Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Christoph Nußbaumeder über das Spiel Borussia Dortmund gegen den FC Schalke 04 (28.02.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Der Befreiungsschlag 

1. Hases Sturz

Hase geht es nicht gut, seit Monaten. Und vielleicht, dachte ich, tue ich ihm was Gutes, wenn ich ihn zum Spiel mitnehme. Hase ist Restaurator, beim Ausbessern von Fresken in einer Kirche fiel er vor einem dreiviertel Jahr vom Gerüst. Seitdem hat Hase einen Hau. Er war in einigen Dingen seltsam geworden, mitunter scheu und zaghaft, was man vorher nicht von ihm kannte, vor allem aber hatte es ihm die Sprache verschlagen. Hase hatte das Sprechen verlernt. In den letzten drei Wochen befand er sich zwar auf einem deutlich aufsteigenden Ast, so dass er sich wenigstens verständlich machen und ein paar Laute von sich geben konnte, aber was heißt das schon nach so einem schlimmen Sturz in die Tiefe. Wie auch immer, vor allem war Hase - mit oder ohne Hau - eins: BVB-Fan.

Hases Herz schlägt seit den 70ern für Schwarz-Gelb, seit der wüsten Zeit, die für einen echten Fan wenig erbauliche Tage bereitgestellt hatte. "Den das Schicksal liebt, den züchtigt es", hat ihm sein Restauratoren-Meister aus Hörde in dieser Zeit oft zugeraunt und ihn die Werkstatt aufräumen lassen. Als der BVB noch mit drei Streifen übers Feld rannte, war Hase zuletzt bei einem Derby gewesen. Kurz danach zog er nach Berlin, seitdem kam er nur noch selten nach Dortmund zur Borussia. Trotzdem kannman sagen, sein Leben glich fast immer auf seine eigene, unberechenbare Art und Weise den Saisonverläufen seines Herzensvereins.

2. Beobachtungen aus Block 73

In Dortmund, kurz vor dem Revierderby, um halb vier.
Es ist der letzte Tag im Februar und heißer, als im Juli auf einer Baustelle in Katar.
Wenn du zum ersten Mal das Stadion betrittst, stockt dir der Atem, die Augen quellen über, und die Kinnladen fallen dir runter. Gesänge aus alten Zeiten, mit Led Zeppelin gemixt.
Der Sound fordert das Blut in den Adern auf zum Tanz. Niemand ist gekommen, um sich auszuruhen. Unvorhergesehenes ist erwünscht. Denkwürdiges wird verlangt.
Sprachfetzen auf den Rängen: Schmähungen, Stoßgebete, Beschwörungen und Gelächter. "Micha, wo steckt dein Bruder, wann macht Hoeneß den Papillon?"
Parolen, die zum Angriff blasen. Hymnen aus der Gelben Wand.
Mit dem Anpfiff brennt endlich die Luft, der Beton vibriert.
Die Menge wird zur Masse, wird zur Meute. Bier ist ihr Benzin.
Das Stadion mutiert zum kochenden Pott. Und irgendwo im Block 73, Hase und ich, zwei von Achzigtausend.

Die Mannschaften tasten sich ab, Auba hat die erste Chance. Das Spiel läuft schnell auf Hochtouren. Wer sich nicht den Arsch aufreißt, wird mit Flüchen bombardiert. Die Rivalität entfacht disparate Rhythmen und chaotisches Bemühen. Dann wieder Ordnung, immer wieder Ordnung. Auf dem Platz wie auf den Rängen. Die Gelbe Wand besorgts dem Rest.
"Wer nicht hüpft, ist ein Scheißer." Die Steher heißen Schalker. Die Ordner am Rand, im roten Leibchen, tun, was sie nicht dürfen, sie beobachten statt der Meute das Spielgeschehen. Sie können nicht anders, sie sind auch nur Menschen, wer will es ihnen verdenken.
Hummels dirigiert die Abwehr wie ein Kaiser aus den 70ern. Reus muss mehr Zielwasser saufen, noch schießt er nur vorbei.

Grätschende Beine, angespannte Muskeln. Je intensiver der Kampf auf dem Rasen, desto höher der Pegel auf den Rängen. Je giftiger Schwarz-Gelb, desto mehr Funken zirkulieren im Raum. Der BVB gibt Gas, die Mannschaft feuert unermüdlich. Schalke 04 bringt kein Bein aufs Parkett. Doch wie lange ist noch Sprit im Tank. Irgendwann wehrt sich die blaue Nemesis bestimmt. Für Aufwand gibt es keine Belohnungsgarantie.
Fußball ist wie das Leben, oft ungerecht und gnadenlos.

Und auf einmal, unversehens, als man schon dachte, der Angriffswirbel hätte sich erschöpft,
kam von irgendwo ein Lichtstrahl her, ein Tor, wie aus dem Nichts.
Was für ein Befreiungsschlag. Lässig mit dem Außenrist.
Aubameyang hat uns erlöst, der gute Sprinter aus Gabun.
Doch du brauchst dich nicht zu verkleiden, Auba. Schon gar nicht als ein Comicheld.
Echte Helden benötigen kein Kostüm, sie tragen schwarz-gelb im Großrevier.
Micki und Marco legten noch zwei drauf. Penetranz machte den Unterschied.
Man fiel sich in die Arme, man herzte sich brutal:
einmal, zweimal, dreimal.
In meinem Arm lag die schönste Perle vom Revier:
einmal, zweimal, dreimal.
Um viertel nach fünf war der Zauber dann vorbei.
Er wird noch lange nachwirken.

3. Ausklang mit Fred

Hase hatte nach dem Derby - wen wunderts - einen größeren Hau als zuvor, aber er hat gesprochen: "Was für ein Spiel, das war der Hammer! Jetzt gehen wir einen trinken!"
Er war auf dem besten Weg, der alte zu werden. Wir waren dann noch im domicil bei einem Konzert von Fred Frith. Der trommelte auf seiner E-Gitarre, die gelblich schimmerte, wie eine Savannenlandschaft vor dem langersehnten Regen.

von Christoph Nußbaumeder

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Christoph Nußbaumeder

Christoph Nußbaumeder, geboren 1978 in Niederbayern, lebt seit 1999 in Berlin, er spielt seit 2006 im Mittelfeld der Autorennationalmannschaft und ist seit einigen Jahren ihr Kapitän. Nußbaumeder ist vor allem als Dramatiker sozialkritischer Theaterstücke bekannt geworden. Diese wurden unter anderen an der Berliner Schaubühne, am Schauspiel Köln oder am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt. Seit dem Beginn seiner Dramatiker-Laufbahn besteht zudem eine beständige Arbeitsbeziehung zu Theatern im Ruhrgebiet, hier werden regelmäßig Stücke von ihm bei den Ruhrfestspielen und am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt. Hase gibt es nicht wirklich, aber es hätte ihn geben können, das Quasivorbild heißt "Halla", geboren 1954 in Bünde/Ostwestfalen, gestorben 2014 in Berlin. Ihm ist der Text gewidmet. Nußbaumeders Moment für die Ewigkeit: „Letzten Sommer spielten wir in einer Favela in Rio de Janeiro, die gesamte Kulisse war umwerfend, die Zustände waren chaotisch und konfus, aber die Atmosphäre war unglaublich lebendig, eine Art Klein-Signal-Iduna-Park auf brasilianische Verhältnisse gemünzt.“  

    

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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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