In Axel Witsel hat Borussia Dortmund in dieser Saison einen Spieler hinzugewonnen, der für die nötige Balance sorgt. Witsel, der Kopf des Spiels, scheint in sich zu ruhen, doch er kann auch ausbrechen wie ein Vulkan, beispielsweise als Kopf in der Jubeltraube nach dem Sieg im Hinspiel. Voller Vorfreude blickt er seinem ersten Heimderby entgegen: „Gegen Bayern war die Stimmung schon außergewöhnlich, aber das Spiel gegen Schalke wird dieses Erlebnis sicher noch in den Schatten stellen.“ 

Axel, bist Du wichtiger und wertvoller als Cristiano Ronaldo bei Juventus Turin?

Nein. Nein, nein. Wir müssen seriös bleiben. Ich bin sicher ein wichtiger Spieler, aber ich kann mich nicht mit Cristiano Ronaldo oder mit Lionel Messi vergleichen. Diese beiden kommen von einem anderen Planeten. 

Einverstanden. Aber Belgiens Nationaltrainer Roberto Martinez bezeichnete Deinen Wechsel zu Borussia Dortmund – obwohl auch Ronaldo wechselte – als „besten Transfer der Saison. Weltweit“. Was ging Dir da durch den Kopf? 

Was Martinez meinte: Dortmund hat für mich ungefähr 20 Millionen Euro bezahlt, das fand er in Relation zu den marktüblichen Preisen wohl wenig. Er hat mich sicher nicht sportlich mit Ronaldo oder anderen auf eine Stufe stellen wollen. 

Heute, nach fast zehn Monaten im neuen Klub: Hatte Martinez recht damit, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis bei Dir perfekt passt?
Ich war verglichen mit den Summen, die heute gezahlt werden, tatsächlich nicht sehr teuer. Also hatte er recht. Ich glaube, dass ich mehr wert bin und in meinem ersten Jahr bei der Borussia gute Leistungen gezeigt habe. 

Haben sich Deine sportlichen Erwartungen in diesen zehn Monaten erfüllt?
Ja. Es lief alles viel schneller und viel besser als erwartet. Wenn du zu einem neuen Klub kommst, und wenn du aus China und aus einer sportlich nicht so anspruchsvollen Liga kommst, gehst du als neuer Spieler eigentlich davon aus, dass die Integration länger dauert. 

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Auf welche Schwierigkeiten hattest Du dich eingestellt? 

In der Bundesliga musst du jedes Spiel auf einem Top-Level bestreiten. Die Ausgeglichenheit der Klubs und die hohen physischen Anforderungen verzeihen kein Nachlassen. In Asien gibt es diese Intensität nicht, selbst in der asiatischen Champions League nicht. Darauf musste ich mich vorbereiten. Hilfreich war, dass ich vor meinem Start in Dortmund noch die Weltmeisterschaft mit Belgien gespielt habe – und physisch entsprechend präpariert war, mit dem BVB alle drei, vier Tage auf hohem Niveau gefordert zu sein. 

Du kennst das Gefühl, Meister zu werden aus Belgien und Russland. Definierst Du Dich als Profi vor allem über Titel? Deswegen spiele ich Fußball. Ich habe schon ein paar Trophäen in meiner Karriere gewonnen – und ich hoffe, dass mir das auch in Dortmund gelingt. 

Was sollte am Ende Deiner Karriere außer den Erfolgen in Lüttich, Lissabon und St. Petersburg noch auf der Autogrammkarte stehen?
Ich würde gern noch fünf, sechs Jahren spielen, je nachdem, wie ich körperlich beieinander bin. In dieser Zeit möchte ich schon noch ein paar Trophäen einsammeln. 

Beurteilst Du Deine erste Saison in Dortmund vor allem danach, ob am Ende Platz eins oder Platz zwei steht?
Ich habe nicht erwartet, dass wir es noch besser machen, als wir es bisher schon getan haben. Insofern wäre Platz zwei keine Enttäuschung für mich. Sollten wir aber Meister werden, wären das die Kirschen auf der Torte. So oder so: Ich nehme nur Positives mit aus meiner ersten Saison beim BVB. 

