Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Jochen Schmidt über das Spiel Borussia Dortmund gegen den VfL Wolfsburg (17.12.2014).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Ein Zimtwuppizipfel zuviel

Mit 100 Minuten Verspätung erreichen wir Hamm, die Stadt, die vor allem dafür bekannt ist, daß hier Züge geteilt werden. Wir vertreiben uns die Zeit mit Witzen: "Was ist weiß und fliegt durch die Luft? Die Biene Majo." Wir sind eben Schriftsteller, Wortspiele sind unser Lebenselixier. Endlich in Dortmund sehen wir uns die Stadt an. Angeblich gibt es ja hier bei H&M Grubenlampen, und die Kirchen sehen aus wie Bergwerksschächte.

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Dortmund, Kanalhafen. Auch im Stadion sollte es heute um Punkte gehen.

Dann sitzen wir im Stadion in der VIP-Lounge, gemeinsam mit 4000 anderen VIPs. Es gibt Kabeljau mit Spinat, Gans, Klöße, Currywurst, Waffeln mit heißen Früchten und Sahne, der Kellner bringt ungefragt Getränke. Als Ostler setzen mich Umsonstangebote immer unter Druck, ich kann das überhaupt nicht genießen, sondern bekomme Panik, weil ich nicht alles schaffen werde. Man müßte für ein Jahr im Voraus essen können, das hat die Natur schlecht eingerichtet. Hätte ich heute morgen bloß nicht gefrühstückt. Und gestern das Abendbrot hätte auch nicht unbedingt sein müssen. Und den Zimtwuppi mit Zipfel von Kamps bereue ich jetzt auch. An jeder Tür stehen hübsche Hostessen und lächeln einen auf eine Art an, die unmöglich nur professionell gemeint sein kann. Wobei die Tatsache, daß sie alle so hübsch sind auch der Cheerleader-Effekt sein kann: wenn Frauen zu zahlreich auftreten, verliert man die Übersicht und findet alle gleich hübsch.

Und von hier oben guckt man sich das Spiel an? Wie durch die Fenster eines Ozeandampfers? Ach nein, es gibt auch Türen nach draußen, wo im Stadion die Fans schon ihre Plätze eingenommen haben, um für die berühmte Stimmung zu sorgen. Ob die alle bei Thyssen arbeiten? Der Hauptsponsor ist aber Evonik, wir rätseln, was die wohl herstellen. Man klärt mich auf, daß es Spezialchemikalien sind, unter anderem "Superabsorber", die Kügelchen, die in den Windeln sind, damit die sich vollsaugen. Das erinnert  mich daran, daß ich einen 13 Monate alten Sohn habe, den ich gern Friedrich genannt hätte, was meine Freundin verhindert hat. Wenn sie nicht da ist, nenne ich ihn trotzdem Friedrich. Ich finde es lustig, mir sein Gesicht vorzustellen, wenn er das erste mal durch die Friedrichstraße läuft. Friedrich schafft es jedenfalls manchmal, seine Windeln so vollzumachen, dass auch die Superabsorber überfordert sind.

Der Sponsor meines Lieblingsvereins war ja die Staatssicherheit. Na und? Dafür bin ich zehnmal hintereinander Meister geworden.

Wir suchen unsere Plätze auf, und Sokratis kommt uns entgegen. Bei welchem Club sitzt schon Sokratis auf der Tribüne? Er ist zur Zeit am Wadenbein verletzt.

Ich leide ja unter einer Abkürzungsschwäche, für mich bedeuten viele Abkürzungen noch, was sie in meiner Kindheit im Osten bedeutet haben. LPG ist für mich kein Liquified Petroleum Gas, sondern eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, DDR ist kein "double data rate"-Speicher für den Computer und BVB sind die Berliner Verkehrsbetriebe. Das hat mich als Kind irritiert, daß die nebenbei einen Fußballverein im Westen betrieben. Ich fand auch, daß "Borussia" irgendwie verboten klang, wir durften ja nicht "Russen" sagen, bei uns hießen sie "die Freunde". Aber die Farben waren mir natürlich sympathisch, wegen der Biene Majo.

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BVB – Berliner Verkehrsbetriebe

Jetzt wird von Fachkräften der Rasen vertikuliert.

Jetzt wird von Van Halen "Jump" gespielt und dazu die Aufstellung verlesen. Beim Torwart stockt der Sprecher kurz und guckt nochmal nach.

