Am Pfingstmontag 1986 hatte Jürgen Wegmann mit seinem Last-Minute-Treffer zum 3:1 gegen Fortuna Köln ein Entscheidungsspiel auf neutralem Platz erzwungen. Heute vor 30 Jahren, am Abend des 30. Mai 1986, sicherte sich Borussia Dortmund im Düsseldorfer Rheinstadion die Bundesliga-Zugehörigkeit. Ein Rückblick auf die Relegations-Dramen.

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Nach dem Sieg in Düsseldorf: Der scheidende Torwart Eike Immel mit Trainer Reinhard Saftig

Zweifelsohne gibt es eine ganze Reihe von Heimspielen des BVB, die sich für einen Spitzenplatz aufdrängen, und die Frage, welche dieser Partien nun die allerbeste, die allerwichtigste, die allerspannendste, die allerspektakulärste, die allerbegeisterndste – kurz: die allerallergrößte – war, lässt sich trefflich diskutieren. Die Antworten auf diese Frage können und werden unterschiedlich ausfallen, schon deshalb, weil sie – und eben das macht die Faszination Fußball letztlich aus – immer mit persönlichen Erlebnissen zusammenhängen.

Genug um den heißen Brei herum geschrieben. Reden wir Tacheles! Kommen wir zur Festlegung. Spulen wir die Geschichte von Borussia Dortmund zurück bis zum 17. Mai 1986. Erinnern wir uns an ein Spiel, in dem es nicht um Titel und Trophäen, um Glanz und Gloria ging; in dem der Gegner nicht Real Madrid, Manchester United, nicht einmal Bayern München oder FC Schalke 04 hieß, sondern: Fortuna Köln. Ein Klub, der in der Saison 2013/14 in der vierten Liga spielte, eine Klasse unter der zweiten Mannschaft von Borussia Dortmund. Der sich an jenem Pfingstmontag 1986 gleichwohl anschickte, erstklassig zu werden und den ruhmreichen BVB 14 Jahre nach dem bitteren Abstieg von 1972 und zehn Jahre nach der umjubelten Rückkehr wieder in die zweite Liga zu schicken.

Es gibt einfach zu viele Gründe, die ausgerechnet und unbedingt für das Rückspiel der Bundesliga-Relegation 1985/86 als Nummer eins aller BVB-Spiele im Westfalenstadion / Signal Iduna Park sprechen. Der wichtigste ist kein sportlicher, sondern ein wirtschaftlicher: Wäre die schier hoffnungslos abgewirtschaftete Borussia seinerzeit tatsächlich abgestiegen, der Klub, bei dem Dr. Reinhard Rauball – im Oktober 1984 vom Amtsgericht Dortmund als Notvorstand eingesetzt – zu retten versuchte, was zu retten war, wäre wohl nicht wieder auf die Beine gekommen. Nur ein Indiz für die Misere der Schwarzgelben war die Zuschauerresonanz. Der Schnitt war von 42.000 im ersten Jahr nach dem Wiederaufstieg auf nur noch 20.306 in der Saison 1983/84 gesunken. 1985/86 waren es 22.573 Zuschauer pro Spiel. Die Auslastungsquote pendelte um 40 Prozent. Heute, da der Schnitt bei über 80.000 und die Auslastung bei nahezu 100 Prozent liegt, unvorstellbar.

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Präsident Reinhard Rauball herzt Jürgen Wegmann

Zum Sport: Es war eine Grusel-Saison mit einem Frust-Finale, die hinter Borussia Dortmund lag, als es zum dramatischen Showdown mit Fortuna Köln kam. Der BVB rutschte schon am 4. Spieltag durch eine 1:4-Heimpleite in den Bundesliga-Keller, wurde drei Spieltage später durch ein 1:6 in Bochum auf Platz 17 durchgereicht und hielt am 13. Spieltag nach einem 2:3 gegen den neuen Spitzenreiter Borussia Mönchengladbach mit 8:18 Punkten die Rote Laterne. Einem kurzen Zwischenhoch mit einem 1:0-Erfolg bei den Bayern vor lediglich 15.000 Zuschauern im Münchener Olympiastadion und einem 2:0 gegen den VfB Stuttgart folgte eine 1:6-Derbyklatsche auf Schalke. Borussia überwinterte mit 14:20 Punkten auf Rang 14. Knapp vor der Abstiegszone.