Die Mannschaft führte schon mit neun Punkten vor Bayern, zu Weihnachten waren es noch sechs. Hattest Du die dann folgenden Rückschläge erwartet?
Fußball ist verrückt. Manchmal bist du happy, wenn du vorne liegst, manchmal ist es genau andersherum. Deshalb lieben wir den Fußball, nur so lassen sich diese Emotionen erklären. Natürlich haben wir Fehler gemacht, und natürlich gab es Spiele, die wir eigentlich gewinnen mussten. Das gehört zum Entwicklungsprozess einer neuen Mannschaft. 

Also musste man diesem jungen BVB-Team seine Ups and Downs zugestehen?
Ich halte das für normal. Wenn du 18, 19 oder 20 Jahre alt bist, ist es ein großer Schritt, konstant auf einem hohen Niveau zu spielen. Diese Jungs lernen jeden Tag dazu, sie können unmöglich über den Erfahrungsschatz verfügen, den jemand mit 14, 15 Jahren Profifußball hat. 

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Jubelt wie einst Nicolas Anelka: Axel Witsel.

Was war Dein schönstes Erlebnis in dieser Saison? 

Das Heimspiel gegen die Bayern. Und mein erstes Bundesligator, zuhause gegen Leipzig. 

Du hast eine spezielle Art, Tore zu feiern. Geht das wirklich auf den französischen Alt-Internationalen Nicolas Anelka zurück?
Das stimmt. Als ich noch klein war, haben mein Vater und ich immer die Spiele der Franzosen angeschaut. Vor einem Spiel Lüttich gegen Anderlecht sagte mir ein Freund: „Wenn du triffst, musst Du jubeln wie Anelka.“ Seitdem mache ich das. Anelkas Geste mit den Händen soll bedeuten: Ich fliege. 

Was war das traurigste Erlebnis? 

Definitiv das 0:5 in München. Wir hatten auch vorher schon Spiele verloren, aber nie in dieser Art und Weise. 

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Warum fehlten bei dem Waterloo in München Mut und Mentalität?
Ehrlich, ich weiß es nicht. Ich habe keine Erklärung dafür, warum wir dort so aufgetreten sind. Um gegen ein Spitzenteam wie Bayern München bestehen zu können, musst du in allen Belangen top sein. Es funktioniert nicht, dort nur zu verteidigen und auf Konter zu warten. Wir müssen daraus lernen, die Tage danach waren sehr hart. 

Weil die Kritik so ungnädig ausfiel? 

Ich lese keine Zeitungen, ich verstehe ja auch nicht alles. Die öffentliche Wahrnehmung bewegt sich zwischen Extremen: Mal bist du der Größte, mal bist du der Sündenbock. Anders als im Hinspiel fehlte uns in München Persönlichkeit auf dem Platz. 

Für die Fans bleibt der Sieg in Schalke als ein Saison- Highlight. Für Dich war dieses Derby Neuland. Kennst Du etwas Vergleichbares?
Das ist natürlich alles viel kleiner, aber auch bei Standard Lüttich gegen Anderlecht ist die Atmosphäre ziemlich verrückt. Die beiden Mannschaften mögen sich nicht besonders – also ein bisschen so wie bei Dortmund gegen Schalke. 

Fühlt sich ein Sieg gegen Schalke anders und schöner an? 

Wie wichtig ein Derbysieg ist, habe ich in dem Moment verstanden, als wir am 8. Dezember zurück nach Dortmund kamen. Wir hatten 2:1 auf Schalke gewonnen, die Fans erwarteten uns am Trainingsgelände, und sie hörten gar nicht auf zu singen und zu jubeln. Wir sind raus aus dem Bus – mitten rein ins Getümmel. In diesen Minuten wusste ich, was ein Derbysieg allen bedeutet. 

Welche Bedeutung besitzt das Derby für Dich selbst? 

Ich kann die spezielle Wichtigkeit fühlen. Ich kann es kaum abwarten, im Rückspiel im Signal Iduna Park die besondere Atmosphäre zu spüren. Gegen Bayern war die Stimmung schon außergewöhnlich, aber das Spiel gegen Schalke wird dieses Erlebnis sicher noch in den Schatten stellen. 

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Quelle: instagram.com/axelwitsel28

Du warst im März in Disneyland. Warum hast Du Goofy um ein Autogramm gebeten?
Meine Tochter wollte das unbedingt. Normalerweise ist es ja umgekehrt (lacht), und Fans bitten mich darum, ein Shirt oder ein Foto zu unterschreiben. Ich war mit Kölns Anthony Modeste und dessen Familie in Disneyland, wir mussten etwas warten, dann hat meine Tochter ihre Unterschrift bekommen. 

