Sie trotzten allen Widrigkeiten. Sie lebten ihren Traum. Am Ende setzten sie alles auf eine Karte, ließen die Liga links liegen und hatten nur ein Ziel vor Augen: den Einzug ins Finale des bedeutendsten Klub-Wettbewerbs, den es gibt im Fußball. In der Saison 1996/97 ließ sich die Elf von Ottmar Hitzfeld von nichts und niemandem aufhalten.

Borussia Dortmund hatte im Mai 1996 die erfolgreiche Titelverteidigung gefeiert. Der „Meisterschaft der Herzen“ war die „Meisterschaft der Nerven“ gefolgt. Sie bescherte zum zweiten Mal in der Vereinsgeschichte die Zulassung zur UEFA Champions League, die vier Jahre zuvor den Europokal der Landesmeister abgelöst hatte, in der bis dahin (und letztmalig 1996/97) ausschließlich nationale Titelträger Eintritt erhielten. Der Kader hatte in der Sommerpause kaum Veränderungen erfahren. Patrick Berger war zum FC Liverpool gewechselt, in Günter Kutowski und Bodo Schmidt gingen zwei Kämpfer, die nicht nur das Herz am rechten Fleck trugen (und immer noch tragen), sondern auf die stets Verlass war.

Neu dabei waren Libero Wolfgang Feiersinger, Abwehrspieler René Schneider und Mittelfeldmotor Paul Lambert. Als Ersatz für den am Kreuzband operierten Europameister Steffen Freund lotste Manager Michael Meier nach Stefan Reuter (1992), Andreas Möller, Julio César (beide 1994) und Jürgen Kohler (1995) einen fünften Spieler von Juventus Turin zu Borussia Dortmund: Paulo Sousa galt als „Seele“ des Juve-Spiels, als „Seele“ des amtierenden Champions-League-Gewinners. Warum man ihn für kolportierte sieben Millionen D-Mark (umgerechnet rund 3,5 Mio. €) ziehen ließ, dokumentieren diese Zahlen: In seinen anderthalb Jahren beim BVB (bis Dezember 1997) konnte der Portugiese nur insgesamt 42 Spiele (von 80 möglichen) absolvieren, davon wirkte er lediglich 19-mal über die komplette Distanz mit. Im wichtigsten Spiel aber war Sousa voll da!

Als die Auftaktgegner in den Europapokalwettbewerben ausgelost wurden, klagten die meisten deutschen Klubs. Für Pokalsieger Kaiserslautern war Roter Stern Belgrad eine Nummer zu groß, die Bayern scheiterten in der ersten Runde des UEFA-Pokals am FC Valencia, Gladbach hatte es mit Arsenal zu tun (setzte sich aber durch). Nur der HSV (Celtic Glasgow), Schalke (Roda Kerkrade) und Karlsruhe (Rapid Bukarest) waren mit ihrem Los zufrieden – und der BVB. Bei seiner zweiten Teilnahme an der noch jungen UEFA Champions League hatte der Deutsche Meister zwar den spanischen Titelträger Atlético Madrid erwischt, doch Widzew Lodz (Polen) und Steaua Bukarest (Rumänien) galten als schlagbar. Wie im Vorjahr hieß das Ziel Viertelfinale. „Bei Borussia Dortmund wird sich die gesammelte Erfahrung auszahlen“, prophezeite der damalige Gladbacher Manager Rolf Rüssmann, der in den 1980er-Jahren das BVB-Trikot getragen hatte.

