Erzogen zu Demut und Bescheidenheit, beeindruckt Jude Bellingham Fußball-Experten wie -Fans gleichermaßen. Ein kecker Bursche, der auszog aus den Midlands und Westfalen als den perfekten Ort ausmachte, um sich weiterzubilden. Nach märchenhaften ersten 18 Monaten bei Borussia Dortmund sagt der 18-Jährige: „Der BVB ist der beste Klub für mich und meine Entwicklung. Ich würde sogar sagen: Für mich gibt es auf der ganzen Welt keinen besseren!“

Manchmal merkt man schon noch, dass er gerade 18 ist. Zum Beispiel bei diesem Tor gegen den 1. FC Köln, Ende Oktober im schönsten Stadion der Welt. Am rechten Strafraumeck bekommt Jude Bellingham den Ball und chippt ihn so gefühlvoll in die Mitte, dass Thorgan Hazard nur noch den Kopf hinhalten muss. Beim anschließenden Jubel löst Bellingham sich für einen winzigen Moment aus der Traube der Kollegen. Wie er da die Arme nach oben wirft und das Publikum zum Applaus animiert, zaubert sich ein Grinsen in sein Gesicht, so lausbubenhaft, wie das nur in seiner Altersklasse durchgeht. Dann dreht er sich wieder zurück und feiert weiter.

„Er ist eben immer noch mein Junge“, sagt Denise Bellingham, die stolze Mama, sie hat Jude nach Dortmund begleitet, als der im Sommer 2020 das Abenteuer Dortmund in Angriff nahm. „Jude hat Spaß und kann auch ein bisschen albern sein, er bringt mich zum Lachen.“ Und das ist doch viel wert für einen Teenager, der gar keine Zeit hat, ein Teenager zu sein, weil er es in seinem ersten Bundesligajahr zum Stammspieler, DFB-Pokalsieger, Nationalspieler und Beinahe-Europameister gebracht hat, übrigens als jüngster Spieler, der je bei einer EM-Endrunde gegen den Ball trat. Das war am 13. Juni im Wembley-Stadion bei Englands 1:0-Sieg über Kroatien, 16 Tage vor seinem 18. Geburtstag.

Die spezielle Note dieser ganz und gar nicht alltäglichen Geschichte des Dortmunder Senkrechtstarters ist auch daran zu erkennen, dass sich sein Ausbildungsverein Birmingham City zweierlei ausgedacht hat, um Jude Bellinghams Wirken im St. Andrew‘s Stadium zu würdigen. Erstens wird die Rückennummer 22 dort nicht mehr vergeben, keineswegs selbstverständlich für einen, der gerade ein Jahr für die erste Mannschaft gekickt und sich mit 17 schon wieder verabschiedet hat. Zweitens produzierte City unter dem schönen Titel „The Rise of Jude Bellingham“ eine TV-Dokumentation, die auf Youtube viral geht. In diesem Sinne machte sich der BVB an eine Fortsetzung, sie widmet sich Judes märchenhaftem ersten Jahr und läuft auf Sky. Wir haben für Euch reingeschaut...

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Jude, nach all dem Trubel in der jüngsten Vergangenheit: Was bedeutet der Fußballplatz noch für Dich?

Es ist der wahrscheinlich einzige Ort auf der Welt, wo ich mich rundum wohl fühle. Ich muss dafür gar nicht so viel machen, der Fußball kommt auf ganz natürliche Weise zu mir. Wenn ich den Ball habe, dann suche ich den Wettkampf, das ist für mich die normalste Sache der Welt. Meine Mannschaftskollegen sollen immer sehen, dass ich alles dafür tue, damit wir gewinnen. Wenn wir ein Spiel verlieren, bin ich die schlimmste Person, die man sich nur vorstellen kann. Aber wenn ich nicht auf dem Platz stehe, bin ich ein ganz normaler Mensch, der sich gern entspannt und auf seiner Playstation spielt.

Ein ganz normaler Junge, der mit 17 schon gegen die besten Fußballspieler der Welt gekickt hat und den es gar nicht weiter interessiert, wie viele Millionen Euro er auf dem Transfermarkt wert ist?

