Die Handball-Damen von Borussia Dortmund dürfen durchatmen. Die Saison 2021/22 ist beendet, Zeit für Cheftrainer André Fuhr, eine erste Bilanz zu ziehen und einen Ausblick auf die kommende Saison zu wagen. Der Erfolgstrainer, der kurz vor dem Jahreswechsel seinen Vertrag um drei Jahre verlängerte, spricht im ersten Teil des großen Sommerinterviews über die vergangene Saison, was er beim deutschen Vizemeister in Zukunft konkret verbessern will und wie die nächsten Monate vor dem Start in die neue Spielzeit aussehen.

André, wenn Du einen Strich unter die abgelaufene Saison ziehst, was kommt dabei heraus?

„Ich bin zufrieden. Die Vizemeisterschaft war das Maximum, was wir erreichen konnten. Bietigheim war einfach herausragend in diesem Jahr - in der Kaderbreite, in der Erfahrung der einzelnen Spielerinnen. Auch noch mal in einer ganz anderen Qualität, als wir sie im Vorjahr hatten. Wir haben vier Minuspunkte zu viel, das sind die Niederlagen gegen Blomberg und Thüringen. Ansonsten haben wir aber einen deutlichen Abstand zum Dritten, zum Vierten und zum Fünften. Daher sind wir zufrieden. Im Pokal sind wir gegen Bietigheim ausgeschieden, das war ein unglückliches Los. In der Champions League haben wir die Hinrunde überragend gespielt, in der Rückrunde sind uns manchmal die Körner ausgegangen. Aber in der Summe haben wir den Frauenhandball dort sicherlich gut vertreten.

Du hast Bietigheim angesprochen. Ist das Verhältnis so wie im Fußball zwischen dem BVB und Bayern München?

Ein bisschen ist das so. Denn da spielen ja auch wirtschaftliche Möglichkeiten genau wie im Fußball eine Rolle. Wenn man sich die Kader anschaut, sieht man ja am Durchschnittsalter oder an der Zahl der Länderspiele ganz enorme Unterschiede. Bei uns sind die Leistungsträgerinnen wie Mia Zschocke oder Amelie Berger noch jung. Auch Alina Grijseels ist ja verhältnismäßig jung. Von daher muss man das so akzeptieren.

Schaut man da schon mal neidisch hinüber nach Baden-Württemberg?

Nein, ich war jahrzehntelang in Blomberg und wusste, ich kann kein deutscher Meister werden und hatte dennoch Freude an der Entwicklung des Gesamtvereins. Jetzt bin ich hier und bin im Prinzip zweimal Deutscher Meister geworden und einmal Deutscher Vizemeister. Ich glaube, es gibt im Sport nur Bayern München, die zehnmal hintereinander Deutscher Meister werden. Bietigheim wird aber nicht zehnmal hintereinander den Titel holen.

Ist das eine Ansage?

Ja. Genauso, wie ich es akzeptieren kann, dass Bietigheim jetzt besser war, genauso werden wir auch wieder angreifen.

Warum ist die Fluktuation bei euch so hoch?

Das ist kein Dortmunder Phänomen. Wenn man sich die Liga anschaut, dann sind das von 14 Vereinen bestimmt zehn oder elf, die zwischen sechs und zwölf Abgänge haben. Das ist nicht gesund. Das hat natürlich ganz viele Ursachen. Berater spielen da eine spezielle Rolle, der Markt an sich ebenfalls. Das heißt, die Spielerin die weggeht, findet immer wieder einen neuen Verein. Das ist sicherlich ein gesellschaftliches Phänomen, wenn ich als Begründung höre: hier ist es nicht gut, ich gehe mal dahin.

Ist das nicht frustrierend, immer wieder gefühlt bei Null anfangen zu müssen?

Ja. Das ist so, als wenn ich als Lehrer jedes Jahr in der Eingangsklasse anfange.

Du bist jedes Mal neu auf dem Stand einer Eingangsklasse?

Ich denke, wir in Dortmund befinden uns auf Highschool-Niveau. Aber man fängt jedes Jahr im Sommer neu an, muss Regeln und Leitplanken finden. Es wäre natürlich besser, man würde darauf aufbauen, was in der Vorsaison war. Das ist natürlich ein Riesenvorteil für Bietigheim.

Wenn du den Kader der Saison 2021/22 und den der kommenden Saison vergleichst - wer ist der stärkere von beiden?

Ich denke die Kader sind gleichwertig, auch wenn man das nur schwer vorhersagen kann. Die Neuen sind natürlich nur schwer einzuschätzen. Ich schätze, Merel Freriks hinterlässt eine Riesenlücke, sie hat sich bei uns zu einer Top-Kreisläuferin entwickelt, sie war eine wichtige Korsettstange in der Abwehrachse und im Angriff. Laura van der Heijden hat für uns in manchen Spielen wichtige Tore geworfen, weil sie einfach eiskalt ist in diesen Momenten. Das ist eine hohe Qualität. Ansonsten haben wir aber mit Sicherheit genug Potenzial, uns zu verbessern.