Auftakt gegen Lodz

Wenig bis gar nichts deutete allerdings beim 2:1-Auftaktsieg gegen Widzew Lodz darauf hin, dass die Schwarzgelben ihre Reise durch Europa in der Champions-League-Saison 1996/97 mit dem Triumph von München krönen würden. Es war ein zähes Spiel, geprägt von Passfehlern, Krampf und Unzulänglichkeiten. Hitzfelds Ankündigung – „jeder weiß, wie stark der Gegner ist“ – hatte offenbar nicht Einlass in jedes Spieler-Ohr gefunden. Die 39.600 Zuschauer im ausverkauften Westfalenstadion sparten nicht mit Pfiffen und Unmutsäußerungen. Selbst die glückliche Pausenführung, die Heiko Herrlich per Kopfball in der 45. Minute erzielt hatte, beruhigte nicht die Gemüter der Fans. Denn der Gast aus Lodz zeigte über weite Strecken den besseren Fußball, während der BVB meist der Musik hinterherlief und von Nachlässigkeiten des Gegners profitierte. Polens Nationalspieler Michalski hatte sowohl beim 1:0 als auch beim 2:0 seine Füße im Spiel. Borussias zweiten Treffer, ebenfalls durch Herrlich, bereitete er mit einer unfreiwilligen Vorlage auf den Torschützen vor (68.). Citko betrieb in der 84. Minute lediglich Ergebnis-Kosmetik. Neben Herrlich, der nach fünf Monaten erstmals wieder in der Startelf stand, gefiel auf Dortmunder Seite nur der stets um Spielkultur bemühte Andreas Möller. Trainer Ottmar Hitzfeld konzentrierte sich bei seiner Analyse in erster Linie auf das Ergebnis: „Wichtig sind die drei Punkte. Dass wir es besser können, weiß jeder.“

Die erste Auslandsstation hieß Bukarest, der Gegner Rumäniens Rekordmeister Steaua, für den damaligen BVB-Präsidenten Gerd Niebaum „das Real Madrid des Ostens“. Das Selbstvertrauen der Mannschaft war nach einer vorangegangenen 1:5-Niederlage im Bundesligaspiel bei Borussia Mönchengladbach deutlich angeknackst, und Hitzfeld hatte Konsequenzen gezogen. Lars Ricken stand nach Bandscheibenvorfall und Stammplatz auf der Bank erstmals wieder in der Anfangsformation. Borussias Ausnahmetalent nutzte seine Chance und erzielte in der siebten Minute nach Vorarbeit des überragenden Möller das 1:0. Mit der frühen Führung im Rücken begann der BVB, Spiel und Gegner zu dominieren. Jörg Heinrich erhöhte in der 37. Minute auf 2:0, und der eingewechselte Stéphane Chapuisat setzte den Schlusspunkt mit seinem Treffer zum 3:0 (79. Minute). Hitzfeld äußerte sich zufrieden über die Darbietung und resümierte: „Wir haben nach einer zögerlichen Anfangsphase druckvoll gespielt und hatten den Gegner weitgehend im Griff.“

Reuter gegen Simeone

Sorgen bereitete dagegen Matthias Sammers Gesundheit. Die ersten vier Ligaspiele hatte der Abwehrchef zunächst wegen Rückenbeschwerden, dann wegen einer Meniskus-OP verpasst. In Bukarest fehlte er wegen eines Muskelbündelrisses und verpasste damit auch die beiden folgenden Vergleiche mit Spaniens Meister. Nächster Halt war nämlich das Estadio Vicente Calderon in Madrid. Hitzfeld musste neben Sammer u.a. auch auf Möller und Riedle verzichten, aber das von ihm taktisch glänzend eingestellte Team ließ gegen Atlético Herz und Leidenschaft sprechen, verteidigte aufopferungsvoll und setzte mit schnellen Kontern immer wieder Nadelstiche. Stefan Reuter, der den heutigen Atlético-Trainer Diego Simeone aus dem Spiel nahm, erzielte an seinem 30. Geburtstag in der 51. Minute das Tor des Abends. Damit standen nach den Hinspielen der Gruppenphase neun Punkte auf dem BVB-Konto, die halbe Miete auf dem Weg ins Viertelfinale. Erstmals hatte eine deutsche Mannschaft im bedeutendsten Klubwettbewerb des Kontinents jede der ersten drei Begegnungen für sich entscheiden können.

