Als die Verantwortlichen von Borussia Dortmund im Sommer 2018 mangelnde Mentalität als ein Problem des Profikaders ausmachten, gaben sie den Lösungen Namen. Ein Name, von dem sie glaubten, dass er Teil der Lösung sein könnte, lautete: Thomas Delaney. Im Interview mit dem Mitgliedermagazin Borussia spricht der Däne über sich und die aktuelle Situation.

Der Himmel über dem Trainingsgelände ist grau in grau mit einer ganz dezenten Tendenz zum Aufreißen. Und das ist durchaus symbolisch für die Stimmungslage bei Schwarzgelb. Wir schreiben den Freitag vor dem Leverkusen-Spiel. Der BVB hat fünf Pflichtspiele hintereinander nicht gewonnen. Er hat in der Bundesliga 1:1 in Frankfurt, 3:3 gegen Hoffenheim und 0:0 in Nürnberg gespielt. Er ist im DFB-Pokal nach Elfmeterschießen gegen Bremen ausgeschieden und hat sich in der Champions League bei Tottenham Hotspur nicht eben das erarbeitet, was der Fußball-Volksmund eine „gute Ausgangsposition“ für das Rückspiel nennt. Schon wabert durch die Medien das böse Wort: K-R-I-S-E. Kaum 50 Stunden und ein 3:2 gegen Bayer später wird Borussia „spektakulär in die Spur zurückgefunden“ haben.

Mediale Aufgeregtheiten, die Thomas Delaney nicht anfechten. Aufgeregt und temperamentvoll ist der 27-jährige Mittelfeldspieler nur in den 90 plus x Minuten zwischen Anpfiff und Abpfiff. Dann krabbeln die irischen Gene seines US-amerikanischen Vaters aus den Tiefen seiner Persönlichkeit an die Oberfläche. In der weitaus längeren Zeit zwischen Abpfiff und Anpfiff ist Delaney tendenziell eher tiefenentspannt. Durch den Alltag trägt ihn die Ruhe und Gelassenheit der dänischen Provinz. Dänen zügeln sich.

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Thomas, Du hast am 3. September Geburtstag. Sternzeichen Jungfrau. Jungfrauen, sagt man, seien analytisch, diszipliniert und logisch denkend. Wahr oder falsch?
Um ehrlich zu sein – ich bin ein Double-Faced-Character. Wenn du diese Eigenschaften auf mein Privatleben anwendest, kommt das der Wahrheit vermutlich recht nahe. Ich brauche eine klare Struktur, habe gerne geregelte Abläufe. Ich mag es, wenn die Dinge so laufen wie geplant. Ein gewisser Drang nach Sicherheit ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Diszipliniert bin ich natürlich auch als Sportler. Sonst kannst du auf diesem Niveau nicht spielen. Aber ob ich auf dem Platz immer analytisch und logisch unterwegs bin . . .

. . . Jungfrauen sind auch, sagt man, perfektionistisch, überkritisch und rechthaberisch. Das sind alles Charaktereigenschaften, die auf Mitmenschen eher anstrengend wirken. Wahr oder falsch?
Puuuh, keine Ahnung. Mich gibt’s halt zweimal. Ich bin ein Unruhig-Spieler – oder wie sagt Ihr auf Deutsch? Mich treibt unentwegt an, die Dinge regeln zu wollen. Ich will Zweikämpfe führen, in Kopfball-Duelle gehen. Ich diskutiere mit dem Schiedsrichter und den Gegenspielern und ich versuche, meine Mitspieler zu führen. Manchmal überdrehe ich dabei ein wenig. Manchmal werde ich sogar laut. Privat werde ich niemals laut. Privat rede ich auch nicht so viel. Und ich glaube nicht, dass ich besonders anstrengend bin. Aber das müsst Ihr vielleicht eher meine Freundin fragen. Als Fußballprofi habe ich einen sehr hohen Anspruch an mich selbst und auch an andere. Früher war ich dbei tatsächlich nicht immer diplomatisch . . .

. . . und heute?
. . . habe ich dazugelernt. Ich bin erwachsener geworden und versuche, auf die unterschiedlichen Charaktere meiner Mitspieler einzugehen. Deshalb ist es wichtig, sie so schnell wie möglich so gut wie möglich kennenzulernen. Andererseits ist ein Fußballspiel keine Diskussionsrunde. Man muss auch mal deutlich werden können. Klare Kante reden – so sagt Ihr hier doch. Mir ist wichtig, dass ich ich selbst bin und dass ich ehrlich sein kann. Als junger Spieler habe ich meine Emotionen auf dem Platz manchmal nicht im Griff gehabt und konnte es nicht verbergen, wenn ich genervt war. Bis mich einer meiner Trainer gelehrt hat, anderen besser nicht zu zeigen, dass ich sauer bin, weil es mich angreifbar macht und dazu führt, dass ich die Konzentration und den Fokus auf das Wesentliche verliere. Inzwischen funktioniert das ganz gut.

