Dario Scuderi glaubt an Gott. „Vielleicht“, sagt der Deutsch-Italiener, „hat das alles einen Sinn, dass es so passiert ist.“ Der rechte Verteidiger war eines der größten Talente von Borussia Dortmund. Er spielte in einer Mannschaft mit Christian Pulisic und Jacob Bruun Larsen. Doch während der US-Amerikaner heute in der Premiere League kickt und der Däne bei der TSG Hoffenheim um einen Stammplatz in der Bundesliga kämpft, hat Scuderi seine Karriere beendet. Mit 21. Dieser Traum ist geplatzt. Aber das Leben geht weiter.

Der Ort, an dem Helden geboren werden. Steht da. Im Eingangsbereich des Trainingszentrums Am Rabenloh. Und darunter sind Borussias Helden zu sehen. Günter Kutowski und Michael Zorc, Jürgen Kohler und Dede, Stéphane Chapuisat und Lars Ricken und Mario Götze. Eine Reihe der Großen, die Riege der Wenigen, die es unter all den Vielen, den Tausenden geschafft haben. Dario Scuderi hätte auch der eine sein können. Sein sollen. Der eine aus seinem Jahrgang, der es bis nach ganz oben schafft.

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Scuderi ist da, an einem kalten Abend zu Beginn dieses Jahres. Doch der Deutsch-Italiener trainiert auf dem Kunstrasenplatz im Schatten des hell angestrahlten Signal Iduna Parks nicht selbst, er ist der Trainer. Seit Ende März ist er 22 Jahre jung. Weil es andersherum nicht mehr geht. Weil es so sein soll. Sechs Achtjährige aus dem Aufbaukurs der BVB-Evonik-Fußballakademie jagen dem Ball nach. Vor seinen Augen. Unter seiner Beobachtung. In den kurzen Ballpausen kniet sich Scuderi vor die Kinder, begibt sich auf Augenhöhe. Er ist positiv; in der Ansprache, in der Körpersprache. Und noch lernt auch er dazu. In jeder Einheit. In vielen Situationen. Immer wieder nimmt er Tipps der Trainerkollegen entgegen, nimmt sie auf.

Als die Einheit vorbei ist und Dario Scuderi das Feld verlässt, sagt er: „Mir geht es wunderbar. Denn ich weiß, dass ich vor zwei Jahren fast mein Bein verloren hätte und im Rollstuhl gelandet wäre. Aber ich stehe noch immer auf dem Fußballplatz und kann Kindern das weitergeben, was Trainer wie Hannes Wolf und Thomas Tuchel mir beigebracht haben.“ Trainer wie diese, und Mitspieler wie Mario Götze und Marco Reus.

Es ist der Nachmittag des 14. September 2016, der sein Leben verändert; der Tag, an dem Dario Scuderi vom siebten Himmel auf die Erde fällt. Nur eine Aktion, ein einziger Unfall. Scuderi spielt mit der U19 in der UEFA Youth League gegen Legia Warschau. Nach einer Viertelstunde passiert, was in so vielen Situationen passieren kann – aber doch eigentlich nur den anderen passiert. Nie jedenfalls einem selbst. Nach einer Rettungsaktion landet Scuderi so unglücklich, dass sich das linke Knie verdreht. Kreuzband und Außenband reißen. Ebenso der Meniskus, Muskeln und Sehnen. Der Unterschenkel steht unnatürlich ab. Teamarzt Dirk Tintrup renkt das Gelenk noch auf dem Platz wieder ein. Später werden die Mediziner von einem Totalschaden im Knie sprechen. Doch das ist nicht alles.

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Im Flugzeug zurück nach Dortmund entwickelt sich ein Kompartment-Syndrom, angestaute Flüssigkeit im Bein drückt die Muskeln und Venen ab. Nach der Ankunft wird Dario Scuderi notoperiert. Zwischenzeitlich muss er eine Amputation seines linken Beines fürchten. „Es war die erste Verletzung in meiner Karriere.“ Die erste. Und die letzte.

Scuderi steht heute – nach zehn Operationen und Monaten und Jahren der Reha – zwar wieder auf dem Fußballplatz, nicht aber als Profi. Vor allem aber steht Scuderi mit beiden Beinen auf dem Boden.

Er sagt: „Ich möchte, dass die Kinder etwas Menschliches mitnehmen, Dinge wie Respekt. Wenn wir zum Beispiel in die Kabine kommen, geben wir jedem die Hand. Wir gehen nicht einfach rein und setzen uns hin. Und wenn wir mit jemandem reden, dann schauen wir ihm dabei in die Augen und suchen nicht irgendwelche Flugzeuge am Himmel.“ Respekt ist ihm sehr wichtig. Deshalb auch ist er den kleinen Kickern gegenüber immer positiv: „Ich bin kein Fan davon, Kinder anzuschreien. Was hätte ich davon? Wenn ich ein Kind anschreie, wird es ängstlich und hat kein Selbstvertrauen mehr. Genau das aber braucht es, wenn es in ein Eins-gegen-Eins geht. Ich befürchte, dass die Kinder nicht überall das versuchen dürfen, was sie eigentlich machen wollen. Mein Ziel ist es, dass sich die Kinder Sachen trauen.“

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Dario Scuderi ist mit neun Jahren zum BVB gekommen. „Als kleiner Junge habe ich nur an Fußball gedacht.“ Als großer Junge ist er Deutscher B-Jugend-Meister geworden. Und Deutscher A-Jugend-Meister. Er lief für Italiens U19-Nationalmannschaft auf und fuhr mit Borussias Profis ins Trainingslager. Er fing an, mit den großen Jungs zu spielen, mit Götze und Reus, unter Wolf und Tuchel. „Schule war Nebensache.“ Dem 21-Jährigen ist klar: „Wenn ich zurückschaue, habe ich ja noch Glück. Ich kann noch immer beim besten Arbeitgeber der Welt arbeiten – aber so läuft es ja nicht immer.“ Wie viele bleiben auf dem langen Weg nach oben auf der Strecke, kommen nie dort an – und stürzen dann ab?

