsellerlisten. Wells lebt inzwischen in Barcelona und München, in der Autorennationalmannschaft spielt er im Sturm und auf den Flügeln. Sein Moment für die Ewigkeit: ein Tor beim Spiel gegen die Autoren-Auswahl der Türkei am 16. September 2009 im Stadion am Millerntor.

Evonik Industries
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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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