Disneyland wirbt mit dem Slogan: Wo Zauberhaftes wahr wird. Gilt das auch für Dein Leben als Fußballprofi? (überlegt lange) Ich würde sagen: ja. Ich liebe das, was ich tue. Ich lebe meinen Traum. In Dortmund jetzt noch mehr als früher, weil ich auf einem Top-Level spiele. 

Hast Du noch Träume – als Spieler, als Mensch? 

Natürlich. Ich träume davon, mit Belgien Europa- und Weltmeister zu werden. Die WM 2022 in Katar traue ich mir noch zu. Und natürlich würde ich, wie ich schon sagte, gern mit Dortmund noch ein paar Trophäen gewinnen. 

Was wärst Du geworden, wenn es mit dem Fußball nicht geklappt hätte?
Bevor ich mich intensiver mit dem Fußball beschäftigt habe, wollte ich Architekt werden. Mein Vater war Bau-Unternehmer. Schon als ich drei Jahre alt war, habe ich meine erste kleine Mauer gebaut. Mein Vater hat mir dann davon abgeraten, in seine Fußstapfen zu treten: „Mach das nicht! Der Job ist zu hart für Dich.“ 

Du stammst aus Lüttich, der belgischen Großstadt, die Deutschland am nächsten liegt. Hast Du aufgrund dieser Nähe einen speziellen Draht nach Deutschland? 

Nicht wirklich. Nur vonseiten meiner Frau. Ihr Onkel kommt aus Deutschland. Das war bisher meine einzige Verbindung nach hier. 

Hast Du angesichts der räumlichen Nähe denn wenigstens viel Bundesliga-Fußball gesehen?
Um ehrlich zu sein: nein. Nur wenn Bayern gegen Dortmund spielte. Oder andere Begegnungen dieses Kalibers. 

Die zwei Stunden von Lüttich nach Dortmund fährt Dein Vater Thierry zu fast jedem Heimspiel. Hat er Dich auch in China oder St. Petersburg besucht?
Er war überall. Bei Benfica, in Russland, auch in China. Er war bestimmt fünf-, sechsmal in Russland und dreimal während meiner 18 Monate in China. In Dortmund hat er bisher nur die Spiele gegen Wolfsburg und Mainz verpasst. Dafür war er in München; ein Weg kostete ihn sieben Stunden mit dem Auto. 

Ist er ein strenger Kritiker? 

Nicht mehr. Wir sind beide erwachsen. Das ist jetzt keine Konversation mehr zwischen Vater und Sohn. Früher war das sehr hart für mich. Aber er hatte recht, und er wollte immer das Beste für mich. Wenn er mich dann zu streng rangenommen hat, musste mich meine Mutter trösten. 

Dein Vater sagt: „Axel kann nichts verrückt machen, er verliert nie die Kontrolle.“ Kann Dich wirklich nichts aus der Ruhe bringen?
Ich versuche wirklich, so ruhig zu bleiben wie ich kann. Ich mir nicht vorstellen, was diese Haltung ändern sollte. Mein Spitzname ist ja nicht umsonst „la chaloupe“, die Schaluppe. Ich bin auf dem Platz so ruhig und gelassen, wie sich diese kleinen Ruderboote auf dem Wasser bewegen. 

Liegt das daran, dass Du schon 30 Jahre alt bist und deshalb natürlich mehr Gelassenheit ausstrahlst auf dem Platz?
Ich war eigentlich mein ganzes Leben diese Schaluppe. Für meine Mutter war das nie normal, dass ich so entspannt bin. Ich bin aber so, auf dem Platz und außerhalb. 

Du bist Stratege, Spielmacher, Passkönig, Autorität und Anführer. Thomas Delaney will ein „aggressive leader“ sein. Was bist Du – ein „relaxed leader“?
Wenn ich jemandem etwas zu sagen habe, mache ich das auf direktem Weg. Ich versuche dabei immer, positiv zu bleiben. Bin ich deshalb ein „relaxed leader“? Ich weiß nicht. 

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Muss ein Leader auch mal schreien? 