Borussia Dortmund hat Dich im Sommer 2018 verpflichtet, weil es im Kader an „Mentalitätsspielern“ fehlte. Andere sprechen auch von „Aggressive Leader“ oder von „Bad Guys“. Bei allem Respekt, aber wie ein böser Junge wirkst Du nicht gerade. Und alle, die Dich ein wenig kennen, sagen: Thomas Delaney ist der netteste Mensch der Welt.
(schmunzelt) Ich glaube auch nicht, dass es darum geht, böse zu sein. Im Gegenteil: Ich versuche, mich jederzeit unter Kontrolle zu haben. Als ich neu in Bremen war, hat der Trainer mich ausgewechselt, nachdem ich die Gelbe Karte erhalten hatte. Er fürchtete wohl, dass ich mir gleich als nächstes Rot abholen würde. Aber wenn Ihr mal in meine Statistik schaut, werdet Ihr sehen, dass ich in meiner Laufbahn zwar schon viele Verwarnungen erhalten habe, aber noch kein einziges Mal vom Platz geflogen bin.

Wenn es nicht darum geht, der fiese und gemeine Abräumer zu sein – wie wird man dann ein „Mentalitätsspieler“?
Indem man Führungsverantwortung übernimmt. Darüber habe ich mit Michael Zorc und Sebastian Kehl sehr intensiv gesprochen, als es um meinen Wechsel zum BVB ging. Ich wusste sehr genau, was sie von mir erwarten. Und ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich den Erwartungen gerecht werden kann. Natürlich wusste ich: Ich kann diese Art Spieler sein. Grundsätzlich kann ich das. Aber kann ich es auch auf diesem Niveau? Ich komme von einem international unbedeutenden Verein aus einem kleinen Land. Und auch in Bremen war es für mich eher einfach, weil der Klub mit dem Rücken zur Wand stand, als ich Anfang 2017 hinzustieß. Aber Borussia Dortmund ist ein großer Verein mit großen Ambitionen. Für mich war von Anfang an glasklar: Der Weg zu einem der Leader beim BVB würde ausschließlich über Leistung führen. Das bedeutet nicht, dass ich der beste Spieler sein muss. Aber ich würde sehr gut sein und mein Bestes geben müssen. Nur dann kann ich den Anspruch haben, eine solche Mannschaft mit zu führen. Das hat auch etwas mit Akzeptanz zu tun. Ein Leader muss von seinen Mitspielern akzeptiert werden – und wer keine Leistung bringt, dem fehlt zwangsläufig die Akzeptanz.

Was macht für Dich dieses „Führen“ aus?
Physisch präsent sein. Sich in schwierigen Phasen nicht wegducken. Die Mitspieler unterstützen und anleiten. Den Jüngeren Halt und Sicherheit geben. Ihnen den Rücken freihalten. Räume zulaufen. Zweikämpfe führen. Ich bin ja im Spiel eher selten für die spektakulären Szenen zuständig. Das machen andere. Ich rede auch nicht mit jedem Mitspieler über alles. Warum sollte ich mich mit Jadon Sancho über Dribblings unterhalten? Davon habe ich doch gar keine Ahnung. Was Jadon mit dem Ball anstellt, werde ich ohnehin nie verstehen. Das ist kein Fußball wie ich ihn spiele. Das ist eher . . . tanzen.

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Und worüber redest Du dann mit Jadon?
Über Zweikämpfe zum Beispiel. Die mag er nämlich nicht besonders – was ich durchaus verstehen kann, weil sich viele seiner Gegenspieler nicht anders zu helfen wissen als mit Fouls. Oder über Kopfbälle. Da kann er auch noch dazulernen. Und da habe ich dann auch das Gefühl, dass ich ihm noch etwas beibringen kann.

Neben Dir im zentralen Mittelfeld spielt jemand, von dem man auch eine Menge lernen kann: Axel Witsel. Ihr zwei habt vom ersten Tag an harmoniert, als hättet ihr nie mit jemand anderem zusammengespielt. Wie erklärst Du dir das? Es ist ja nicht so, dass man einfach mal zwei sehr gute Fußballspieler zusammenführt – und dann läuft das automatisch . . .
Wahrscheinlich ergänzen wir uns so gut, weil wir so unterschiedlich sind. Axel zum Beispiel redet auf dem Feld sehr wenig. Jedenfalls mit dem Mund. Er redet stattdessen mit den Füßen. Er hat eine unglaubliche Sicherheit am Ball, aber auch eine wahnsinnige Selbstsicherheit. Daraus resultiert diese enorme Ruhe und Dominanz in seinem Spiel. Er macht intuitiv immer das Richtige und hat niemals Angst vor Tacklings. Ich finde das wirklich unglaublich beeindruckend. Ich bringe ganz andere Eigenschaften und Qualitäten ein. Wir lernen gegenseitig voneinander.

