190 Kinder und Jugendliche spielen in den zehn Nachwuchsmannschaften von Borussia Dortmund. Alle leben den gleichen Traum, aber nicht jeder kann ihn verwirklichen: den Sprung in die Bundesliga.

Sie alle aber genießen eine exzellente Ausbildung, die ihnen später eine Karriere im gehobenen Amateur-Bereich oder sogar als Profi ermöglicht. Aktuell haben 97 frühere BVB-Talente ihren Platz in den höchsten drei deutschen Ligen oder in den ausländischen Eliteklassen.

Marco Reus ist einer von aktuell fünf BVB-Profis, die sich ihr Rüstzeug im schwarzgelben Nachwuchs geholt haben. Neben ihm sind es Mario Götze – der Mann, der Deutschland 2014 zum Weltmeistertitel schoss – und Marcel Schmelzer sowie Jacob Bruun Larsen und Christian Pulisic, auch wenn der Däne und der US-Amerikaner erst im Alter von 16 Jahren nach Dortmund kamen. Pulisic wird sich in diesem Sommer seinen Traum von der Premier League erfüllen und wechselt für 64 Millionen Euro nach England – ein doppelter Beleg dafür, wie erfolgreich und zugleich wie wirtschaftlich die Nachwuchsarbeit bei Borussia Dortmund betrieben wird.

Neben den fünf aktuellen BVB-Profis stehen derzeit 92 ehemalige Nachwuchsspieler bei anderen Vereinen unter Vertrag und verdienen ihr Geld als Profifußballer. Darunter sind einstige Talente, die den Klub vor ihrem großen Durchbruch verließen, heute auf höchstem Niveau spielen wie Antonio Rüdiger in der Premier League beim FC Chelsea oder Koray Günter in der Serie A beim FC Genua. Bis nach China hat es den einstigen U17-Innenverteidiger Felix Bastians verschlagen, der nach vielen Stationen in Deutschland und Europa im Reich der Mitte seine neue Heimat gefunden hat. Und es finden sich in dieser Liste so bekannte Namen wie Marcel Halstenberg (Leipzig), der zwei Jahre lang in der U23 aktiv war und mittlerweile A-Nationalspieler ist, oder Nuri Sahin, der viele Jahre lang das schwarzgelbe Trikot trug, heute für Werder Bremen spielt und von dessen Erfahrungen viele heranwachsende Spieler profitieren können.

92 Namen, 92 Geschichten

Wir haben einige von den Jungs besucht und mit anderen telefoniert. Gemeinsam sind ihnen eins: gute Erinnerungen an Borussia Dortmund und das höchste Lob für Trainer und Verantwortliche im Nachwuchsbereich als auch auf Profi-Ebene: "Die Ausbildung beim BVB hilft mir in jeder Situation. Die war über achteinhalb Jahre hinweg immer top", sagt der im Sommer 2010 als Zwölfjähriger zu Borussia Dortmund gekommene Amos Pieper. Seit Anfang des Jahres spielt der mittlerweile 21-Jährige für Arminia Bielefeld in der Zweiten Bundesliga. Er geht dort quasi in die Lehre. Bei Redaktionsschluss standen vier Einsätze zu Buche, darunter das erste Spiel über 90 Minuten beim 2:2 gegen Fürth Ende März. "Im Jugendfußball", sagt Pieper, "muss man sich gegen ein oder zwei Jahrgänge durchsetzen. Plötzlich weitet sich das aus auf 18- bis 35-Jährige. Die Dichte ist viel höher. Selbst in der Regionalliga wird richtiger Männerfußball gespielt. Ich will nicht sagen, dass es ein Riesensprung ist, aber es ist eine riesige Veränderung."

Alle leben den Traum vom Profifußball, von der Bundesliga, von der Champions League. Der außergewöhnliche 98er Jahrgang, zu dem auch Amos Pieper gehört, gewinnt von 2014 bis 2017 unter Trainer Hannes Wolf viermal in Serie die Deutsche Meisterschaft, dreimal ist Pieper mit dabei. Höhepunkt ist das U19-Finale am 22. Mai 2017 gegen Bayern München vor der Rekordkulisse von 33.450 Zuschauern im Signal Iduna Park. Der Abwehrspieler verwandelt im Elfmeterschießen den 18. und letzten Schuss zum 8:7. Heute noch spricht er von einem "unbeschreiblichen Gefühl, in so jungem Alter, vor so vielen Zuschauern, vor der Gelben Wand – das werde ich mein Leben lang nicht vergessen".

"Da entwickelst du Siegermentalität und Persönlichkeit."

