Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Moritz Rinke über das Spiel Borussia Dortmund gegen Werder Bremen (23.05.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider. Der Text ist fiktiv.)

Das himmlische Loch

Ein fiktionales Mini-Drama für Jürgen Klopp zum Abschied

Gerade hat der Trainer seine große Nummer 5 ausgewechselt, da ging er, der große Kapitän, der Kehl, der Kehli, und das ganze Stadion applaudierte, jubelte, weinte. Doch was macht der Trainer dann? Starrt in die weinende Wand. Die Bremer kommen noch mal mit Fin Bartels über rechts, doch Klopp, der Trainer, starrt immer noch in die weinende Wand. Läuft auf sie zu. Steigt über den Zaun. Betrachtet die Wand. Ja, was macht er denn?, er tastet sie ab. Rechts, schwarz, links, gelb, oben, unten, schwarzgelb, er legt die Pöhlerkappe ab, Stirn an die Wand, da ist doch was! Und dann? Es ist die 87. Minute! Klopp dreht sich noch einmal um,legt den Finger auf den Mund  und sagt: 

KLOPP: Pssst! Da ist ein Loch in der Wand.

Der ganze Signal Iduna Park ist plötzlich still, sogar die Wand. Klopp sieht durch´s Loch.

KLOPP: Ich sehe den Himmel. Engel. Hans Tilkowski. Lothar Emmerich. Die berühmte Bogenlampe von Libuda. Schwarzgelbe Wolken. Fliegende Pokale. Völlig irre!

Klopp spricht durch´s Loch in der Wand.

KLOPP: Hallo?

STIMME: Hallo ...

KLOPP: Oh, wer spricht?!

STIMME: Ich bin´s. Zebec.

KLOPP: Zebec??

ZEBEC: Branko Zebec. Ich war hier auch mal Trainer.

KLOPP: Branko Zebec! Bist du hier nicht mal betrunken von der Bank gefallen?

ZEBEC: Ich glaube. Davor habe ich aber die Raumdeckung erfunden. Bin nun schon hinter der Wand.

KLOPP: Wahnsinn! Der Zebec!

ZEBEC: Schau dich um. Werder Bremen wittert noch eine Chance. Noch steht es 3:2. Achtung vor den Freistößen.

KLOPP: Ja, die Standards. Die Bremer spielen ein 4-1-4-1. Die Raute zieht meine Defensive ins Mittelfeld, dann kommt der vertikale Pass. Ich reagiere mit dem Tannenbaum: 4-3-2-1.

ZEBEC: Aha. Es ist schön, mal wieder fachzusimpeln. Warum hast du keinen Vorstopper?

KLOPP: Gibt´s nicht mehr, Zebec. Ich hab die Doppelsechs, meist aber verletzt. Dahinter Hummels.

ZEBEC: Ich hatte Schwarzenbeck, dahinter Beckenbauer. In Dortmund hatte ich Lothar Huber, dahinter Rüssmann, die waren nie verletzt.

KLOPP: Heute hast du ein ganz anderes Tempo, Zebec. Vollgas, Branko. Schau dir Aubameyang an, beim 2:0, der war schneller als sein Auto.

ZEBEC: Wir sind auch gut gelaufen. Bei mir mussten die Spieler stundenlang auf der Tartanbahn laufen. Ich habe meine Hand in  Kieselsteine gesteckt und dann pro Kieselstein eine Runde. Bis die Hand leer war. Dauerte oft bis in den Abend.

KLOPP: Irre! Du warst wahnsinnig.

ZEBEC: Ich war ein harter Hund, wir sind alle wahnsinnig.Bestrafst du die Spieler?

KLOPP: Wenig. Zur Kehli-Party heute Abend schreibe ich allen eine SMS! „Wer morgen beim Training nach Alkohol riecht, ist für das Finale raus!“ Dazu ein Smiley. J

ZEBEC: Ach, mal so´n Tropfen ...

KLOPP: Schon klar, du Fernet Branko …

ZEBEC: Ich war ein harter Hund. Deinen Verteidiger hätte ich für das erste Gegentor bestraft. Gelsenkirchen oder Sibirien. Oder ein Candle-Light-Dinner mit Matthias Sammer! (Lacht) Scherz beiseite. Dein Verteidiger hat sich von Öztunali, dem Enkel von Uwe Seeler, ausspielen lassen. Was ist das überhaupt für eine tolle Welt, in der der Enkel von Uwe Seeler Öztunali heißt?

KLOPP: Mach mal halblang, Zebec. Würde ich alle Spieler für diese Saison bestrafen, dann hätte ich überhaupt keinen mehr gehabt. Schau dir Mkhitaryan an. Trifft gegen Real Madrid das leere Tor nicht, war aber heute wieder genial! Hast du von deiner Wolke aus das 3:1 gesehen, Zebec?, das war Micki Messi, geil gelupft, und hol mal vorher so´n Ball runter aus der Luft.

ZEBEC: Schön, mal wieder fachzusimpeln! (Er spricht vor sich hin). 4-1-4-1 Raute. 4-3-2-1 Tannenbaum …

Aus dem Loch der Wand hört man plötzlich eine mächtige Stimme dazwischen rufen.

GOTT: Blatter!

KLOPP: Was war denn das?

ZEBEC: Gott.

Klopp dreht sich plötzlich um und schreit von der Wand aus mit gefletschten Zähnen den Außenverteidiger Durm an, der wieder viel zu offensiv Fin Bartels laufen lässt.

ZEBEC: Übst du Mimik und Gestik vor dem Spiegel?

