Ärmel aufkrempeln, rein in den Zweikampf und mit dem Ball am Fuß raus aus dem Getümmel. Das ist die Spielweise eines modernen Abfangfängers, mit Kampfkraft, Technik und Übersicht ausgestattet. Bei allem Einsatz kommt Salih Özcan fast ohne Fouls aus, bei seiner Passquote steht eine brillante „9“ vorne. Ein Gespräch mit einem jungen Mann zwischen zwei Positionen, zwischen zwei Sportarten und zwischen zwei Nationen.

Hallo Salih! Erzähl uns doch mal, wie sich ein Kölner Junge in Dortmund fühlt!
Gut, nein: sehr gut: Dortmund ist eine sehr feine Stadt, nicht ganz so groß wie Köln, aber mit schönen Ecken überall. Die meiste Zeit verbringe ich auf dem Trainingsplatz in Brackel, aber ich war auch schon in ein paar großartigen Restaurants und hatte ein paar Mal Gelengenheit, an den Phoenixsee zu fahren, vor allem im Sommer, da waren meine Verwandten zu Besuch. Die haben gesagt: Was für eine schöne Gegend! Das ist ja wie Urlaub hier!

Vor einigen Wochen hattest du eher unfreiwillig Zeit zum Entspannen, wegen einer Verletzung aus dem Derby gegen die Blauen. Ein so genanntes Knochenödem – eines dieser Wörter, das vor ein paar Jahren noch kaum jemand kannte.
Ja, da gibt es noch so einige Ausdrücke in der Medizin, die keiner kennt und auch keiner kennen will. Das Knochenödem im Fuß war nicht weiter dramatisch, aber sehr hartnäckig. Egal, jetzt ist wieder alles in Ordnung.

Du bist in Köln-Ehrenfeld aufgewachsen, knapp 100 Kilometer Luftlinie von Dortmund entfernt. Hattest du vor deinem Wechsel schon einen besonderen Draht zum BVB?
Ich kannte die Spieler alle aus der Bundesliga, aber ich müsste lügen, wenn ich behaupte, dass ich schon immer heimlich nach Dortmund geschielt habe. Dafür habe ich hier ja dann zwei Jungs getroffen, mit denen ich 2021 in Slowenien die U21-Europameisterschaft gewonnen habe. Bei Nico Schlotterbeck und Karim Adeyemi stand es ja schon ein Weilchen früher fest, dass sie zum BVB gehen. Das war für uns schon eine schöne Sache, denn mit gemeinsamen Bekannten fällt einem so ein Start in einem neuen Klub natürlich leichter. Aber keiner hat von den anderen gewusst, dass wir uns in Dortmund wiedersehen würden – und wenn man uns das damals bei der EM gesagt hätte, dann hätten wir wahrscheinlich alle gelacht. 

Du hast mal gesagt: Es ist schön, wenn die Beziehung zwischen Trainer und Spieler einfach gut ist. Das war zuletzt bei Steffen Baumgart in Köln so und auch in der U21 bei Stefan Kuntz...
... und mit Edin Terzic funktioniert das beim BVB auch ganz wunderbar. Er ist immer offen und ehrlich zu mir, auch wenn ich mal nicht so gut spiele oder im Training schlechte Aktionen habe. Es ist mir unglaublich wichtig, dass der Trainer in solchen Situationen zu mir kommt und sagt: Hey Salih, das war jetzt echt blöd! Edin spricht Themen direkt an und weiß ganz genau, welche Ideen er in die Mannschaft bringen will. So war das auch bei Steffen Baumgart in Köln und bei Stefan Kuntz, ihn hatte ich ja etwas länger in der U21 und jetzt wieder in der türkischen Nationalmannschaft. Bei ihm steht die Tür immer offen. Wenn ich jetzt ein Problem hätte, könnte ich ihn sofort anrufen und wir würden eine Stunde lang telefonieren, mindestens.

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Kuntz hat mal gesagt, du wärst bei ihm als Mensch noch weiter gewesen denn als Fußballer. Was kann denn der Fußballer Salih Özcan noch so alles lernen?
Sehr viel! Das Schöne am Fußball ist, dass du nie auslernst. Du kommst nie an einen Punkt, wo du sicher sein kannst: Jetzt habe ich alles erreicht! Ich arbeite jeden Tag an meinen Defiziten.

