Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Thomas Brussig über das Spiel Borussia Dortmund gegen Hertha BSC (09.05.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

„Ich bin ein BVB-Fan im Körper eines Herthaners“

Die Gefühle der BVB-Fans sind in den vergangenen Wochen mal wieder Achterbahn gefahren. Erst die Rücktrittsankündigung von Jürgen Klopp, dann die Nachricht, dass Ilkay Gündogan den Verein verlassen wird. Dazwischen aber lag das Halbfinal-Spektakel von München; auf den unzähligen Monitoren im Stadion präsentiert BVB-TV immer wieder das Elfmeterverschießen, und die Fans auf ihren Smartphones zeigen sich gegenseitig Youtube-Schnipsel. (Mein Favorit: Der Fernsehkommentar wird über Filmchen mit ausrutschenden Tieren gelegt.) In drei Wochen ist das Pokalfinale gegen Wolfsburg (die Partie wird in der kommenden Woche schon mal in der Bundesliga probegespielt), und dann ist eine Saison zu Ende, die für die BVB-Fans Momente der Verzweiflung wie des Ausrastens vor Glück hatte.

Doch heute ist Liga-Alltag angesagt, wie er grauer nicht daherkommen könnte. Der Neunte empfängt den Dreizehnten. Und dieser Dreizehnte ist die Hertha. Im Boxen gibt es sogenannte „Stinker“. Das sind eher mittelmäßige Kämpfer, die es aber zuverlässig schaffen, ihre Gegner nicht gut aussehen zu lassen. Man tut meiner Hertha nicht unrecht, wenn man sie als „Stinker der Bundesliga“ bezeichnet. Die Spielphilosophie der Hertha lässt sich am besten mit „Nicht schön, aber erfolglos“ beschreiben, und wo auch immer sich der Grottenkick des Wochenendes abspielt – meist ist die Hertha verwickelt.

Für den BVB ist die Hertha allerdings so was wie ein Angstgegner, denn die letzten beiden Heimspiele gegen sie gingen verloren. Wenn man obendrein noch weiß, dass die Hertha dann am besten spielt, wenn es um nichts geht, gibt es heute einen klaren Favoriten, und der heißt Hertha BSC.

Doch schon nach ein paar Minuten gibt es Eckball für den BVB, Mats Hummels kommt frei zum Kopfball und setzt das Ding daneben. Und als es kurz darauf einen Eckball von der anderen Seite gibt, darf auch Neven Subotic unbedrängt köpfen – und seiner geht rein. Ich erkenne meine Hertha nicht wieder: Spielt so ein Stinker? Können die nicht mal mehr 'nen ordentlichen Beton anrühren?

Kurz nach dem Wiederanpfiff fällt das zweite Tor. Hertha bleibt harmlos, ist aber auch kein richtiger Stinker. Es gibt immerhin ein paar Spielzüge, auf beiden Seiten. Aber es gibt weder umstrittene, noch kuriose, noch spektakuläre Szenen. Dortmund glänzt nicht, und Hertha blamiert sich nicht. Dem Spiel fehlt so ziemlich alles, was ich am Fußball liebe. Es ist nicht die Bohne spannend. Und so gerate ich in einen Zustand, wie ich ihn sonst nur im Theater erlebe, wo die Gedanken nicht vom Geschehen umklammert werden, sondern in Sichtweite zu ihm auf Wanderschaft gehen.

Gegenüber lebt die Südtribüne, die legendäre Gelbe Wand. Der BVB rühmt sich damit, „die besten Fans der Welt“ zu haben. Aber mal ehrlich – es ist doch keine Kunst, ein BVB-Fan zu sein. Du kriegst Hurrafußball (in Gestalt des Kloppschen „Vollgasfußballs“) geboten, du hast in jeder Saison mindestens 'ne Handvoll Spiele mit einer Wahnsinnsdramatik und glücklichem Ausgang, du siehst jedes Mal fünf Weltmeister. Der Trainer ist obendrein ein begnadeter Entertainer. Und weil jeder ehrliche Fan weiß, dass die wesentlichen und prägenden Fan-Erfahrungen leider Niederlagen sind: Der BVB bietet seinen Fans auch große, schmerzliche Niederlagen.

Als der BVB im Laufe dieser Saison Letzter war, geschah etwas Bemerkenswertes: Die Fans standen zu ihrem Team. Das ist insofern bemerkenswert, da es anderswo (Hamburg, Schalke, Stuttgart, Nürnberg, Frankfurt, Köln und anderswo) bei Krisen immer wieder zu Fanprotesten kommt und ein neuer Präsident/Trainer/Manager/Koch/Busfahrer/Zeugwart gefordert wird. Es macht sich eine Mentalität breit, in der Fans glauben, sie hätten ein verbrieftes Recht auf Siege. Dir gefällt dein Tabellenplatz nicht? Na, dann beschwer dich! Fans mutieren zu einer Klientel, die meint, Ansprüche auf Erfolg und ein emotionsoptimiertes Event stellen können. Dabei ist ein Fan seit je her einer, der sich dem Schicksal ausliefert. Fan sein bedeutet auch, furchtbar ohnmächtig zu sein. Wer das nicht kann, sollte nicht Fan werden.

