Seit seiner Rückkehr spielt Abwehrchef Hummels eine neue Rolle beim BVB. Er versucht vorzuleben, was er von seinen viel jüngeren Teamkollegen erwartet. Denn er ist sicher: „Wir haben Titel in uns.“

Mats Hummels kann sich noch gut an den Moment erinnern, als Hans-Joachim Watzke den entscheidenden Köder auswarf. „Er hat mich gefragt, ob ich noch einmal richtig wichtig, ein richtiger Anführer sein möchte“, erinnert sich der 32-Jährige: „Da habe ich gemerkt, wie sehr ich das möchte. Wie extrem mich das reizt.“ Hummels trug zu dem Zeitpunkt noch das Trikot des FC Bayern München, aber im Prinzip begann damals, im Frühjahr 2019, seine Mission bei Borussia Dortmund. 

Das Ziel dieser Mission ist eindeutig: „Wir brauchen Silberware.“ Dafür ist er zurückgekommen in jene Stadt, in der seine Karriere einst so unscheinbar begann. Im Januar 2008 wechselte er mit einem Bundesliga-Spiel auf dem Buckel ins Ruhrgebiet. Er war ein Talent, das schon. Aber mehr? Anfangs lieh ihn der BVB nur aus vom FC Bayern. Das Vertrauen in sein Leistungsvermögen und auch die finanziellen Rahmenbedingungen bei der Borussia reichten vor 13 Jahren noch nicht aus für einen langfristigen Vertrag. Wie sich die Zeiten ändern. Hummels war gerade einmal 19 Jahre alt, nur Insider kannten ihn. Er selbst kannte niemanden in seiner neuen sportlichen Heimat. „Außer Sebastian Tyrala und Marc- Andre Kruska aus den U-Nationalmannschaften“, sagt Hummels beim Treffen im Westfalenpark. Die Wahl des Ortes lässt ihn schmunzeln, ist er doch eng mit einer seiner ersten Dortmunder Erinnerungen verknüpft.

„Hans-Joachim Watzke hat mich gefragt, ob ich noch einmal richtig wichtig, ein richtiger Anführer sein möchte ...“

Hummels war damals gerade frisch in der Stadt, wohnte noch innenstadtnah im Hotel. „Ich wollte joggen gehen und dachte mir: Och, der Westfalenpark ist doch ganz nett“, erzählt er: „In München kommst du umsonst in die Parks. Hier sollte ich Eintritt bezahlen, 2,30 Euro oder so.“ Mangels Kleingelds in der Tasche führte seine Laufstrecke dann kurzerhand am Westfalenpark vorbei. Derlei Irrtümer scheinen heute, 13 Jahre später, unvorstellbar. Nicht nur, weil Hummels in einem Haus am nahegelegenen Phoenixsee wohnt und sich in der Gegend bestens auskennt. Auch, weil ihn inzwischen hier jeder erkennt. Das Personal am Eingang grüßt freundlich, die Mitarbeiter des Grünflächenamts, die das Laub zusammenkehren, schielen verstohlen hinüber. Ist er das?

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Nach der anderthalbjährigen Leihe war die feste Bindung an den BVB nur noch Formsache. Der Spott über den vermeintlichen „Kinderriegel“, wie der Boulevard die junge Innenverteidigung mit Hummels und Neven Subotic taufte, verklang noch schneller als der über die Abschlussschwäche des jungen Robert Lewandowski. In den folgenden Jahren bis zu seinem Wechsel 2016 reifte Hummels zum Anführer einer Meistermannschaft, deren Spielweise er mit seinen tiefen Außenristpässen maßgeblich prägte. Geschäftsführer Watzke bekannte beim emotionalen Abschied, noch nie so sehr um einen Spieler gekämpft zu haben wie um Mats Hummels. Wie sich die Zeiten ändern.

Als er zum zweiten Mal nach Dortmund wechselt, ist vieles gleich geblieben. Der 1,91-Meter-Hüne kennt fast jeden im Klub, die Abläufe, die Eigenheiten. Und doch ist alles anders. Hummels ist nicht länger jemand, der sich orientieren muss. Seit seiner Rückkehr aus München im Sommer 2019 gibt er Orientierung. Den jungen Nebenleuten, die noch zur Grundschule gingen, als Hummels sein Profi-Debüt feierte. Und einer ganzen Mannschaft, die er regelmäßig als Stellvertreter von Marco Reus als Kapitän auf den Rasen führt.