Was müssen die Neuverpflichtungen können, welchen Anforderungen müssen sie genügen?

Wir suchen Spielerinnen, die sich den Herausforderungen stellen wollen, den Druck aushalten, mit uns den Weg gehen.

Der BVB ist deutscher Vizemeister. Doch was gilt es außerhalb des Spielfeldes zu verbessern?

Wir haben ein unglaubliches Potenzial. Aber es spielt auch eine Rolle, ob wir ein Champions-League-Spiel in Dortmund vor 300 Zuschauern machen, oder in Budapest vor 2500 oder in Brest oder Rostov vor 3500 Fans spielen. Das ist ein Problem. Wir haben keine Fankultur im Handball. Wir haben nicht diesen Zuspruch. Ich glaube, wir sind Drittletzter der HBF-Zuschauertabelle. Und das als amtierender Deutscher Meister, da klingeln bei mir schon alle Alarmglocken. Da müssen wir was machen.

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Das ist alles?

Nein, wir liegen in den Strukturen, auch Bietigheim und Dortmund, Lichtjahre hinter dem internationalen Niveau: Arena, Seminarräume, Kraftraum, Infrastruktur. Wir sind quasi nicht wettbewerbsfähig. Wir machen das Beste daraus, aber da ist die Spielerin in Budapest oder Bukarest deutlich besser aufgehoben. Diesen Wettbewerbsnachteil müssen wir kompensieren. Auch in den Gehältern können wir im internationalen Vergleich nicht mithalten. Eine Spielerin, die in der Champions League Leistungsträgerin ist, ist für uns nicht bezahlbar.

Was muss sich ändern?

Ich denke, es muss eine gewisse Hauptamtlichkeit, eine gewisse Professionalisierung geben. Im internationalen Vergleich ist Frauensport in Deutschland nicht so anerkannt, dabei steht er in der Spitze dem Männersport in nichts nach. Wir trainieren genauso oft wie ein Männerbundesligist. In Ungarn oder Dänemark werden die Spiele alle im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen, in Deutschland wird selbst ein Weltmeisterschaftsspiel nicht übertragen, geschweige denn ein Champions-League-Spiel. Das hat enorme ökonomische Auswirkungen. So drehst du dich im Kreis.

Was würdest du verbessern in der kommenden Saison?

Ich glaube, wir müssen die Belastung Champions League und Bundesliga noch besser bearbeiten, auch mental. Wir haben über 90 Videositzungen gemacht, das ist für die Spielerinnen eine unheimliche Belastung. Die körperliche Belastung ist schwierig zu reduzieren, unser Kader war klein. Jeden dritten Tag kommt ein Spiel. Am Mittwoch müssen wir in der Bundesliga gewinnen, um dranzubleiben. Und am Wochenende in der Champions League müssen wir eine Topleistung bringen, sonst kriegen wir richtig auf die Mütze. 

Was ist dein Ziel für die Saison 2022/23?

Wir wollen lange dranbleiben an Bietigheim, wollen möglichst ins Final4 kommen und den Platz in der Bundesliga halten. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Thüringen oder Neckarsulm haben mächtig aufgerüstet.

Ihr hattet auch unglaubliches Pech in Sachen Verletzungen.

Stimmt. Bietigheim hatte keine schwere Verletzung, wir hatten zu viele. Bietigheim hatte nicht die Belastung Champions League, auch das macht richtig was aus. Bei uns ist Dana Bleckmann im September weggebrochen, das hat uns sehr weh getan, wie war zu dem Zeitpunkt in einer sehr guten Form. Dazu kam später auch noch der Ausfall von Amelie Berger.

Wie sieht es mit der Verstärkung aus dem eigenen Nachwuchs aus?

Wir haben Lena Hausherr aus Zwickau zurückgeholt. Merle Albers wollte immer gerne ins Ausland, wir wollten sie behalten, sie sollte dritter Kreisläufer werden. Wir müssen jetzt wieder etwas warten, unsere B-Jugend ist ja wirklich stark.

Wie sehen die nächsten Monate aus?

Nach der WM in Slowenien vom 22. Juni bis 3. Juli habe ich eine Woche Urlaub auf Fuerteventura. Danach beginnt die Vorbereitung. Ich freue mich immer auf die neue Mannschaft, auf die neuen Spielerinnen, wir machen erstmals ein Kurztrainingslager in Winterberg, man ist nicht immer in der Halle, hat keinen Ergebnisdruck. Jetzt bin ich auf die Entscheidung in Sachen Champions League gespannt - ich denke schon, dass wir eine Chance haben.