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, ein Team zu führen. Man kann seine Teamkollegen mit Worten pushen und motivieren. Und man kann auf dem Rasen durch die Art und Weise vorangehen, wie man spielt. Ich kann beides. Wenn ich es für angebracht halte, ergreife ich das Wort, auch vor einem Match. Auf dem Rasen zeige ich meine Führungsqualitäten lieber durch mein Spiel. 

Benötigt die Dortmunder Mannschaft verschiedene Anführer?
Das denke ich schon. Der Kapitän allein kann das nicht leisten. Soll er auch nicht. In unserem Fall braucht Marco Reus ein paar Leute mit Erfahrung um sich herum. Leute wie Thomas Delaney, Lukasz Piszczek, Marcel Schmelzer, Mario Götze oder mich. 

Findet es Kapitän Reus gut, wenn Du mit Spielern sprichst oder vor der Mannschaft eine Ansprache hältst?
Das ist kein Problem für ihn. Warum sollte er etwas dagegen haben? So ist er nicht. 

Dan-Axel Zagadou nennt Dich „Tonton“, Onkel. Welche Ratschläge gibt der Onkel seinen jungen Kollegen?
Ich bin für diese Jungs da, wenn sie in einem Tief stecken. Wenn sie Aufmunterung oder Tipps brauchen. Als ich 19 oder 20 Jahre alt war, spielte ich nicht in so einem großen und bedeutenden Klub wie Dan oder Jadon heute. Ich sage ihnen: Es ist Wahnsinn, was ihr schon erreicht habt. Und ich rate ihnen, weiter fokussiert zu sein und hart zu arbeiten. Wer sich in Dortmund durchsetzt, kann später gehen, wohin er will. Wenn er will. 

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Sprichst Du nach einem missratenen Spiel wie in München viel mit Zagadou & Co?
Er ist jung, hat aber einen starken Charakter. Dan ist nicht der Typ, der eine Woche lang über einen Fehler oder über eine schlechte Leistung nachdenkt. Dan ist erst 19, ihm fehlt noch die Erfahrung. Ihm und den anderen jungen Spielern zu helfen, auch dabei, sich in einer neuen Kultur zurechtzufinden, ist eine Aufgabe von Führungsspielern wie mir. 

Eine Zeitung hat Dich mit Matthias Sammer verglichen, andere mit Sergio Busquets vom FC Barcelona, Toni Kroos von Real Madrid oder mit N’Golo Kanté vom FC Chelsea? Wem ähnelst Du am meisten? 

N’Golo Kanté? Finde ich nicht. Er ist physisch zwar sehr stark, aber ich glaube, dass ich technisch besser bin. Kroos? Busquets? Dann schon eher Busquets. Er ist ein Spielmacher und schießt in wichtigen Spielen oft das erste Tor für Barcelona. Das würde ich auch gerne. Ich möchte nicht behaupten, dass ich sein Niveau habe, doch: Wenn ich mich schon für einen entscheiden soll, dann für ihn. 

Du spielst fast immer. Welches Fitness-Geheimnis hast Du? 

Ich habe keines. Ich pflege meinen Körper auch nach dem Training und hatte das Glück, dass ich in den vergangenen Jahren ganz selten verletzt war. 

Hast Du Lucien Favre nie um die eine oder andere Pause gebeten?
Wir hatten so oft Pech mit Verletzungen: Da wäre es für den Trainer nicht so einfach gewesen, mich herauszunehmen und zu schonen. Außerdem: In der Bundesliga gibt es keinen kleinen Gegner, da verlangt es schon der Respekt vor jedem Gegner, die bestmögliche Aufstellung zu wählen. 

Du kommst bisher auf mehr als 40 Pflichtspiele in dieser Saison. Ohne müde zu werden?
Natürlich fühle ich mich schon einmal müde. Ich bin glücklich zu spielen – für den BVB und für mein Land. Außerdem schlafe ich gut. Meine Töchter sind jetzt schon etwas größer und lassen das zu. 

Marco Reus als frischgebackener Vater würde wahrscheinlich gern mit Dir tauschen.
(lacht) Das ist jetzt sicher nicht einfach für ihn. Marco entdeckt gerade die neue Welt eines Vaters. Die ersten Monate sind nicht leicht. Du schläfst nicht genug und musst trainieren. Aber: Vater zu sein, ist das Beste, was dir auf der Welt passieren kann. 

Interview: Thomas Hennecke