Jetzt betritt Schmelzer den Rasen, der andere Ostler im Stadion, den beobachte ich immer besonders aufmerksam, weil ja an seiner Stelle auch ich stehen könnte, sozusagen.

Bei Pierre-Emerick Aubameyang kann man nur hoffen, daß nicht so viele Dortmunder ihren Kindern diesen Vornamen geben. "Ente" merkt sich doch besser.

Warum heißt das Stadion eigentlich nach einer Zahnpasta? "Morgens Signal, abends Iduna", oder ging der Spruch anders?

Ich muß dauernd aufs Klo, wegen der VIP-Biere, Windeln wären jetzt nicht schlecht.

80000 Menschen kommen gucken, was die da unten machen. Dabei finde ich es viel bemerkenswerter, daß Friedrich mit 11 Monaten schon laufen konnte. Wenn man das sieht, davon kann man nie genug bekommen.

Wo ist eigentlich der Wolfsburg-Fanblock? Wahrscheinlich in Hamm im falschen Zugteil gesessen.

Eigentlich müßte man als VIP auch auf den Rasen dürfen, während sie spielen, dann würde man wenigstens etwas sehen. Man kann ja nur froh sein, daß sie da unten nicht Billard spielen.

Auf der Bande steht jetzt "Sparda". Seltsamer Westen: "Duschdas", "Nimm 2", "Wash&Go", "Sparda", immer diese Befehle im Markennamen. Nicht sehr demokratisch. Duschdas erklärt sich ja noch von selbst, aber Adidas? "Addieredas" würde eher Sinn ergeben.

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Dortmund, Schleswiger Straße. Leider hatte ich schon einen Verlag.

Es steht 2:2, bei uns würde es jetzt heißen: "Letztes Tor entscheidet!" Aber nicht hier, sie brechen einfach ab, bevor es dunkel ist. Wie kommt die Mannschaft wieder in die Erfolgsspur? Meine Nachbarin will mich ja zu einer Blutegeltherapie überreden, weil das angeblich gut fürs Knie ist. Die Wirkstoffe im Egelspeichel haben eine entkrampfende Wirkung. Man sollte nichts unversucht lassen. Meine Nachbarin behauptet auch, sie könne bei den Profis, wenn sie ihre Hemden ausziehen, Schröpfspuren auf dem Rücken erkennen.

Im Hotel fällt mir auf, daß ich immer noch mein VIP-Armband umhabe, beim Versuch, es abzumachen, zieht es sich immer fester um mein Handgelenk und schnürt das Blut ab. Ich bekomme Panik und beiße es durch, Faser für Faser, wie eine Geisel, die kurz unbeobachtet ist. (Auf dem Bett liegt ein Gute-Nacht-Tuch: "Entnehmen Sie dem Sachet das getränkte Tuch und breiten Sie es vor dem Schlafengehen in Bettnähe aus. Sie schaffen hierdurch eine wohlriechende Schlafumgebung." Das kann ich ja mit nach Hause nehmen, habe ich endlich ein Weihnachtsgeschenk für meine Freundin.)

von Jochen Schmidt

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Jochen Schmidt

Jochen Schmidt wurde 1970 in Ost-Berlin geboren, wo er immer noch lebt. Er studierte Romanistik in Berlin und Brest. 1999 gründete er die Leseshow "Chaussee der Enthusiasten", bei der er seitdem wöchentlich auftritt, mit Texten, die unterhalten und nutzen wollen. Wichtige Veröffentlichungen waren "Schmidt liest Proust", "Meine wichtigsten Körperfunktionen" (Erzählungen), "Schneckenmühle" (Roman). 2004 erhielt er den Förderpreis zum Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor. Sein Moment für die Ewigkeit: In dem Moment, als er am 23.11.2013 die Krankenhausdrehtür verließ, um sich eine Fußballkneipe zu suchen und das Spiel Borussia Dortmund gegen Bayern München zu sehen, klingelte sein Telefon, und es hieß, die Wehen hätten eingesetzt. 90 Minuten später, saugte Friedrich an seinem kleinen Finger, und die Saison hatte ihren ersten Höhepunkt. Wie das Spiel ausgegangen ist, hat er bis heute nicht erfahren, er hatte seitdem noch keine Zeit, sich zu erkundigen.

    

Evonik Industries
Evonik Industries

Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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