"Das sind die Spiele, aus denen die Jungs enorm viel mitnehmen", bestätigt Borussia Dortmunds Nachwuchskoordinator Lars Ricken, unter dessen Leitung der Klub mit dem Gewinn von insgesamt fünf Deutschen Meisterschaften der U17 und der U19 zwischen 2014 und 2018 Maßstäbe setzte: "Da entwickelst du Siegermentalität, da entwickelst du Persönlichkeit." "Ein Champions-League-Verein kann nicht 18 noch so erfolgreiche Nachwuchsspieler in der eigenen ersten Mannschaft integrieren", weiß der 21 Jahre junge Pieper: "Ich war immer Realist und bin froh, dass mir Arminia Bielefeld die Chance gibt, in der zweiten Liga zu reifen, die in Deutschland außergewöhnlich gut ist." 

"Wir interessieren uns in jedem Jahrgang nicht nur für die zwei, drei Top-Talente, sondern wir wollen aus jedem Spieler den besten machen, der er sein kann. Das kann nicht immer nur erste Bundesliga sein", erläutert Nachwuchs-Koordinator Lars Ricken die Dortmunder Ausbildungs-Philosophie: "Wir entwickeln gute Mannschaften, sodass die Top-Talente in ihrem Jahrgang nicht unterfordert sind, und diese Teams im Optimalfall um die Deutsche Meisterschaft mitspielen."

Zur kommenden Spielzeit rücken Tobias Raschl (19, Mittelfeld) und Luca Unbehaun (18, Torwart) in den Profikader. Ricken wertet das als "Bestätigung für die hohe Durchlässigkeit beim BVB" und fügt hinzu: "Die Entwicklung dieser beiden Spieler zeigt abermals, dass wir unsere Fühler nicht nur international ausstrecken, sondern großes Interesse daran haben, unsere eigenen Spieler in den Profibereich zu führen." Doch nicht alle können es packen im eigenen Haus. Sie finden dann woanders einen Platz im Profifußball, wie das Beispiel des jetzt bei Holstein Kiel in der zweiten Liga sehr erfolgreichen Janni Serra zeigt.

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Marc Hornschuh, Jeremy Dudziak und Christopher Buchtmann

92 ehemalige Spieler aus dem Nachwuchs von Borussia Dortmund haben aktuell ihren Platz in den höchsten drei deutschen Ligen oder in den ausländischen Eliteklassen. "Großartig" nennt Ricken diese Zahl. Drei von ihnen spielen derzeit beim FC St. Pauli: Marc Hornschuh (28), Jeremy Dudziak (23) und Christopher Buchtmann (26), alle schon einen Schritt weiter als Amos Pieper: etablierte Kräfte bei einem Top-Verein der zweiten Liga.

"Rausgehen. Warmmachen. Weghauen."

Diese drei Schlagworte begleiten die Spieler des Kiez-Klubs auf den Trainingsplatz. Die Trainings-Kiebitze bekommen bei "Biggi" den Kaffee ("klein") für einen Euro, das Würstchen ("nackt") für 1,20. Mit Toast werden nochmal 30 Cent fällig. Bodenständig geht es zu am Millerntor. Bodenständig geblieben ist auch die Dortmunder Fraktion beim Aufstiegskandidaten. Hornschuh war 2008 im B-Jugend-Finale Kapitän jener Dortmunder Mannschaft mit Daniel Ginczek oder Mario Götze, die der TSG Hoffenheim mit 4:6 unterlag. Während Buchtmann über 150 Ligaspiele für den Zweitligisten absolviert und seinen Stammplatz sicher hat, kämpft die frühere Stammkraft Hornschuh ums Comeback nach einem langwierigen Bandscheibenvorfall. Sein letzter Zweitliga-Einsatz datiert vom 16. September 2017. Doch es geht aufwärts. Im Januar kam er in einem Testspiel erstmals wieder zum Einsatz. "Ich kämpfe mich zurück und bin wieder voll im Training."

Und Jeremy Dudziak? Der 23-Jährige, von 2009 bis Dezember 2013 beim BVB, trainiert ab der kommenden Saison wieder unter Hannes Wolf, seinem früheren U17-Trainer (Saison 2011/12). "Er kommt zu mir, zum HSV. Ich freue mich." Wolf selbst ist wiederum ein Beispiel dafür, dass Borussia Dortmund nicht nur gute Fußballer ausbildet, sondern auch hervorragende Trainer. Aus der U23 schafften David Wagner, Daniel Farke und Jan Siewert den Sprung nach England, und Hannes Wolf führte zunächst die U17 von Borussia Dortmund, dann die U19 in drei aufeinanderfolgenden Jahren zur Deutschen Meisterschaft (2014 bis 2016), ehe er im Verlauf der der Saison 2016/17 die Chance erhielt, den VfB Stuttgart von der zweiten in die erste Liga zu bringen. Gleiches könnte ihm nun mit dem Hamburger SV gelingen. Sollte es klappen, hätte der 38 Jahre alte frühere BVB-Nachwuchscoach innerhalb von zwei Jahren zwei Traditionsvereine zurückgeführt in die Bundesliga.