Die 1:2-Niederlage gegen die Spanier im Rückspiel hätte Hitzfeld auch mit einer ellenlangen Verletztenliste begründen können, aber er ließ seine Enttäuschung an seinen Profis aus. „International reicht es nicht, nur 30 Minuten gut zu spielen. Wenn sie schon Defizite haben, kann ich von ihnen zumindest erwarten, dass sie laufen und kämpfen.“ Dabei hatte die Partie so verheißungsvoll begonnen und Herrlich die starke Dortmunder Anfangsphase mit dem Treffer zum 1:0 gekrönt (17.). Doch Atlético nahm mehr und mehr das Heft in die Hand. Stefan Klos, im Hinspiel noch der „Held von Madrid“, patzte bei den Treffern durch Roberto (32.) und Pantic (45.) zweimal. Der in der 68. Minute eingewechselte Ricken brachte neuen Schwung in die Partie und hätte beinahe noch den Ausgleich erzielt, doch Santi rettete für den schon geschlagenen Torhüter Molina auf der Linie (70.).

Borussia Dortmunds „Lazarett“ hatte sich vor dem Gastspiel in Lodz deutlich gelichtet, aber die nominell so starke Mannschaft tat sich im Dauerregen schwer, ihre Balance zu finden. Paul Lambert erzielte nach feiner Vorarbeit von Ricken und Möller die 1:0-Führung, Polens Meister antwortete mit einem Doppelschlag (Dembinski in der 15. und 20. Minute). Jürgen Kohler rettete in der 65. Minute mit dem 2:2-Ausgleichstreffer einen Punkt. Der reichte für den Einzug ins Viertelfinale. Trotz einer eher bescheidenen Vorstellung versprach Ottmar Hitzfeld noch große Taten: „Wir sind in dieser Champions-League-Saison stärker als im vergangenen Jahr, weil wir punkten, obwohl uns durch die gesamte Gruppenphase personelle Probleme begleiten.“

Schaulaufen mit Unterhaltungswert

Das „Schaulaufen“ gegen Steaua Bukarest hatte für die 37.000 Zuschauer hohen Unterhaltungswert. Sie sahen beim 5:3-Sieg tolle und zum Teil prächtig herausgespielte Tore. Überragend Stéphane Chapuisat, der wochenlang in einer Formkrise gesteckt hatte und an diesem Abend an große Zeiten anknüpfte. Der Schweizer markierte per Freistoß das 1:0 (13.) und ließ dem Bukarester Ausgleichstreffer das 2:1 folgen (22.) – mit einem wuchtigen Schuss aus halblinker Position nach Pass von Matthias Sammer. René Tretschok erhöhte noch vor der Pause nach Chapuisat-Ecke auf 3:1 (43.), und Kalle Riedles Flugkopfball zum 4:2 nach Tretschok-Flanke riss die Fans von den Sitzen. Der eingewechselte Ibrahim Tanko legte Michael Zorc das 5:2 auf (65.), und den Torreigen beendete Calin in der 79. Minute. Einziger Wermutstropfen: Kapitän Zorc sah seine zweite Gelbe Karte im laufenden Wettbewerb und war damit für das erste Viertelfinalspiel gesperrt.

Doch nicht nur Zorc fehlte im Hinspiel des Viertelfinales gegen den französischen Vertreter AJ Auxerre, mit dem der BVB schon 1993 im Halbfinale des UEFA-Cups die Klingen erfolgreich gekreuzt hatte. Die gesamte Defensivreihe mit Kohler, Sammer und César meldete sich verletzt ab, und zu allem Überfluss schied Ersatz-Libero Wolfgang Feiersinger in der 38. Minute mit einer Blessur aus. Aber Hitzfeld bewies einmal mehr bei seiner personellen Rotation und seinen Einwechslungen ein glückliches Händchen. Stefan Reuter übernahm den mittleren Part in der Dreierkette, und René Schneider, der nach langer Verletzungspause eigentlich gar nicht für den Kader vorgesehen war, verteidigte auf der rechten Seite.

Der Reihe nach: Es dauerte, bis die neuformierte Mannschaft Zugriff auf Gegner und Spiel fand, obwohl Kalle Riedle schon in der zwölften Minute per Flugkopfball nach Stéphane Chapuisats gefühlvoller Flanke das 1:0 besorgte. Auxerre übernahm dann aber allmählich die Kontrolle und haderte mit dem spanischen Schiedsrichter Garcia-Aranda, der den vermeintlichen Ausgleichstreffer durch Laslandes Seitfallzieher in der 45. Minute wegen angeblich gefährlichen Spiels gegen Martin Kree annullierte.