Die Rückrunde avancierte zu einem Wechselbad der Gefühle. Nach einem 5:1 gegen Köln und einem 0:0 in Nürnberg kletterte der BVB am 21. Spieltag bis auf Platz 10, doch auf der Zielgeraden ging den Schwarz-Gelben die Luft aus. Negativer Höhepunkt war am 32. Spieltag der Sturz auf Relegationsplatz 16 durch ein 0:4 beim VfB Stuttgart. Die Klubführung zog die Notbremse: Trainer Pal Csernai wurde entlassen. Sein Assistent Reinhard Saftig, für die folgende Saison ohnehin als Csernai-Nachfolger ausgeguckt, übernahm – und hätte durch ein 1:1 gegen Schalke und ein 4:1 bei Schlusslicht Hannover 96 um ein Haar noch die direkte Rettung geschafft. Am Ende fehlten dem BVB (49:65 Tore/-16) bei Punktgleichheit mit Eintracht Frankfurt (35:49 Tore/-14) lediglich zwei Treffer zum direkten Klassenerhalt, während sich die vor dem Schlussakt ebenfalls noch gefährdeten Traditionsvereine 1. FC Köln und 1. FC Nürnberg mit knappem Punktvorsprung retteten.

So kam es zum Duell mit dem schwer angezählten Zweitliga-Dritten Fortuna Köln. Die Südstädter hatten die Tabelle sechs Spieltage vor dem Saisonende noch angeführt und befanden sich klar auf direktem Aufstiegskurs. Doch dann folgte ein unerklärlicher Einbruch mit nur noch einem Punkt aus dem Nachholspiel in Osnabrück (0:0) und Niederlagen in Aachen (0:3), in Kassel (0:3), daheim gegen den Tabellenvorletzten Tennis Borussia Berlin (0:2) sowie beim direkten Konkurrenten Blau-Weiß Berlin (1:3).

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Dirk Hupe (links) erzielte das 1:0 für Borussia Dortmund im Entscheidungsspiel

Vor den beiden letzten Spieltagen rutschte die Fortuna aus den Aufstiegsrängen, kletterte am vorletzten Spieltag durch ein 6:0 gegen Bayreuth wieder auf den Relegationsplatz – und schien diesen beim Saisonfinale doch wieder zu verspielen. Eine Viertelstunde vor Schluss lagen die Kölner beim Karlsruher SC mit 0:2 zurück. Erst der Doppelschlag von Achim Kropp (75.) und Bernd Grabosch (77.) zum 2:2 und Kassels späte 0:1-Niederlage beim Absteiger Bayreuth zementierten Platz drei.

Als Zweitligist ohnehin Außenseiter, unterstrich die fallende Formkurve die Rolle der Kölner zusätzlich. Der BVB hingegen ging mit dem frischen Saftig-Schwung in die Spiele. Doch was auf dem Papier nach einer Formsache aussah, entwickelte sich auf dem grünen Rasen komplett anders. Spiel eins vor 44.000 Zuschauern im größeren Müngersdorfer Stadion, Heimstatt des ungeliebten Lokalrivalen 1. FC Köln, dominierte der Zweitligist, gewann durch Tore von Bernd Grabosch (53.) und Karl Richter (75.) mit 2:0 und kam vier Tage später in Dortmund mit ganz breitem Kreuz aus dem Spielertunnel.

Ganz anders die Gastgeber, die zwar das Gros der 54.000 plus x Zuschauer im hochgradig ausverkauften – manche sagen: hoffnungslos überfüllten – Westfalenstadion hinter sich wussten. Die aber auch eine zusätzliche Last im Rucksack mitschleppten: ihren Torjäger Jürgen Wegmann. „Für mich war der Druck besonders groß, denn nur wenige Tage zuvor war bekannt geworden, dass ich nach Schalke wechseln würde. Für die Dortmunder Fans war das natürlich Hochverrat. Vergessen waren meine 14 Saisontore, sie nannten mich `Judas´ und pfiffen mich aus, als ich an diesem schwülen Nachmittag das Feld betrat. Doch das gellende Pfeifkonzert beflügelte mich nur noch mehr“, erzählte Wegmann im Mai 2011 anlässlich des 25. Jahrestages des „Wunders von Dortmund“ dem Fußball-Magazin 11 Freunde.

Dass Wegmann die Hauptrolle bei diesem Wunder spielen würde; dass es überhaupt noch ein Wunder geben würde, darauf deutete lange Zeit wenig bis gar nichts hin. Im Gegenteil: Bernd Grabosch erwischte den BVB bei brütender Hitze eiskalt und schraubte das Ergebnis mit seinem frühen Führungstreffer zum 1:0 (14.) in der Addition beider Spiele auf 3:0. So stand es auch zur Pause - und die Hoffnungen der Dortmunder Anhänger schmolzen dahin wie das Eis von Trikotsponsor Artic in der prallen Pfingstsonne.