"Borussia Dortmund ist in der Nachwuchsförderung ein wunderbarer Verein."

Hannes Wolf erinnert sich gern zurück an seine Zeit beim BVB, an "lebendige, herausfordernde Aufgaben", an "tolle Jungs, an tolle Charaktere" und betont: "Borussia Dortmund ist in der Nachwuchsförderung ein wunderbarer Verein. Ich war über sieben Jahre dort. Es war eine großartige Zeit, Spieler zu begleiten und zu sehen, wie sie wachsen und beim BVB oder woanders ihren Weg gehen." Er verweist auf Daniel Ginczek oder Antonio Rüdiger, "zwei aus der absoluten Top-Kategorie". Ginczek (28), von 2006 bis 2011 im BVB-Nachwuchs, heute beim VfL Wolfsburg, kommt auf 85 Bundesliga-Einsätze (25 Tore). Rüdiger (26) trug von 2008 bis 2011 das schwarzgelbe Trikot. Heute ist er deutscher A-Nationalspieler und steht beim FC Chelsea unter Vertrag.

19 der 92 sind in der Heimat geblieben und spielen derzeit für einen Klub aus Nordrhein-Westfalen. 36 der 92 ehemaligen BVB-Nachwuchsspieler verdienen ihr Geld wiederum im Ausland. Julian Koch ist bei Ferencvaros Budapest in Ungarn aktiv, Eric Durm und Jon Gorenc Stankovič spielen für Huddersfield Town (mit Trainer Jan Siewert), gar vierköpfig ist die Dortmunder Fraktion bei Norwich City mit Felix Passlack, Marco Stiepermann, Christopher Zimmermann und Mario Vrančić.

Nach Düdelingen verschlagen hat es Marc Kruska. "Ich muss ehrlich sagen: Bis dahin kannte ich auch keinen Verein in Luxemburg“, sagt der Mittelfeldspieler, der zwischen 2004 und 2008 in insgesamt 98 Bundesligaspielen das schwarzgelbe Trikot trug. "F91 Dudelange" sorgte in diesem Sommer für Schlagzeilen, als der Klub auf dem Weg in die Gruppenphase u.a. Legia Warschau ausschaltete, sich in der UEFA Europa League denkbar knapp mit 0:1 dem AC Mailand geschlagen geben musste und beim 0:0 gegen Betis Sevilla einen Achtungs- Punkt verbuchte. Zum nahenden Karriere-Ende will der bald 32-Jährige "ein bisher super Jahr mit dem Meistertitel und dem Pokalsieg abschließen. Es könnte sein, dass ich dann schon aufhöre". Kruska, der derzeit in der Nähe von Trier wohnt und eine Fahrgemeinschaft mit fünf anderen deutschen Spielern bildet, zieht es zurück in die Heimat, "auch um endlich wieder näher bei meinem Sohn zu sein".

"Es war eine prägende, eine tolle Zeit!"

Wirtschaftlich turbulente Zeiten beim BVB öffneten einfacher und schneller die Türen für die Top-Talente aus der eigenen Jugend. Kruska kam im November 2004 zu seinem ersten Bundesligaspiel. Bei der 0:1-Niederlage beim 1. FC Kaiserslautern saß er zunächst mit Lars Ricken auf der Reservebank, dann spielte er neben Sebastian Kehl im defensiven Mittelfeld. Am letzten Spieltag jener turbulenten Saison erzielte er beim 2:1 gegen Hansa Rostock sein erstes Bundesligator. Noch heute wird er in der Liste der jüngsten Torschützen auf Rang neun (17 Jahre, 10 Monate, 22 Tage) geführt.

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"Es war eine prägende, eine tolle Zeit", sagt Kruska im Rückblick. Über 440 Spiele hat er in erster, zweiter oder dritter Liga absolviert, auch dank der damals schon guten Ausbildung bei Borussia Dortmund. Gerade zu früheren Trainern oder Betreuern aus seiner Zeit beim BVB-Nachwuchs hält er bis heute noch regen Kontakt: "Irgendwie ist der Fußball eine große Familie."

Für Kevin Großkreutz ist die Süd auch heute noch eine zweite Heimat: "Meine Oma stand schon auf der Südtribüne, kein Witz. Mein Vater, meine Tante auch." Er selbst erstmals als Vierjähriger. Heute spielt er beim KFC Uerdingen. "Dortmunder Jung" aber ist er geblieben, wie so viele der anderen Schwarzgelb immer noch tief im Herzen tragen. Auch das spricht für die Nachwuchsabteilung von Borussia Dortmund.

Autor: Boris Rupert