Die BVB-Fans haben die Durststrecke ihrer Mannschaft mit einer Schicksalsergebenheit hingenommen, die mir imponierte. Sie waren – und ich greife jetzt mal zum höchsten Superlativ, der mir auf die Schnelle zur Verfügung steht – sie waren wie Hertha-Fans. Die verharren seit jeher in einer Duldungsstarre. Sie hoffen auf bessere Zeiten, aber sie singen nie: „Wir ham die Schnauze voll!“ Und dass die BVB-Fans durch die glorreichen Jahre nicht versaut wurden, sondern Niederlagen, Tabellenkeller und Derbypleite unter „Dat is Fußball“ abhaken konnten, fand ich gut. Reifeprüfung bestanden. Du darfst als Fan auf das eigene Team fluchen, du darfst es verwünschen – aber nur für dich, nie mit der Meute.

Als Fan erlebst du dich am stärksten in der Niederlage – aber du lebst für den Sieg. Und das ist für alle Hertha-Fans wiederum der wunde Punkt. Denn den großen Triumph, den einen Titel – den bringt die Hertha ums Verrecken nicht zustande. Es ist langweilig, Titel nach Strichliste zu sammeln. (Ich frage mich, wie all die Bayern- und Real-Fans diese zahllosen Titelgewinne auseinander halten.) Aber als Hertha-Fan gibt es ja nicht mal den Titelgewinn, von dem der Vater dem Sohn erzählen kann. Oder der Großvater dem Enkel. Oder der Urgroßvater dem Urenkel. Und wenn wir schon bei Generationen sind: Wer sind wohl die besten Eltern? Jene, die aus ihren Kindern Jahrgangsbeste, Violinenvirtuosen und Olympiasieger machen – oder jene, die sich heroisch für ein behindertes Kind aufopfern, das auch mit zwanzig immer nur durch Lallen auffällt? Worauf diese rhetorische Frage hinausläuft, ist ja wohl klar: Es ist leicht, ein BVB-Fan zu sein. Aber für Hertha zu schreien, das zeugt von Mumm. Denn was ist Turnvater Luhukay gegen den Vollgasfußball-Erfinder Klopp? Was ein Sandro Wagner gegen einen Marco Reus?

Du kannst auf deinen Verein stolz sein, aber eigentlich nicht auf die Tatsache, ein Fan dieses Vereins zu sein. Denn die Fan-Werdung vollzieht sich bekanntlich ähnlich wie die sexuelle Orientierung: Da kommt etwas über dich, das du nicht beeinflussen kannst. Plötzlich merkst du, dass du Fan von diesen oder jenen bist – und dann musst du ein Leben lang mit den Folgen dieser Entscheidung (die keine Entscheidung ist, denn du hast sie ja nicht willentlich getroffen) leben. Du kannst deinem Verein nicht einfach die Gefolgschaft kündigen. Du kannst deinem Verein nicht den Tritt versetzen. Wenn das ginge, hätte ich das schon längst getan (und wäre zum BVB übergelaufen). Du kannst deinen Verein nicht einfach loslassen, denn er hält an dir fest.

Das heutige Spiel war vergessen, sowie es abgepfiffen war. Kurz vor Ende rief die Gelbe Wand: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“ Weil ich sowieso nach Berlin fahren würde, bin ich tief in der Nacht noch mal aufgebrochen, zu Fuß, vom Hotel zum Borsigplatz. Dorthin, wo Jürgen Klopp „mit gutem Grund“ ein letztes Mal 'ne Runde auf dem schwarzgelben Bus drehen würde. („Borsig“ ist der Name, den ich oft auf an mich gesendeten Briefen finde.)

Die Straße am Borsigplatz war leer, und ich konnte auf ihr gehen, ungefähr so langsam, wie ein Bus braucht, wenn er durch dichtes Gedränge fährt. Dabei stellte ich mir vor, ein BVB-Fan zu sein und in drei Wochen als einer von ihnen unter zehntausenden Team und Trainer zu feiern. Wie das war? Ziemlich lässig.

Kloppo, musst du denn immer recht haben?

von Thomas Brussig

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Thomas Brussig

Thomas Brussig, 50, gilt als der Gründer der deutschen Autoren-Nationalmannschaft. Die von ihm im Jahr 2005 zusammengerufene Mannschaft war aber so stark, dass er allenfalls als Gastgeschenk eingewechselt werden konnte, und so konzentrierte sich der gebürtige Berliner wieder auf sein schriftstellerisches Schaffen (u.a. „Helden wie wir“, „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“). Sein Moment für die Ewigkeit ereignete sich erst vor wenigen Wochen in einer Kneipe, als ein alter Freund nach jahrelangem Wiedersehen meinte, er würde immer, wenn er Ibrahimovic sehe, an ihn, an Brussig, denken. Wie das? Weil er bei einem Spielchen auch mal aus großer Entfernung einen Rückzieher ins leere Tor gehauen habe. (An das Tor hingegen erinnert sich nur leider Brussig nicht.) 

     

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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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