Neben Marcel Schmelzer und Lukasz Piszczek ist Hummels der letzte Doublesieger von 2012 im Kader von Borussia Dortmund. Er soll nicht nur die Brücke schlagen zwischen der damaligen, goldenen Ära und der aktuellen. Er will es auch. Selbst, wenn das nicht immer einfach ist. „Ich glaube, Nuri Sahin war damals von den jüngeren Spielern der Einzige, der schon ein bisschen prominenter war. Marcel Schmelzer, Sven Bender, Neven oder auch ich mussten sich erst einmal unsere Sporen verdienen und auch manche Kritiker widerlegen, die nicht an uns geglaubt haben“, sagt Hummels. Heute hingegen seien viele Spieler schon in sehr jungen Jahren Stars: „Da fehlt mir manchmal so ein kleines bisschen der letzte Biss, sich wirklich jeden Tag zu opfern. Das klingt jetzt krass, aber nur so entwickelst du dich wirklich weiter.“ Mit dieser Einstellung feierte der BVB seine größten Erfolge. Diese Mentalität versucht Hummels seinen Mitspielern vorzuleben.

Das passiert weniger mit Worten als mit Taten. „Wenn wir im Training drei gegen drei spielen, haue ich mich voll rein. Ich liebe Fußball, und ich liebe den Wettkampf, und sei er noch so unwichtig. Diese völlige Hingabe für das Spiel, egal, um was es geht: Es gibt nichts Schöneres, als im Trainingsspiel mit der letzten Grätsche für die Entscheidung zu sorgen.“ Während er das erzählt, leuchten seine Augen, angespannt zeichnen seine Hände die siegbringende Aktion in die Luft. Mats Hummels mag mehr als 400 Bundesligaspiele auf dem Buckel haben, zwei Weltmeisterschaften und ein Champions-League-Finale. Seine Leidenschaft für den Fußball ist ungebrochen.

Jene bedingungslose Hingabe fehle der Mannschaft noch für den nächsten Schritt, glaubt Hummels. Die Partien gegen Augsburg (0:2) oder Köln (1:2) in dieser Hinrunde seien dafür beste Beispiele. Die Schwarzgelben waren jeweils deutlich überlegen, gerieten dann aber durch Unachtsamkeiten in Rückstand. Am Ende fehlte die Zeit, um das Blatt noch zu wenden. Eigentlich fest eingeplante Punkte wanderten zum Gegner, der sein Glück anschließend kaum fassen konnte. „Unsere Mannschaft ist in einigen Momenten etwas zu anfällig“, gibt auch Hummels zu: „Die Leistungen sind schwankend, und das ist bitter. Eigentlich haben wir alle Voraussetzungen. Wir haben Titel in uns, das weiß ich. Aber dafür müssen wir ein Klima schaffen, in dem jeder jeden Tag Gas gibt und seriös arbeitet.“ Seine Erfahrung aus inzwischen fast zehn Profi-Jahren beim BVB, dreieinhalb beim FC Bayern und insgesamt neun bei der deutschen Nationalmannschaft lehrt ihn, dass der komplette Fokus auf das gemeinsame Ziel die Voraussetzung dafür ist. „Dann sind auch mal Hackentricks und solche Dinge drin. Aber davor braucht es Arbeit, Arbeit, Arbeit.“

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Im Training, aber auch in den Spielen, geht Hummels voran. Kein BVB-Feldspieler wurde in den vergangenen anderthalb Jahren häufiger eingesetzt als der Abwehrchef. Der stabilisiert neuerdings nicht nur die Defensive, sondern setzt auch im gegnerischen Strafraum Akzente. Sein Doppelpack beim 2:0 in Bielefeld war der erste im Dortmunder Dress seit Januar 2010 (3:2 in Köln). Und noch etwas hat sich verändert in der Spielweise des Mannes, der seit Jahren auf sein herausragendes Stellungsspiel reduziert wurde. Als der kicker im Herbst ein großes Ranking aller deutschen Verteidiger erstellte, landete Hummels mit 33,29 km/h Spitzengeschwindigkeit unter den schnellsten Sprintern – schneller jedenfalls als die amtierenden Nationalspieler. In puncto Erfahrung übertrifft er sie ohnehin alle.

„Mats weiß, wie man gewinnt“, lobte Sportdirektor Michael Zorc den Routinier bei der Wieder-Verpflichtung und formulierte gleichzeitig die Erwartung des Klubs an den Einkauf: „An seiner Seite können viele Spieler besser werden.“ Er sollte Recht behalten. Seit der Rückkehr von Hummels sank die Gegentorquote beständig. In der Saison 2018/19 sah der BVB nach einem üppigen Vorsprung nach der Hinrunde lange wie der sichere Titelträger aus. Am Ende war die Gegentorquote mit 1,29 Treffern pro Spiel zu hoch für Meisterehren. Die Schale gewannen seinerzeit Hummels und seine Bayern-Kollegen. In der Saison 2019/20, der ersten nach dem Comeback in Schwarzgelb, sank dieser Wert auf 1,20. In der laufenden Spielzeit lag er phasenweise unter der Grenze von einem Gegentor pro Partie. Eine stabile Abwehr war lange Zeit keine Kernkompetenz Dortmunder Mannschaften – mit Hummels kehrt sie langsam zurück.