Was dann geschah, war nicht nur die unglaubliche Wiederauferstehung einer totgesagten Mannschaft, sondern mehr noch einer der Wendepunkte in der Vereinsgeschichte des BVB. „In der Halbzeit war es ganz ruhig in der Kabine“, erinnerte sich Jürgen Wegmann im November 2011 für einen Beitrag der Magazin-Sendung Sport inside im WDR-Fernsehen. „Da konnte man eine Stecknadel fallen hören.“ Er aber habe, sagt er im Magazin 11 Freunde, „den Jungs in der Kabine gesagt, dass dieses Spiel erst in den letzten Minuten entschieden werden würde, und ich hatte bereits eine Ahnung, dass ich entscheidend daran beteiligt sein sollte“.

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Tooor für Borussia Dortmund durch Jürgen Wegmann! Acht Mal musste Kölns Keeper Jacek Jarecki hinter sich greifen.

Die zweite Halbzeit, der BVB spielte auf die Südtribüne und die Fans standen nach dem Motto „Jetzt erst recht“ wie ein Mann hinter dem Team, hat Wegmann Detail für Detail abgespeichert. Nach dem schnellen Ausgleich durch einen ebenso umstrittenen wie von Michael Zorc sicher verwandelten Strafstoß (53.) „gab es einen Sturmlauf auf ein Tor, und nach 68 Minuten macht der Marcel Raducanu auf Flanke von Daniel Simmes ein sehr schönes Kopfballtor“. Dortmund führte, aber ein Tor fehlte – und es fehlte auch noch kurz vor Schluss. Jürgen Wegmann in 11 Freunde über die letzte Minute: „Noch heute sehe ich die große Stadionuhr vor mir, die Zeiger drehten sich unerbittlich. Der Abpfiff rückte immer näher, wir waren körperlich am Ende, die Beine waren schwer, der Kreislauf spielte verrückt und auch das Publikum hatte die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben. Doch ich spürte tief in mir, dass da noch etwas gehen musste.“

Und das ging so: Storck kommt im Mittelfeld an den Ball, flankt ihn vom rechten Flügel aus der Drehung blind an die Strafraumgrenze. Doppel-Kopfballverlängerung durch Zorc und Simmes. Das Leder fällt im Sechzehner Ingo Anderbrüge vor die Füße, der zieht es fast von der Torauslinie von links mit links scharf vor das Tor. Kölns Keeper Jacek Jarecki kann den Ball nicht festhalten. Den Rest schildert wieder Wegmann im WDR: „Der Torwart macht einen kleinen Fehler, lässt den Ball abprallen – und ich stehe dann da, wo man als Stürmer stehen sollte, und drücke ihn irgendwie rein.“ Wenige Sekunden vor Schluss. Das Stadion gleicht einem Tollhaus, das Spiel wird unmittelbar nach dem Mittelanstoß abgepfiffen. Und weil die Europacup-Regel, nach der bei einem Remis in der Addition beider Spiele die Auswärtstore doppelt zählen, in der Relegation damals noch nicht zur Anwendung kommt, gibt es ein Entscheidungsspiel auf neutralem Platz.

Der Rest ist bekannt. Das Entscheidungsspiel, für den 23. Mai terminiert, musste kurzfristig um eine Woche verschoben werden, weil Kölns Mäzen und Macher Jean „Schäng“ Löring beim Deutschen Fußball-Bund plötzlich 13 Krankenscheine vorlegte. Magen-Darm-Virus im Fortuna-Kader. Angeblich. Für die BVB-Fans war klar: Ein taktisches Manöver, um die Euphorie, die Wegmanns 3:1 in Fußball-Dortmund ausgelöst hatte, auszubremsen. So dauerte es quälend lange bis zum Showdown am 30. Mau vor 50.000 Zuschauern im Düsseldorfer Rheinstadion, darunter mehr als 30.000 Fans in Schwarz und Gelb.

30 Minuten lang verteidigte Köln gegen die entschlossen anrennenden Borussen ein 0:0. Dann brach Dirk Hupe den Bann, und der schnelle Doppelschlag nach Wiederbeginn durch Zorc (46.) und Anderbrügge (49.) versetzte Fortuna endgültig den K.O. – Völlig demoralisiert kam der Zweitligist unter die Räder einer nun rauschhaft aufspielenden Borussia, für die Storck, Simmes, Wegmann, noch einmal Zorc und Frank Pagelsdorf die weiteren Tore erzielten.
Frank Fligge