Im Fall von Dario Scuderi allerdings gab es keine zwei Meinungen. „Für einen Verein wie Borussia Dortmund ist es selbstverständlich, in einer solchen Situation zu helfen. Wer die Szene von Warschau noch vor Augen hat, der weiß, was Dario durchgemacht hat. Wir tragen gerade für unsere jungen Spieler auch Verantwortung – und die endet nicht beim Verlassen des Fußballplatzes“ sagt Geschäftsführer Carsten Cramer. Er hat sich für Scuderi eingesetzt und ihm die Ausbildung zum Jugendtrainer angeboten. Der 21-Jährige wurde Azubi Nr. 14 bei 849 Mitarbeitern. Für Scuderi ein Segen. Gegen den Fluch gibt er den Kindern mit, „dass sie nicht immer alles auf eine Karte setzen, dass sie neben dem Fußball noch etwas anderes in der Hand haben sollten“. Anders als er, der die Schule im Fach-Abi machen wollte, auf Grund der Verletzung und monatelanger Reha damit aber aufgehört hat und keinen Plan B hatte.

Die Kinder in der Fußballakademie kennen seine Geschichte, zumindest die meisten. Seit Sommer 2019 ist Dario Scuderi nun Vollzeit dabei. Vollzeit und zu 100 Prozent. Das in Angriff genommene Kicken beim Westfalenligisten FC Iserlohn hat er schnell wieder eingestellt. Zugunsten des Jobs. „Lieber eine Sache richtig machen.“ Acht Stunden am Tag kümmert er sich um Fußball. „Ich komme ins Büro und fange an zu tüfteln.“ An Trainingsinhalten und Trainingsmethoden. Er spricht mit den Kindern – und mit den Eltern, was oftmals noch wichtiger ist. „Ich denke den ganzen Tag lang nur an Fußball und überlege, wie wir unsere Kinder noch besser machen können.“ 50 trainiert er pro Woche; dienstags und donnerstags in Dortmund, mittwochs in Bocholt.

Dario Scuderi hat die B-Lizenz. In diesem Jahr soll die DFB-Elite-Jugend-Lizenz folgen, und danach die A-Lizenz. Scuderi will machen; seine Lizenzen und eigene Erfahrungen. „Und dann möchte ich rüber gehen ins NLZ, wo ich selber aufgewachsen bin. Da kenne ich mich aus, und dahin möchte ich zurück – wenn ich dafür bereit bin.“ Womöglich in zwei bis drei Jahren. Unter Druck setzt er sich nicht.

Bis dahin wird es noch viele Momente geben, in denen er wieder denkt, was auch hätte sein können. „Aber dafür kann ich mir nichts kaufen. Ich schätze das, was ich habe. Wenn ich nach oben schaue, dann habe ich mit Christian Pulisic zusammengespielt – der fährt heute einen Lamborghini, und ich muss acht Stunden am Tag arbeiten. Aber das ist nicht mein Ansatz. Ich denke: Wie viele Spieler, mit denen ich gespielt habe, haben jetzt gar nichts oder machen irgendetwas, was sie eigentlich gar nicht machen wollen. Ich gucke nicht nach oben, sondern nach unten.“ Und nach vorne. „Hauptsache ich bin glücklich und es macht mir Spaß.“

Das macht es. Obwohl er schon in der U19 mehr verdient hat als heute in seinem Job. „Das ist so, aber das ist nicht schlimm.“ Es gibt Wichtigeres. Glück zum Beispiel. Dario hat Lorena geheiratet. Vor wenigen Tagen ist ihr erstes Kind zur Welt gekommen. Stolz hat er ein Bild aus dem Kreißsaal gepostet. In der BVB-Geschäftsstelle wird diese Nachricht mit großer Freude entgegengenommen. Das Wissen darum, dass andere für einen da sind, hat geholfen. „Dafür bin ich meinen Eltern unendlich dankbar. Und natürlich unserem Verein.“

Der war da, als Scuderi sich verletzt hat, und er ist es heute noch. „Dario möchte auf dem Fußballplatz stehen und Kindern etwas weitergeben. Dabei werden wir ihn weiter unterstützen“, sagt Carsten Cramer. Mehr als sein halbes Leben hat Scuderi in Schwarzgelb verbracht. Womöglich wird sich an diesem Verhältnis nie etwas ändern. „Egal, wohin ich gehe, zur Arbeit oder in der Freizeit: Ich habe immer Dortmund-Sachen an. Der BVB ist wie meine eigene Haut.“ Gänsehaut. Ein junger Mann ist ganz bei sich.

In den Tagen vor Corona und hoffentlich bald wieder stehen draußen am Spielfeld die Eltern, Mütter vorzugsweise, die den Traum ihres Sohnes mitträumen: Vielleicht der eine zu sein, der es schafft. So wie es Dario Scuderi hätte sein sollen.
Nils Hotze