Ich kenne die Summe schon, sie war ja überall zu lesen, als ich im vergangenen Sommer nach Dortmund gewechselt bin, und ich kann nur sagen: Das war schon bemerkenswert! Wer gibt schon so viel Geld für einen so jungen Kerl aus, und dann auch noch während der Covid-Pandemie? Ich wusste, dass Dortmund ein großer Klub ist, aber wie groß, das wurde mir erst klar, als ich mein erstes Selfie in dem riesigen und fantastischen Stadion gemacht habe.

Auch wenn es da noch leer war, wie leider in der kompletten vergangenen Saison.

Ja, das war hart. Umso mehr genieße ich es, dass wir jetzt endlich wieder vor diesem fantastischen Publikum spielen dürfen. Ich bin ein leidenschaftlicher Spieler und lebe von der Energie, die mir die Fans geben.

Es gibt in der TV-Dokumentation über den Aufstieg des Jude Bellingham eine anrührende Szene. Sie spielt nach dem Schlusspfiff eines Bundesligaspiels am Rand des Rasens vor dem Zaun, der Spieler und Fans trennt. Jude hat sich ein blondes Bürschlein auf der anderen Seite herausgepickt, es thront auf den Schultern seines Vaters und bekommt das verschwitzte Trikot mit der Nummer 22 um den Hals gelegt. Die beiden plaudern noch ein bisschen, das heißt: Eigentlich redet nur Jude, denn das blonde Bürschlein ist mit seinen vielleicht vier, fünf Jahren viel zu ergriffen davon, was da gerade passiert: Er und Jude Bellingham – das glaubt ihm doch keiner, wenn er davon am Montag im Kindergarten erzählt. Jude will sich gerade in Richtung Kabine verabschieden, da fällt sein Blick auf den Nachbarn des kleinen Blondschopfes, er ist ein bisschen älter und hätte wohl auch ganz gern das Trikot. Jude lächelt, zieht erst die Augen hoch und dann sein gelbes Unterhemd aus und reicht es über den Zaun. „Sssänks“, ruft der Junge in westfälisch eingefärbtem Schulenglisch.

Einer, der früher selbst als Fan von Birmingham City im St. Andrew‘s Stadium gestanden hat, vergisst nicht so schnell, wo er hergekommen ist. Der Kontakt zur Basis ist Jude wichtig, und zwar so authentisch, wie es irgendwie geht. Seinen ersten Satz auf Deutsch hat er schon beim ersten Trainingslager im Sommer 2020 unter den schroffen Gipfeln von Bad Ragaz via BVB-TV an die Fans gerichtet, er ging so: „Bis bald auf dem Rahmen, äh Rasen.“ Da verzieht er das Gesicht, halb im Spaß, aber eben nur halb. Auch beim Erlernen einer neuen und für ihn völlig fremden Sprache treibt ihn der Ehrgeiz an, für den sein Spiel steht.

Jude kommt in seinem ersten Dortmunder Sommer direkt aus dem Spielbetrieb der Championship, der zweithöchsten englischen Liga. Erst am letzten Spieltag hat er mit Birmingham City den Abstieg verhindert. Das bedeutet: keine Sommerpause, aber dafür steht er auch voll im Saft. Gleich im ersten Pflichtspiel gelingt ihm beim 5:0 im Pokal über den MSV Duisburg ein Tor, und wie selbstverständlich steht er auch zum Bundesligaauftakt beim 3:0 gegen die andere Borussia aus Mönchengladbach in der Startaufstellung. Das Führungstor ist eine großartige Kooperation zweier 17-Jähriger, mit Jude Bellingham in der Rolle des Vorbereiters, der perfekt auf den Torschützen Gio Reyna durchsteckt. Bis zur Winterpause ist Jude in allen Wettbewerben gesetzt und fehlt nur in den Bundesligaspielen gegen den 1. FC Köln und eine Mannschaft westlich von Herne. 

Du hast Deine ersten Dortmunder Wochen so souverän absolviert, als wärst Du schon immer hier gewesen. Ist das nur ein äußerlicher Eindruck? Oder war da etwas, das Dir den Einstieg beim BVB besonders leicht gemacht hat?

Ja: dass ich mit so vielen großartigen Spielern auf dem Platz stehen durfte. Mit Leuten wie Mats Hummels oder Marco Reus, da lernst du einfach wahnsinnig viel. Der BVB ist der beste Klub für mich und meine Entwicklung. Ich würde sogar sagen: Für mich gibt es auf der ganzen Welt keinen besseren!

War es im Nachhinein ein Vorteil, dass Du direkt und ohne Pause aus der Championship in die Bundesliga gekommen bist?