Zum Beispiel?
Ich könnte schon noch ein bisschen torgefährlicher werden. Das ist auf meiner Position sicherlich nicht das Entscheidende, und ich freue mich natürlich genauso über jeden Sieg, bei dem ich kein Tor schieße. Aber da geht schon noch was, auch an meinem Passspiel muss und werde ich weiterarbeiten. Außerdem könnte mein schwacher Fuß ein bisschen besser werden, auch wenn er natürlich nie so gut sein wird wie der starke.

In deiner Statistik liest sich das ganz anders. Du hast im bezahlten Fußball neun Tore gemacht - drei mit dem linken Fuß, drei mit dem rechten und drei per Kopf.
Tatsächlich? Na, da sieht man, dass ich es ernst meine mit meinem Vorhaben, täglich an mir zu arbeiten. Ich bin ein Rechtsfuß, habe aber kein Problem damit, einen sauberen Pass mit links zu spielen.

Auf Youtube gibt es ein sehr lustiges Interview, das Erik Meijer mit dem jungen Salih Özcan geführt hat. Da spielte er noch für die Jugend des 1. FC Köln, ein stilles und schmales Bürschchen mit Milchgesicht. Meijer geht mit ihm auf dem Golfplatz, später spielen die beiden Tischtennis und zwischendurch werden allerlei Fragen abgearbeitet. Unter anderem, wer denn das Vorbild des Nachwuchsspielers Salih Özcan in der Bundesliga sei. Kannst du dich noch an deine Antwort erinnern?
Hmm... Zinedine Zidane? Nein, der war ja nie in der Bundesliga. Sorry, aber das ist so lange her, ich war bei diesem Interview 16 oder 17 Jahre alt. Kannst du mir weiterhelfen?

Robert Lewandowski!
Tatsächlich? Der spielt nun nicht gerade auf meiner Position, aber er ist natürlich eine sehr eindrucksvolle Persönlichkeit mit einer unglaublichen Ausstrahlung auf dem Platz, das haben wir in den letzten Jahren alle zu spüren bekommen.

Ist es für den BVB eine gute Sache, dass Lewandowski jetzt in Barcelona stürmt und nicht mehr für die Bayern?
Nein, so denke ich nicht. Für die Bundesliga ist es schade, dass Spieler wie er oder Erling Haaland nicht mehr da sind. Aber wir leben nicht in der Vergangenheit, sondern jetzt und hier.

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In jenem Interview hat dich Erik Meijer auch gebeten, auf einer Taktiktafel die beiden Positionen einzukringeln, auf denen du deine Zukunft siehst. Schon damals wolltest du im zentralen Mittelfeld spielen, am liebsten auf der Zehn, gern aber auch auf der Sechs.
Genauso ist es gekommen. Im Zentrum lenkt man das Spiel, das liegt mir. Früher habe ich das offensiver auf der Zehn gespielt, heute eher defensiv auf der Sechs. Ich glaube schon, dass diese Position heute einen noch höheren Stellenwert hat als damals, bei dem Interview mit Erik Meier. Da wollte doch jeder auf der Zehn spielen.

Im modernen Fußball mit seinem Schwerpunkt auf dem Umschaltspiel ist die Balleroberung auf der Sechs heute der Ursprung aller Kreativität. Dir sieht man in jedem Spiel an, wie viel Spaß du dabei hast.
Na klar! Wenn du in einem Heimspiel den Ball eroberst, einen Gegenangriff einleitest und das ausverkaufte Stadion jubelt - glaube mir, das ist ein unglaubliches Gefühl!

Die Balleroberung ist nur ein Teil des Umschaltspiels. Der zweite ist die saubere und schnelle Weiterverarbeitung, mit dem Pass in die Tiefe oder der Verlagerung auf die Flügel. Dazu bedarf es der technischen und intellektuellen Fähigkeiten eines Spielmachers. Ist der perfekte Sechser heute einer, der genauso gut auf der Zehn spielen könnte?
Interessante Frage. Ich glaube, heute ist es auf jeder Position enorm wichtig, dass du den Ball gut weiterverarbeiten kannst, erst recht auf allerhöchstem Niveau in der Champions League. Ballannahme, -eroberung und -weiterleitung, da muss alles stimmen.

