Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Nils Straatmann über das DFB-Pokal-Spiel Bayern München gegen Borussia Dortmund (28.04.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Heute soll es wieder so sein

Das Gefühl, wenn der Jubel erklingt.
Wenn sie alle aufstehen.

Ich bin in Bremen aufgewachsen, in Bremen-Nord. Da, wo der Belag der Straßen so löchrig ist wie ein alter Hut. Es hat hier mal eine Werft gegeben. Als die Werft starb, starb der Stadtteil mit. Das, was geblieben ist, ist das, was noch Halt gibt: der Fußball. SAV gegen BSV, Freund gegen Feind, da weiß man, was man hat. Und natürlich: grün-weiß.

Wenn sie alle aufstehen.
Ich kann dann häufig nicht anders.

Mein Kumpel Alex ist Borusse. Seit der großen Zeit unter Hitzfeld, seit Scala, Skibbe, Lattek.

Alex ist ein ruhiger Mensch. Wenn er spricht, spricht er leise, aber eindringlich. Ein bisschen wie ein Bachlauf. Er ist groß und hager, eine Zeit lang hat er als Statistiker für Sportdatenerhebungen gearbeitet. Pässe gezählt, Laufkilometer, das alles. Er kennt sichaus. Er studiert Skandinavistik. Man merkt das. Manchmal wirkt er wie eine Mensch gewordene Schäre.

Das Gefühl, wenn der Jubel erklingt.
Wenn sie alle aufstehen und gemeinsam singen. Mir schnürt es dann immer die Kehle zu.

Als Frank Rost für Werder Bremen im DFB-Pokalfinale den entscheidenden Elfer gegen Lothar Matthäus hielt, habe ich geweint. „Rost, Rost, Rost, Rost, Rost“, habe ich immer wieder geflüstert und dabei geweint. Weil ich zehn war und weil Frank Rost gezeigt hatte, dass im Leben wie im Pokal alles möglich ist.

Heute soll es wieder so sein.

Mitch Langerak ist Frank Rost, Mario Götze ist Lothar Matthäus, denn dem Gefühl des Jubels kann sich niemand entziehen. Wenn sie alle um dich herum aufstehen und singen und inbrünstig und laut und ohne jede Scham lieben. 

Es ist das Gefühl, für einen kurzen Moment auf dem Platz zu stehen. Die Stimme, die Lunge der Mannschaft zu sein. Das, was einem die Politik immer vorgaukelt. Als ob man allein den Ausschlag geben könne.

„Schmelzer!“, schreit ein Mann neben mir. „Junge, lauf!“
Und Schmelzer hört auf ihn. Er läuft.

„Schiri! Der Guardiola schon wieder! Dass dem keiner was sagt! Schon wieder einen Meter aus der Zone! Wo sind wir denn hier? Jetzt steht der auf dem Feld!  - Shinji! Steck ihn durch!“
Doch Shinji hört nicht. Vielleicht ist es sein Deutsch. Fehlpass, langer Konterball, Lewandowski, Pfosten, dann spitzer Winkel, Lewandowski  - Tor.

Links neben mir eine erste Zigarette.

„Ja, kann der jetzt mal den Freistoß schießen, hey?“

In besonderen Fällen der Frustration wechselt das Individuum von der zweiten in die dritte Person Singular. Dann kehrt der Gesang zurück.

„…wollen Borussia // wollen Borussia // wollen Borussia // siegen seh’n
Oh wie wär das // oh wie wär das // oh wie wär das // wär das schön“
„So wie Werder // So wie Werder // So wie Werder // wär das schön“, singe ich im Kopf mit und hoffe.

In der Pause viel Smartphonedings, eine zweite Zigarette auf links.

Kurz darauf folgender Dialog:
„Hey! Müller, du Arschloch! … Ach nee, war gar nicht Müller.“
„Nee.“
„Wer war’n das?“
„Der Weiser.“
„Ach, der is auch ‘n Arsch.“

In gewissen Phasen der Frustration muss sich das Individuum durch Flüche Luft machen.

Dazwischen Alex: „Der Weiser hat jetzt schon den siebten Diagonalball einfach so runterpflücken können und wird nie dabei behindert! Und der Gündogan spult auch nur seine Durchschnittsanzahl an Kilometern ab - prozentual gesehen…“

Dritte Zigarette auf links.

Dann, wie aus dem nichts: Flanke Kuba halblinks in den Sechzehner, Querpass ins Zentrum, Aubameyang aus spitzem Winkel, Neuer noch mit den Fäusten, doch, doch … – Tor. Viel schneller als wir gucken können.  Tor sagt der Schiedsrichter, sagt Sky, sagen Tausende um mich herum, die jubeln und springen.

Verlängerung.

„Also, nach Chancen müsste Dortmund eigentlich..“
„Ja, gut, aber..“
„BVBeehee!“

Vierte Zigarette.

114. Gelb-rote Karte Kampl.
115. Glanzparade Langerak.
118. Die Bayern, lautstark, stehen auf. Die Dortmunder haben nie gesessen.

Kurz vor dem Elfmeterschießen höre ich Alex, wie er vor Aufregung alle Passquoten und Laufkilometer der BVB-Spieler allein und gemeinsam hinunterrattert. Plus Zeugwart. Plus Klopp. Schließlich die Elfmeterstatistiken der Bayern. Der Zettel in Mitchs Stutzen.

„Also statistisch gesehen müsste er jetzt ausrutschen…“
„Der auch…“

Und dann wird es laut um mich. Tausend Arme und Körper, die durch die Luft fliegen. Die sich um- und aneinander drücken. Ein Glanz in den Augen, als hätte man einen alten Verwandten wiedergefunden. Während man sich anbrüllt, mit Tränen in den Augen. Weil die dort unten mal wieder gezeigt haben, dass im Leben wie im Pokal alles möglich ist. 

Das Gefühl, wenn der Jubel erklingt.
Wenn sie alle aufstehen.
Ich kann dann häufig nicht anders.
Als beinahe schon alles vorbei ist, kommt ein einzelner Mann mit gelber Mütze vor die Kurve gelaufen und stemmt seine Fäuste in die Luft. Ich meine, ich kann ihn singen hören.

„…oh wie wär das, oh wie wär das, oh wie wär das, wär das schön.“

Ich singe im Kopf mit.

von Nils Straatmann

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Nils Straatmann

Nils Straatmann, in Geesthacht bei Hamburg geboren, ist wahrscheinlich der einzige Mensch, der es geschafft hat, in zwei aufeinanderfolgenden Jahren erst Deutscher Meister im Fußball (2007 mit der Bremer U19-Auswahl  in Duisburg) und dann im Gedichteschreiben (2008 bei den deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften in Zürich) zu werden. Mit seinen Slam-Texten ist er im gesamten deutschsprachigen Europa unterwegs; im April dieses Jahres erschien sein Reisebuch „Wo die Kartoffeln auf Bäumen wachsen“ (Malik Verlag). Straatmann studiert und lebt in Leipzig, dort ist er unter anderem Stadionsprecher für die U17 von RB Leipzig. In der Autoren-Nationalmannschaft bearbeitet er die Flügel, links und rechts, wie es gerade muss. Sein Moment für die Ewigkeit: Bereitete für die U17 des FC Union 60 Bremen  bei einem 0:1-Rückstand gegen den HSV in der dritten Minute der Nachspielzeit mit einer Flanke aus der eigenen Hälfte das Tor zum Ausgleich vor und wurde danach unter sehr, sehr vielen Menschen begraben.    
 

    

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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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