Ich denke schon! Ich war körperlich topfit und konnte mich von Anfang an anbieten. Es war mit zunehmender Zeit aber auch ein anstrengendes Jahr, ich hatte meine Höhen und Tiefen. Als dann Weihnachten kam, war ich schon froh, dass ich ein bisschen regenerieren konnte.

Nach der Winterpause verpasst Jude die ersten beiden Spiele gegen Wolfsburg und Leipzig wegen einer Fußverletzung und wird dann im weiteren Saisonverlauf nur noch einmal wegen einer Gelb-Roten Karte aussetzen. Scheinbar unbeeindruckt von den Spielen im Drei-Tage-Rhythmus zieht er sein Spiel durch. Charakteristisch dafür sind die Richtungsänderungen auf engstem Raum und die vielen Balldiebstähle, bevorzugt kurz hinter der Mittellinie, wo es dem Gegner am meisten wehtut.

Jude Bellingham verzaubert den deutschen Fußball, aber seinen ganz persönlichen emotionalen Höhepunkt erlebt er im April auf der Insel, gar nicht so weit entfernt von der alten Heimat. Von Birmingham sind es mit dem Auto gut zwei Stunden bis nach Manchester, wo der BVB im Viertelfinalhinspiel der Champions League bei Pep Guardiolas Manchester City Football Club anzutreten hat. Mark Bellingham ist gekommen, um seinen Ältesten spielen zu sehen. Mark arbeitet als Sergeant bei der West Midlands Police und kümmert sich zu Hause um den jüngeren Sohn Jobe, deswegen hat er Jude schon ein Weilchen nicht mehr auf dem Platz gesehen.

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Was war das für ein Gefühl, vor Deinem Vater in der Champions League gegen die mit lauter Weltstars besetzte Mannschaft von Manchester City zu spielen?

Das war unglaublich! Ich stand da auf dem Platz und habe diese großartigen Spieler gesehen, Kevin De Bruyne, Phil Foden oder Ilkay Gündogan, weiter hinten stand Pep Guardiola. Aber das Wichtigste für mich war, dass mein Dad auf der Tribüne saß. Er hatte mich zuletzt in einem Heimspiel für Birmingham gegen Reading gesehen, das war an seinem Geburtstag, und wir haben verloren.

Seitdem ist einiges passiert.

Oh ja! Ich bin nach Dortmund und habe mich weiterentwickelt. Mir gehen immer noch die Gespräche durch den Kopf, die wir geführt haben, als ich noch ein Kind war. Es ging dabei um junge Spieler, die gerade den Sprung zu den Profis geschafft hatten...

... so wie Du in jener Phase der Saison, als Du mit Deinen 17 Jahren ja schon ein etablierter Bundesligaspieler warst.

Moment! Mein Dad hat dazu in unseren früheren Gesprächen immer gesagt: Geschafft hast Du es, wenn Du 100 Ligaspiele vorweisen kannst. So gesehen habe ich es immer noch nicht geschafft.

Es ist wahrscheinlich diese Erziehung zu Demut und Bescheidenheit, die den Fußballspieler Jude Bellingham bis heute formt. Einen, der nicht ausruhen mag auf dem, was er erreicht hat, sondern sich immer noch in der Rolle des Lernenden sieht. „Jude muss man einfach gernhaben“, sagt Philipp Laux. „Er behandelt alle Menschen gleich mit einer Offenheit und Herzlichkeit, die ich selten so erlebt habe. Und das ist noch gepaart mit einer unglaublichen Fokussierung auf seine Leistung, die er in seinen jungen Jahren auf den Platz bringt. Das ist einfach beeindruckend.“ Philipp Laux weiß, wovon er spricht. Als Dortmunder Team-Psychologe hat er einen schwer zu täuschenden Blick hinter die scheinbare Oberflächlichkeit des Profigeschäfts.