Heißt das, dass du für die Zukunft gar nicht so sehr auf die Sechs festgelegt bist?
Ich sehe mich nicht als Flügelspieler oder irgendwo anders. Die Sechs ist schon die Position, auf der ich bleiben will. Aber auch da gibt es unterschiedliche Interpretationen. Mal spielt man mit einer Raute, mal mit einer Doppelsechs. Oder schau dir unseren großartigen Jude Bellingham an, der hat so viel Spaß am Fußball, dass du ihn schon mal auf seine Position zurückrufen musst. Aber es macht wahnsinnigen Spaß, mit ihm zu spielen und ihm den Rücken freizuhalten.

Wie gut ihr das Mittelfeld als Doppelsechs organisieren könnt, durften die Fans im schönsten Stadion der Welt zuletzt in einem nicht ganz unwichtigen Spiel beobachten. Wie war denn dein erstes Derby gegen die Blauen?
Schon sehr beeindruckend! Ich kenne das Derbygefühl aus Köln von den Spielen gegen Gladbach, aber in Dortmund ist alles noch mal eine Nummer krasser, größer, lauter! Es ist ja noch nicht so lange her, dass wir zu Corona-Zeiten ohne Zuschauer spielen mussten, so etwas ist bei einem Derby besonders schmerzhaft. Egal, aus und vorbei! Wir genießen den Fußball wieder richtig, vom Staff über den Trainer bis zur Mannschaft. Und dass wir den Fans dann noch einen Sieg schenken durften, macht es noch ein bisschen - hmm, darf ich das sagen: ein bisschen geiler? Ach doch, wir sind ja beim Fußball!

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Es gibt in Dortmund neben dem von dir geschätzten Phoenix-See und den vielen tollen Restaurants auch eine Luta-Livre-Akademie in Dortmund. Warst du schon mal da?
Nein, dafür fehlt mir leider die Zeit. Das Programm hier in Dortmund mit den vielen englischen Wochen. Und wenn dann doch mal Zeit ist, dann nutzt du die zum Regenerieren. Das soll nicht heißen, dass ich den zweiten Sport ganz abgeschrieben habe. Aber der muss warten, bis ich in den Ferien mal wieder Zeit habe.

Luta Livre kommt aus dem brasilianischen Portugiesisch und heißt so viel wie freier Kampf. Ein Mix aus Ringen, Taekwondo und Wrestling. Kleine Reminiszenz an vergangene Zeiten, und was heißt schon zweiter Sport - früher gab es keine Rangfolge. Als der kleine Salih in Köln-Ehrenfeld aufwuchs, spielte er für sein Leben gern Fußball. Aber genauso gern ist er mit dem Vater und den beiden Brüdern in die Turnhalle der Helios Schule gegangen, auf die Matten des Ringerclubs Ehrenfeld. Bis zum 15. Lebensjahr hat Salih dort gerungen, und ganz loslassen kann er immer noch nicht.

Das Ringen ist immer noch deine heimliche Liebe. Wie sehr hat dich diese Liebe gefordert in den Tagen, als du dich nicht nur auf dem Fußballplatz, sondern auch auf der Ringermatte ausgetobt hast?
Wenn du jung bist, wirst du nie müde. Es hat einfach gepasst, und bis heute liebe ich das Ringen genauso wie den Fußball, auch wenn die Prioritäten jetzt klar verteilt sind. Das eine ist der Beruf, das andere ein Hobby.

Ringen und Fußball haben auf den ersten Blick nicht so wahnsinnig viel miteinander zu tun. Erkläre doch mal den BVB-Fans deine Faszination für diesen Kampfsport.
Wahrscheinlich besteht das Faszinierende für mich darin, dass es etwas völlig anderes als der Fußball ist. Du benutzt beim Ringen deinen kompletten Körper, vom Kopf bis zu den Füßen musst du jede Sekunde lang angespannt sein. Und es gibt immer neue Techniken, an die du vorher gar nicht gedacht hast. Wenn du einmal angefangen hast, willst du immer weiter, immer mehr lernen. Es gibt keinen Stopp, du willst dir alles aneignen. Dazu kommen Kraft und Ausdauer, ohne die geht es nicht. Für mich ist Ringen der perfekte Sport.

Hast du in Ehrenfeld auch auf Wettkampfebene gerungen?
Oh ja! Bis 2012, da war ich 14. Es gab Wochenenden, da hatte ich vormittags ein Spiel, und gleich danach bin ich zu einem Kampf gefahren. Diese Doppelbelastung hat mir und meinem Körper sehr gutgetan. Der 1.FC Köln hat das nicht nur toleriert, er hat das sogar unterstützt. Der damalige Jugendleiter hat das sehr gut gefunden und mir einen Tag in der Woche freigegeben für das Ringen. Das war schon eine sehr noble Geste!

