Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Matthias Sachau über das Spiel Borussia Dortmund gegen den FC Augsburg (04.02.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Keine Pointe

Was?
Was kann man über diesen Abend schreiben? Über britische Fans, die zu tausenden zu den Spielen des BVB pilgern, weil die Stimmung hier noch echt ist und die Plätze bezahlbar sind, so wie ich es vorher auf dem Notizblock hatte? Über Brian Laird aus Glasgow, der vor 13 Jahren wegen des BVB nach Dortmund zog und seitdem mit seinem Schottenrock in der Gelben Wand steht?
Nicht nach diesem Spiel.
Umschwenken? Über eine Mannschaft schreiben, die kämpft, kämpft, kämpft, aber kein Rezept mehr findet, zu gewinnen, sich aus der unfassbaren Krise befreien? Haben andere schon getan. Fachkundig, wortgewaltig und in allen Details.
Einen lustigen Aspekt an der Sache finden? So wie ich es als Autor von Comedy-Romanen mit Vorliebe tue? Ich sehe keinen. Und selbst wenn, es wäre nicht angemessen. Ich sah Leute, deren schwarzgelbe Herzen sogar noch durch den Anorak leuchteten, die aber trotzdem lange vor Spielende „Das war’s jetzt“ sagten. Und eine Gelbe Wand, die ihre Mannschaft – wenn auch nur ganz kurz – auspfiff. Keine Pointe.

Fangen wir deswegen anders an. Mit „You’ll never walk alone“. Ganz ehrlich, mit 80.000 Menschen dieses Lied zu singen, wäre für mich schon allein Grund genug, jederzeit in dieses Stadion zu gehen. Brian Laird, der schwarzgelbe Schotte, war oft in der Anfield Road. „Nicht einmal dort singen sie es so wie hier“ sagt er. Nicht einmal in der Anfield Road? Er hat es wirklich gesagt. Ich war noch nie dort, aber ich glaube ihm. Und mehr noch, ich bin überzeugt, so, wie wir heute dieses Lied gesungen haben, hätte es notfalls sogar die Macht gehabt, einen Krieg zu beenden. Keine Pointe.

Und machen wir mit Brian weiter. Er lächelt. Seit er im Stadion ist, lächelt er, niemand kann übersehen, wie glücklich es ihn macht, hier zu sein.
Und Brian lächelt auch nach dem Spiel.
„Viele haben gepfiffen. Was soll ich sagen? Sie haben Recht. Ich hab’ aber nicht gepfiffen. Das bringt nichts.“ Ich schaue ihm in die Augen. Ja, klar ist er traurig über die Niederlage, den Tabellenplatz, die Situation, alles. Wie jeder. Ohne Zweifel ist einer der trostlosesten Abende seines BVB-Lebens über ihn hereingebrochen. Doch so verrückt es klingt, er ist kein bisschen weniger glücklich hier zu sein, als vor dem Spiel. Anders kann man sein Gesicht nicht erklären. Er lächelt. Keine Pointe.

Finden wir zum Schluss. Die Pfiffe verhallen und werden von einem wütenden „Wir woll’n euch kämpfen sehn“ abgelöst. Wie es sich für die Gelbe Wand gehört. Aber wenn man die Ohren ganz weit aufmacht, hört man immer noch das knapp zwei Stunden alte „You’ll never walk alone“ über allem nachhallen. Das Lied, dessen Text vielleicht gerade viel besser passt.

„Walk on through the wind, walk on through the rain,
Tough your dreams be tossed and blown.“
...
Will jemand weg?
Keiner?
Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt. Keiner weiß, wann diese finstere Nacht endet. Noch nicht einmal, dass sie überhaupt enden wird, ist hundert Prozent sicher.
...
Immer noch keiner?
Geht es euch wie Brian? Seid ihr glücklich, hier zu sein? An eurem Platz, mit euren Leuten, nicht allein zu sein, egal was passiert ist und was auch immer passieren mag?
Dies war der Tag, an dem Udo Lattek starb. Und Tobi aus Block 13, um den seine Freunde für alle Welt sichtbar trauerten. Das Herz des BVB schlägt. Laut. Vielleicht so laut wie noch nie. Keine Pointe.

von Matthias Sachau

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Matthias Sachau

Matthias Sachau lebt in Berlin. Nach einem kurzen Berufsleben als Architekt fand er heraus, dass Schreiben viel einfacher ist. Er verfasste daraufhin ein halbes Dutzend Comedy-Romane, u.a. „Kaltduscher“ und „Wir tun es für Geld“ (alle im Ullstein Verlag erschienen). Einige davon schafften es auf die Spiegel Bestsellerliste, und „Wir tun es für Geld“ wurde 2014 für die ARD verfilmt. Weihnachten 2015 erscheint Sachaus erster Fantasy-Roman „Das Geheimnis von Tylandor“ bei dtv junior. In der Autorennationalmannschaft nimmt der Fußball-Autodidakt dankbar alle Positionen ein, die ihm zugewiesen werden, und hält durch, so lange die Luft reicht. Sein Moment für die Ewigkeit: Wie er einmal im Bus von São Paulo nach Rio mit Jimmy Hartwig über Paul Breitner diskutierte.

    

Evonik Industries
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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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