In jenem Champions-League-Spiel im April im Etihad Stadium vor den Augen seines Vaters stibitzt Jude Bellingham Manchester Citys Torhüter Ederson den Ball und erzielt ein einwandfreies Tor, von dem nur der Schiedsrichter weiß, warum es keine Anerkennung findet. Der BVB verliert unglücklich 1:2 und mit eben diesem Ergebnis auch im Rückspiel, als Bellingham das Hoffnung gebende 1:0 erzielt und auch ansonsten ein so großartiges Spiel macht, dass Pep Guardiola später in gelächeltem Furor erklärt: „Ich kann es gar nicht glauben, vielleicht ist er ein Lügner. Er ist so gut für einen 17-Jährigen. Ein fantastischer Spieler.“

Nach dem K.o. gegen City startet der BVB in der Bundesliga zum Ende der Saison noch einmal durch, von Platz fünf mit scheinbar ausweglosen sieben Punkten Rückstand auf die Champions League noch auf Platz drei. Beim ersten der sieben finalen Siege in Serie schießt Jude Bellingham gegen den VfB Stuttgart endlich sein erstes Bundesliga-Tor. Es ist ein typisches Jude-Bellingham-Tor, nach feinem Zusammenspiel mit Mo Dahoud und Gio Reyna legt er den Ball vom Kreidestrich des Strafraums beinahe zärtlich ins kurze Eck. Die Gratulanten werden schnell abgewehrt, denn da ist noch was zu tun. Jude hastet zurück in den Strafraum – bloß nicht den Ball vergessen, dieses unschätzbar wertvolle Erinnerungsstück an die historische Tat. Dabei kommt es zu einem kurzen Handgemenge mit dem nicht ganz so gut gelaunten Hünen im Stuttgarter Tor, einem gewissen Gregor Kobel, aber diese Meinungsverschiedenheit dürften die beiden in der jüngeren Vergangenheit ausgeräumt haben.

Die Erfolgsgeschichte geht jedenfalls weiter. Über den Gewinn des DFB-Pokals im Berliner Pokalfinale gegen Leipzig zur über den ganzen Kontinent verstreuten Europameisterschaft bis ins Finale von Wembley, wo die Engländer ohne Jude Bellingham erst im Finale den Italienern unterliegen.

Bis auf dieses Endspiel hat in dem Jahr alles für Dich gepasst...

Für mich hat alles gepasst, wirklich alles, und es ist so unglaublich schnell gegangen! Es war ein unglaubliches Gefühl, mit England die Europameisterschaft zu spielen. Ich finde auch nicht, dass das verlorene Endspiel wie ein Schatten über allem liegt. Keiner soll vergessen, dass wir ein sehr erfolgreiches Turnier gespielt haben.

Du hattest wie im vergangenen Jahr keine richtige Sommerpause.

Aber es gibt einen ganz entscheidenden Unterschied. Diesmal wusste ich, was mich erwartet, und nach der EM bin ich voller Selbstbewusstsein zurück nach Dortmund gekommen. Ich bin technisch und körperlich stärker geworden, habe mich wirklich in allen Bereichen verbessert.

Wie gut dieser noch bessere Jude Bellingham ist, bekommt die Gegnerschaft wettbewerbsübergreifend zu spüren. Etwa zur Eröffnung der Champions-League-Saison, ausgestaltet mit einem 2:1-Sieg bei Besiktas Istanbul. Das erste Tor schießt er selbst, volley und frech und aus spitzem Winkel dem Torwart durch die Beine, aber so richtig schwierig wird es erst beim zweiten. Als Jude den Ball perfekt dem Kollegen Erling Haaland serviert und dieser nach erfolgreicher Vollendung zur Gratulationscour bittet. Kurzer Anlauf, hochspringen und ein Bodycheck Brust gegen Brust – daran sind schon ganz andere verzweifelt, die sich dem Hünen Haaland in den Weg gestellt haben. Bellingham, der schlaksige Bursche aus Birmingham, nimmt die Herausforderung an und weicht keinen Zentimeter zurück.

Und dann ist da noch das Bundesligaspiel in Bielefeld, es erlebt das bisher schönste Tor des Jude Bellingham in Dortmunder Diensten. Ein Tanz mit sechs Ballberührungen in sieben Sekunden um drei Bielefelder herum, die Vollendung erfolgt weich und elegant mit dem linken Fuß. Es ist dies das Spiel, in dem Mats Hummels den Ball mit einer selten gesehenen Mischung aus Artistik und Urgewalt unter die Latte nagelt. Später erzählt Mats mit gespielter Empörung: „Ich hab‘ zum Jude schon gesagt: Da schieße ich einmal so ein Tor, und er muss im gleichen Spiel noch einen draufsetzen. Fand ich nicht sehr kollegial von ihm!“ Und: „Also, ich muss sagen, ich fand seins fast noch einen Ticken geiler.“

Autor: Sven Goldmann