Wie gut war denn der Ringer Salih Özcan?
Ich war gut. Es hätte vielleicht nicht zur Deutschen Meisterschaft gereicht, aber zu ordentlichen Platzierungen. Und doch war es für mich nie eine Frage, den Fußball für das Ringen aufzugeben. Und auch mein Papa, der nun wirklich ein großer Ringerfreund ist und gegen den ich noch selbst auf die Matte gegangen bin, wäre nie auf die Idee gekommen, mir den Fußball für das Ringen auszureden. Aber genauso stand für mich fest, dass ich mit dem Ringen nie aufhören würde.

Ringen genießt in der Türkei die Wertschätzung als Nationalsport, aber wie bei Salih Özcan steht es klar im Schatten des Fußballs. Natürlich gab es einen landesweiten Aufschrei, als die Nationalmannschaft Ende September 1:2 beim Fußball-Zwerg Färöer verlor. Salih Özcan hat unter dem neuen Nationaltrainer Stefan Kuntz bislang fünf Länderspiele absolviert und seinen Teil dazu beigetragen, dass die Türkei den Aufstieg in die B-Gruppe der Nations League schaffte. Bei der Pleite im zugigen Stadion von Tórshavn fehlte er wegen des im Derby erlittenen Knochen-ödems im Fuß.

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Salih, was ist denn da auf den Färöern passiert?
Um Himmels Willen, frage mich bitte nicht! Ich war nicht dabei, will keinem die Schuld geben, aber auch nicht nach Entschuldigungen suchen. Ich habe es mir im Fernsehen angeschaut und mitgelitten. So ein Spiel darfst du nicht verlieren. Punkt.

Bist du vielleicht insgeheim froh, dass du nicht mitspielen konntest? Denk mal zurück an Österreich! Großartige Spieler wie Andreas Herzog und Toni Polster müssen sich ihr Leben lang daran erinnern lassen, dass sie 1990 auf den Färöern verloren haben.
Noch mal: So denke ich nicht! Ich leide mit meiner Mannschaft und allen Kollegen, die dieses Spiel verloren haben. Da stehen Menschen auf dem Platz und keine Roboter.

Du hättest genauso gut für die deutsche Nationalmannschaft spielen können.
Habe ich aber nicht. Im Rückblick kann ich sehr stolz darauf sein, dass sich zwei Nationalmannschaften um mich bemüht haben. Ich hatte ein gutes und sehr respektvolles Gespräch mit Hansi Flick. Am Ende habe ich mich für die Türkei entschieden, und ich hatte meine Gründe dafür.

Hamit Altintop, geboren in Gelsenkirchen und später türkischer Nationalspieler, hat mal gesagt: Ich bin Deutschland sehr, sehr dankbar, ich habe hier sehr viel gelernt und sehr viele Chancen bekommen. Aber meine Mama kommt aus der Türkei, mein Vater kommt aus der Türkei, ich bin Türke.
Das trifft es ganz gut. Ich war stolz, für die deutsche U21 zu spielen, ich war stolz, die Europameisterschaft zu gewinnen. Aber es ist noch mal eine ganz andere Sache, für das Land zu spielen, aus dem deine Eltern kommen und wo du deine Wurzeln hast. Meine Mama kommt aus Ankara, mein Papa aus Malatya. Das bedeutet mir etwas. Wir haben zu Hause immer Türkisch gesprochen, gesungen und gekocht. Zu Hause war alles türkisch. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, aber im Kopf ist die Türkei mein Zuhause.

Lass uns doch mal vorstellen, was bei der Europameisterschaft 2024 in Deutschland passieren könnte. Du spielst mit der Türkei gegen Deutschland - lieber in Köln oder in Dortmund?
Das ist eine schwierige Frage. Vom Stadion hier würde ich sagen: unbedingt in Dortmund! Das gäbe mit Sicherheit eine sensationelle Atmosphäre. Aber, ganz ehrlich, Köln hätte auch seinen Reiz. Das ist die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, wo meine Familie lebt, wo ich meine Freunde habe. Da gegen Deutschland zu spielen, wäre schon eine großartige Sache!

Autor: Sven Goldmann
Fotos: Alexandre Simoes