Mit Beginn der zweiten Halbzeit erhöhte der BVB die Schlagzahl, und ausgerechnet der als „Fehleinkauf“ abgestempelte Schneider ließ ganz Dortmund nach seinem Kopfballtor in der 54. Minute jubeln. Auxerre indes spielte weiter mutig nach vorn und sah sich schon in einer glänzenden Ausgangsposition, als Lamouchi das so wichtige Auswärtstor erzielte (75.). Hitzfeld reagierte, brachte Ibrahim Tanko für Chapuisat in die über weite Strecken mitreißende Partie, und der junge Stürmer bereitete mit einem prächtigen Sololauf das 3:1 durch Andreas Möller vor (84.). Reuter, der mit einer Rippenverletzung ins Spiel gegangen war, sah in der 89. Minute noch die Gelb-Rote Karte wegen wiederholten Foulspiels, aber das tat der Freude keinen Abbruch. „Großartig, wie die Mannschaft alle Rückschläge wegsteckt“, sagte Hitzfeld über sein dezimiertes Team, in dem das Offensiv-Dreieck Möller, Chapuisat und Riedle die spielerischen Glanzlichter setzte. Möllers Hoffnung vor dem Spiel – „Ein 2:0-Sieg wäre ein Traum“ – hatte sich also fast erfüllt; am Ende stand ein Sieg mit zwei Toren Unterschied, wenn auch mit einem Auswärtstreffer für die Franzosen.

Spitzenreiter trotz schwachem Start

In der Bundesliga hatte sich der Titelverteidiger nach schwachem Start von Platz fünf am neunten Spieltag langsam wieder nach vorne gearbeitet und drei Tage nach dem 3:1 im Hinspiel gegen Auxerre durch ein 2:1 in Freiburg erstmals die Tabellenführung übernommen. Zum Rückspiel reiste der BVB auch noch als Spitzenreiter, doch das 1:4 in Stuttgart vier Tage vor dem Viertelfinal-Rückspiel in Burgund zeigte, auf welchen Wettbewerb die Mannschaft nun den Fokus gelegt hatte: auf die Champions League.

Im Stade Abbé Deschamps entschied sich Trainer Hitzfeld für eine eher vorsichtige Strategie. Vor Libero Matthias Sammer verteidigte eine Dreierkette mit Jörg Heinrich, Jürgen Kohler und Martin Kree. Ricken besetzte die für ihn ungewohnte Position im rechten Mittelfeld, Paulo Sousa und Paul Lambert sicherten zentral ab, Möller, Chapuisat und Riedle sollten Nadelstiche in Auxerres Defensivreihe setzen. Das Tor hütete Stefan Klos mit einer Manschette am lädierten linken Daumen. Weil seine Vorderleute konzentriert arbeiteten und den Gastgebern mit ihrer Zweikampfstärke den Schneid abkauften, fiel Auxerres angekündigter Sturmlauf aus. „Wir müssen so auftreten, als hätten wir das Hinspiel 1:3 verloren“, hatte Präsident Niebaum gefordert. Nach 60 Minuten war der Drops gelutscht: Lars Ricken gelang nach Vorarbeit von Heinrich und Riedle das von 2000 mitgereisten Schlachtenbummlern frenetisch gefeierte Tor des Abends. „Das ist eben ein echter Dortmunder Junge, der die Ärmel hochkrempelt, wenn es drauf ankommt“, formulierte Hitzfeld ein Extra-Lob an die Adresse des 20-Jährigen, der sich eher zurückhaltend äußerte: „Es war viel Glück dabei. Mein Schuss wurde ja noch abgefälscht.“

Die Tickets ins Halbfinale waren gelöst, obwohl sich die personellen Probleme wie ein roter Faden durch die Saison zogen. So auch im Hinspiel gegen Manchester United, als Hitzfeld neben Sammer (Gelbsperre), Kohler und César auch noch seine Top-Angreifer Riedle und Chapuisat ersetzen musste. Mehrere Stunden verbrachte der Trainer vor dem heimischen Fernseher und fütterte den Videorekorder mit VHS-Kassetten, die Aufzeichnungen von Spielen des Kontrahenten zeigten. Heutzutage sezieren Analysten den Gegner bis in die letzte Faser. Vor 25 Jahren war das noch Chefsache, und die Hilfsmittel waren eher primitiver Natur. Und dann war da noch ein „Spion“ (Gerd Löwel), den Hitzfeld nach Manchester geschickt hatte, um Erkundigungen einzuziehen.