KLOPP: Seit 34 Spieltagen flipp ich aus, das ging schon nach 9 Sekunden gegen Leverkusen los. Ich hatte noch nicht mal auf´s Spielfeld geguckt, da stand´s schon 0:1. Nach neun Sekunden! So schnell kann man nicht mal Pipi machen! Mensch, Zebec, manchmal dacht´ ich, ich fall auch von der Bank wie du ... Gegen Hannover zuhause: 0:1! Gegen Augsburg zuhause: 0:1! Sogar gegen den HSV zuhause: 0:1, da wirst du irre, sogar bei der Hertha: 0:1. Du weißt, du hast die bessere Mannschaft, aber am Ende heißt es immer: 0:1, da kannst du dich dumm und dämlich analysieren, Pressing und Gegenpressing, vergiss es, wenn alle mentale Probleme haben ...

ZEBEC: Früher war alles besser, da hatte niemand mentale Probleme.  

KLOPP: Tja, sagen die Experten, dann muss man halt in der Defensive Zeichen setzen, Herr Klopp ... Ha! Mit wem denn?! Manchmal standen wir mit fünf Feldspielern und drei Torhütern beim Training, da kannst du dann auch nicht mehr rotieren, lach!

ZEBEC: Früher war alles besser, da wurde gar nicht rotiert.

Schlusspfiff! Schiedsrichter Gräfe pfeift ab. 3:2 für Dortmund.

KLOPP: Wahnsinn, Zebec! Weihnachten waren wir Siebzehnter und jetzt das!! Siebter!!

ZEBEC: Ich war hier auch Siebter! Saison 80/81. 3:2 gegen Bochum. Europa-Cup!

KLOPP: Euro-League!!!! Immerhin, Zebec, Immerhin!!

ZEBEC: Wir beide Siebter. Ach, schön, mal wieder fachzusimpeln.

KLOPP: Zebec, was hier für eine Stimmung ist!

ZEBEC: Ich soll dir gerade von Gott sagen, dass ihr das Pokalfinale gewinnt. Ihr werdet das Wasser der Saison in Wein verwandeln!

KLOPP: Echt? Gott mag uns? Gott ist schwarzgelb?

ZEBEC: Gott ist rund. Wir sehen alles zusammen. Auch die Relegation.

KLOPP: Irre. Gott schaut die Relegation? Wahnsinn. Was du mir hier für Sachen erzählst ... (Klopp schaut sich im Stadion um) Schau mal, was hier los ist, Zebec! Schau durch´s Loch, was hier auf der anderen Seite los ist, Zebec!

Die Wand besingt, nachdem sie Kehl besungen hat, nun auch Klopp.

KLOPP: Wie sie singen! Oh, mein Gott, wie sie singen ... Bin ich im Himmel?

ZEBEC: Noch nicht, Kloppo, noch nicht.

KLOPP: Oh, wie sie singen ...

ZEBEC: Das sind noch echte Schlachtenbummler, Kloppo. In der Welt, in der ihr lebt, sind wahre Schlachtenbummler selten. Man muss sie schützen! Lasst euch das vom alten Zebec hinter der Wand sagen.

KLOPP: Ach, Zebec, und wenn ich denen, die singen, die Dauerkarte persönlich kaufe bis an mein Lebensende ... Oh, Zebec ...

Mittlerweile läuft ein Video, in dem sich Jürgen Klopp vom ganzen Stadion verabschiedet. Klopp steht vor dem Loch in der Wand und sieht sich selbst zu. Fünf Minuten. Leichter Nieselregen.

ZEBEC: Ergreifend. Du hast schwer geatmet. Manchmal wiederholst du dich ...

KLOPP: Wahnsinn ... Wahnsinn ... Sie singen wieder ...

Er tritt plötzlich etwas von dem himmlischen Loch weg.

KLOPP: Lebewohl, Zebec.

ZEBEC: Wohin gehst du?

KLOPP: Ich weiß es und weiß es im selben Moment auch nicht.

ZEBEC: Manchmal bist du richtig philosophisch.

KLOPP: Ich gehe nun. Wohin ich auch gehe, am Ende bin ich hinter dieser Wand wie du.

ZEBEC: Mach´s gut. Bis dann, ich mag dich. Adieu. Viel Glück in Berlin! Der Pokal hat eigene Gesetze.

KLOPP: Tschüss. Ich hoffe, wie sehen uns auf dem Borsigplatz.

ZEBEC: Ja, ich komm zum Borsigplatz. Vielleicht mit Gott.

KLOPP: Tschüss. Ich gehe jetzt ...

Er bleibt noch eine Weile stehen. Er weint.

von Moritz Rinke

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Moritz Rinke

Moritz Rinke zählt zu den bedeutendsten Dramatikern seines Landes. Seine Stücke wurden mehrmals verfilmt, wie zum Beispiel „Republik Vineta". Rinkes erste Arbeit für den Film („September“), in dem er als Schauspieler debütierte, wurde 2003 zu den Internationalen Filmfestspielen nach Cannes eingeladen. 2010 erschien sein erster Roman-Bestseller „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“, 2012 das Fußball-Buch „Also sprach Metzelder zu Mertesacker“. Rinke ist Stürmer der DFB-Autorennationalmannschaft. Sein Moment für die Ewigkeit: Wie er bei einem Spiel am Millerntor auf St. Pauli plötzlich mitten im Aufwärmprogramm quer über den Rasen zum Gästeblock lief, weil er im Publikum seine künftige Frau entdeckte. Das war schöner als alle Tore der gesamten Laufbahn, die beim FC Worpswede begann und in der A-Jugend bei Werder Bremen endete. 

     

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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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