„Der BVB ist ein Verein für besondere Abende. Die Kultur bei Heimspielen, aber auch auswärts, ist einfach so, dass ganz spezielle Dinge passieren können.“

Trotzdem waren die Vorbehalte groß – wie auch bei den Comebacks von Shinji Kagawa, Nuri Sahin und Mario Götze. Passen sie noch zum BVB? Sind sie noch so gut wie in ihrer ersten Dortmunder Periode? Hummels zerstreute alle Bedenken durch Leistung – und zwar von Beginn an. Gegen den FC Barcelona gelang ihm in seinem ersten Champions-League-Spiel an alter Wirkungsstätte das Kunststück, 90 Minuten lang alle Zweikämpfe, die er führte, zu gewinnen. Selbst wenn er nach dem Schlusspfiff einräumte, bei einem Duell mit Luis Suarez nicht ganz sicher gewesen zu sein – die Statistiker waren es. Auch bei den rauschhaften Siegen gegen Inter Mailand (3:2) und Paris St. Germain (2:1) gehörte Hummels zu den absoluten Leistungsträgern. Es sind Erlebnisse, die ihn in seiner Entscheidung, zum BVB zurückzukehren, jedes Mal aufs Neue bestätigen.

„Der BVB ist ein Verein für besondere Abende. Die Kultur bei Heimspielen, aber auch auswärts, ist einfach so, dass ganz spezielle Dinge passieren können. Es gibt nur ganz, ganz wenige Klubs auf der Welt, bei denen so etwas möglich ist. Vielleicht noch Liverpool, das mussten wir schmerzhaft erfahren“, sagt Hummels mit Blick auf das bittere Aus im Viertelfinale der Europa League (3:4). Doch oft genug lief es andersherum. „Als wir gegen Inter aus einem 0:2 eine Führung gemacht haben, ist alles ausgerastet, das Dach quasi weggeflogen. Oder als Erling Haaland das 2:1 gegen PSG gemacht hat. Das sind Momente, die bleiben für immer in Erinnerung. Da werde ich noch in vielen Jahren ein Kribbeln spüren, wenn ich daran denke.“ Auch wegen Abenden wie diesen sehnt Hummels wie alle die Rückkehr der Zuschauer in die Stadien herbei. Nur dann sind echte BVB-Momente wieder möglich.

Mats Hummels ist zurückgekommen, weil er beim BVB noch nicht fertig war.

Wer Inter Mailand oder PSG besiegt, der weckt bei allen Beteiligten Erwartungen, Hoffnungen ... auf Wiederholung. Allein: Beliebig reproduzieren lassen sich derlei Triumphe nicht, schon gar nicht in Corona-bedingt verwaisten Stadien. Die Auslastung der Südtribüne mag vor Monaten auf den Nullpunkt gefallen sein. Die Erwartungshaltung im Umfeld des Klubs blieb ganz oben. Auch das ist übrigens ein Unterschied zu Hummels‘ erstem Karriereabschnitt in Dortmund. Damals war der BVB ein Mittelfeld-Team, jeder Sieg wurde freudig beklatscht. Heute werden sie in seinen Augen zu oft vorausgesetzt.

„Zu denken, wir könnten jedes Spiel 5:0 oder höher gewinnen, ist Quatsch“, sagt er: „Das passiert vielleicht zwei- oder dreimal pro Saison. Wenn du richtig gut drauf bist, vielleicht auch fünfmal. Aber jeder Sieg ist zuerst einmal harte Arbeit. Das unterschätzen viele.“ Auch in den Meisterjahren 2011 und 2012 habe man nicht an jedem Wochenende die Sterne vom Himmel gespielt. Retrospektiv seien nur die Highlights in Erinnerung geblieben. So entstehe ein verzerrtes Bild. Hummels jedenfalls klingt überzeugt, wenn er sagt: „Über einen 2:0-Arbeitssieg freue ich mich genauso wie über 25 zauberhafte Kombinationen, die zu fünf Toren führen.“ Fußball als Arbeit, das ist seine Botschaft.

Und seine Mission? Hummels ist zurückgekommen, weil er beim BVB noch nicht fertig war. Weil die Aussicht, eine hochtalentierte Kollegenschar zu prägen und zu Titeln zu führen für ihn reizvoller war als bloß einer unter vielen Trophäensammlern zu sein. Vollendet ist diese Mission noch nicht. Aber Mats Hummels arbeitet jeden Tag daran.
Autor: Simon Pausch
Fotos: Alexandre Simoes