Noch mehr als mit den (vielen) Stärken und den (wenigen) Schwächen bei Manchester United, wo ein gewisser David Beckham als „Entdeckung der Saison“ gepriesen wurde, musste sich Hitzfeld mit der personellen Situation im eigenen Lager auseinandersetzen. Wegen eines Bänderrisses in der Schulter galt Herrlichs Einsatz als unmöglich, doch er stellte sich zur Verfügung, da ja schon Chapuisat und Riedle fehlten. Hitzfeld beorderte Allrounder Tretschok an seine Seite.

„Jeder war voll fokussiert“

„Es war gespenstig ruhig. Vor einem Bundesligaspiel wurde immer noch der eine oder andere Spaß gemacht. Diesmal war es anders. Man merkte, es geht um alles“, erinnert sich Tretschok an die Minuten vor dem Anpfiff. „Jeder Spieler – egal, was er schon erlebt hat – war voll fokussiert.“

Es ist ein Kampfspiel. Es geht mit 0:0 in die Schlussviertelstunde, auch dank Martin Kree, der nach einem Beckham-Schuss mit einer akrobatischen Aktion einen Gegentreffer verhindert hat (67.). Das englische Starensemble bleibt in dieser von taktischen Winkelzügen geprägten Partie weit unter seinen Möglichkeiten, als Paulo Sousa Manchesters Eric Cantona tief in der Hälfte der Gäste den Ball abluchst und einen Gegenangriff einleitet. Sousa will das Leder gerade kontrollieren, als Balldieb Tretschok zuschlägt. Der Klau erfüllt den Tatbestand der Majestätsbeleidigung – und wird Bruchteile später zum Clou: Noch während Sousa genervt abdreht, legt sich Tretschok die Kugel mit links vor, einmal, zweimal – 22, 23 Meter sind es noch bis zum Ziel – und nagelt sie mit links auf den Kasten. Ersatzkeeper Raimond van der Gouw reagiert viel zu spät und lässt den nicht allzu platziert getretenen Ball passieren. Im nächsten Moment bricht es aus René Tretschok heraus. „Es war eine Willensleistung“, sagt er später. Unmittelbar nach dem Treffer reißt er sich das Trikot vom Leib. Er ist der Held, zumindest an diesem einen Abend. Und Paulo Sousa ist der erste Gratulant.

Im Rückspiel schrieb der BVB Geschichte – und Jürgen Kohler die Geschichte einer Abwehrschlacht, die das legendäre Old Trafford, gepriesen als „Theater der Träume“ (Theatre of Dreams), noch nie erlebt hatte. Borussia qualifizierte sich mit einem 1:0-Sieg erstmals für ein Finale der Champions League. Und wieder einmal war es Lars Ricken vorbehalten, das entscheidende Tor zu erzielen. Der 20-Jährige gab United-Schlussmann Peter Schmeichel nach Vorlage von Andreas Möller bereits in der achten Minute mit einem platzierten Linksschuss das Nachsehen. Mit diesem Treffer begann das Powerplay des Englischen Meisters, ein wütender Sturmlauf: Angriff auf Angriff rollte auf das Dortmunder Tor. Aber auf der anderen Seite gab es einen Stefan Klos, einen Wolfgang Feiersinger, einen Martin Kree, einen Jörg Heinrich, der nach Stefan Reuters Auswechslung erneut die rechte Abwehrseite besetzen musste – und es gab einen Jürgen Kohler, der in diesem Hexenkessel das Spiel seines Lebens machte.

Als die Mannschaft am 22. April 1997 nach England fliegt, fehlt Jürgen Kohler. Offiziell wegen eines Magen-Darm-Infekts. Doch tatsächlich ist er bei seiner Frau Silke in der Klinik. „An dem Tag haben wir unser Kind verloren“, verrät der heute 56-Jährige. Eine emotionale Ausnahmesituation. „Wenn meine Frau da nicht gesagt hätte: Flieg da hin und spiel’, wäre ich niemals in Manchester mit dabei gewesen.“

Jürgen Kohler wird zum Fußball-Gott

Kohler reist am 23. April nach – und steht in einer der legendärsten Europapokal-Schlachten auf dem Rasen. Borussia tritt mit einem hauchdünnen 1:0-Vorsprung zum Rückspiel im Old Trafford an. ManUnited bietet das Who-is-Who des europäischen Offensivfußballs auf: Beckham, Butt, Cole, Solskjaer – und Cantona. Der Franzose kann das Spiel praktisch alleine entscheiden, doch Kohler und Torhüter Stefan Klos bilden an diesem Abend ein unüberwindbares Bollwerk. „Das Trikot mit der Nummer 15 leuchtete wie eine rote Ampel im Straßenverkehr“, schreibt die Zeitung Die Welt. „Ohne Kohler, glaube ich, hätten wir hier nicht bestehen können“, äußert Ottmar Hitzfeld nach dem Spiel, das Borussia Dortmund sogar mit 1:0 gewinnt. Weil Jürgen Kohler drei Mal auf oder knapp vor der eigenen Torlinie rettet. „Das war pures Glück. Den macht Cantona eigentlich im Tiefschlaf, aber in dem Moment schießt er genau dahin, wo ich meinen Fuß hin hebe“, sagt der Held des Abends zu jener Szene, als er auf dem Hosenboden sitzend irgendwie noch sein Bein ausstreckt und den Ball auf seinem Weg zu einem eigentlich sicheren Treffer blockiert.

An diesem Abend erheben ihn die BVB-Fans in den Stand eines „Fußball-Gotts“, während die ManUnited-Anhänger Pläne schmieden, das Flugzeug mit Kohler auf dem Weg zurück nach Dortmund zu stoppen. Der dürfe nie mehr die Insel verlassen, solle stattdessen einen Vertrag bei den Red Devils unterschreiben.

Jürgen Kohler ist 25 Jahre danach immer noch im Abwehr-Modus. „Fußball-Gott. Das ist schon ’ne Hausnummer“, sagt er: „Da waren ja noch ein paar andere dabei, die sich genauso reingehauen haben wie ich, oder die die entscheidenden Tore geschossen haben.“ Borussia Dortmunds größter Erfolg der Vereinsgeschichte, der Champions-League-Sieg 1997, war der Erfolg der gesamten Mannschaft und ihres Trainers Ottmar Hitzfeld, „nicht eines Einzelnen“, betont Kohler: „Ich hab’ da halt in Manchester dreimal richtig gestanden; es hat da alles gepasst.“

Die gesamte Mannschaft hatte sich mit Herz und Leidenschaft gegen die groß aufspielenden Gastgeber gewehrt und sich am Ende für einen fantastischen Kampf belohnt. „Das ist Wahnsinn, einfach unglaublich. Ganz Deutschland kann stolz auf uns sein“, sprudelte es aus Andreas Möller heraus.

Die Zuschauer im Old Trafford verabschiedeten den Deutschen Meister mit stehenden Ovationen. Und auf dem Flughafen Münster/Osnabrück feierten nach der Landung tief in der Nacht weit über tausend Fans die Helden von Manchester. „Wir haben die Erwartungen deutlich übertroffen. Ein Riesen-Kompliment vor allem an jene Spieler, die nicht immer zum Kader gehören, die im Laufe dieser Runde aber über sich hinausgewachsen sind. Ohne sie hätten wir es nicht geschafft“, sagte ein strahlender Ottmar Hitzfeld. Ein Traum, der im Auftaktspiel gegen Widzew Lodz begann und im Old Trafford endete, war in Erfüllung gegangen: Borussia Dortmund stand im Endspiel der Königsklasse. In München, im Olympiastadion.

Wilfried Wittke, Boris Rupert