Thomas Joseph Delaney, so sein vollständiger Name, hat das Fußballspielen in seiner dänischen Heimat gelernt. Er stammt aus Frederiksberg, einer Kleinstadt nahe Kopenhagen. Mit dem Hauptstadtklub FC Kopenhagen wurde er viermal dänischer Meister und dreimal Pokalsieger. 172 Spiele hat er in der Superligaen bestritten und 2018 mit der Nationalmannschaft das Achtelfinale der WM in Russland erreicht. Sein Debüt in der Nationalmannschaft feierte Delaney 2013 im Alter von 22 Jahren. 34-mal hat er seither für sein Land gespielt und dabei vier Tore erzielt.

Als Leistungsträger beim bedeutendsten dänischen Fußball-Klub hast Du frühzeitig in der Schaufenster-Auslage gestanden. Englische und deutsche Vereine gehen gerne in Dänemark shoppen. Trotzdem bist Du erst mit 25 Jahren ins Ausland gewechselt. Warum so spät?
Ich hatte nie einen Karriereplan, in dem an oberster Stelle stand, dass ich so früh wie möglich zu einem großen Verein ins Ausland wechseln muss. Meine Ziele lauteten anders. Ich wollte mich beim FC Kopenhagen durchsetzen, Kapitän dieser Mannschaft werden und die Meisterschaft gewinnen. Kopenhagen – das war mein Verein. Ich wollte der beste Spieler des FC Kopenhagen sein – das war mein Ziel. Und ich weiß ganz ehrlich nicht, ob es funktioniert hätte, wenn ich mit 19 Jahren in die Premier League oder in die Bundesliga gewechselt wäre. Vielleicht wäre ich dann heute nicht hier. Als ich Anfang 2017 zu Werder Bremen kam, war ich sehr gut vorbereitet und fühlte mich bereit für diese Herausforderung.

Offenbar hast Du genau den richtigen Zeitpunkt abgepasst.
Wir hatten den Transfer vertraglich ja schon im Sommer 2016 besiegelt – den Vollzug aber erst für die Winterpause 2016/17. Als ich dann nach Bremen kann, stand die Mannschaft auf Platz 15. Und der erste Gegner war Bayern München, der dritte dann Borussia Mönchengladbach. Danach waren wir Drittletzter. Trotzdem war das für mich der ideale Start, denn ich war in Spielen gegen große Mannschaften immer besonders gut. Mich fordert das heraus. Es setzt etwas in mir frei.

Auch bei Borussia Dortmund hat Thomas Delaney seinen Platz schnell gefunden. Sportlich, klar, im zentralen Mittelfeld als Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff. Aber auch in der Hierarchie der Mannschaft, die sich nach dem personellen Umbruch des Sommers 2018 neu herausbilden musste. Dass er in wichtigen Spielen da ist, bewies der Däne in seinem ersten Revierderby. Ausgerechnet beim 2:1-Erfolg auf Schalke erzielte Delaney am 8. Dezember vergangenen Jahres sein erstes Bundesliga-Tor für den BVB. Da weiß einer, wie man sich in Dortmund Freunde macht.

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Der BVB hat eine Hinrunde fast wie im Rausch gespielt. Auch der Start in die Rückserie lief perfekt. 1:0 in Leipzig. 5:1 gegen Hannover. 1:1 in Frankfurt. Doch dann war diese sprichwörtliche Leichtigkeit auf einmal weg. Gegen Hoffenheim hat die Mannschaft in der letzten Viertelstunde eine 3:0-Führung noch aus der Hand gegeben. Wie erklärst Du dir das?
Jede Saison hat ihre Phasen. Keine Mannschaft spielt von August bis Mai auf demselben Level. Und es gibt auch nie nur den einen Grund, wenn es mal nicht so läuft. Bei uns war es so, dass einige wichtige Spieler aufgrund von Verletzungen ausgefallen sind und die Automatismen nicht mehr so griffen. Hinzu kommt, dass die Gegner uns natürlich analysiert und sich besser auf uns eingestellt haben. Viele Mannschaften stehen extrem tief. Sie sind zufrieden, wenn sie gegen den BVB ein 0:0 ermauern. Das ist ihr oberstes Ziel. Und dann spielst du, wie in Nürnberg, 90 Minuten lang mehr Handball als Fußball. Gegen Hoffenheim war es anders. Da haben wir die erste Halbzeit total dominiert. Dann erhöhen wir, obwohl die Dominanz schon verloren gegangen war, auch noch auf 3:0, können sogar das 4:0 machen – und verhalten uns in der Defensive ziemlich naiv. In dem Moment hat uns vielleicht auch die Routine gefehlt. Nicht die Routine der einzelnen Spieler, das meine ich nicht, sondern die Routine als Mannschaft, weil wir gemeinsam noch nicht durch solche Situationen gegangen sind.

Das heißt aber auch: Die Fans müssen sich nicht grundsätzlich Sorgen machen?
Ich will nicht lügen: Es fühlt sich im Moment alles ein wenig schwerer an als über weite Strecken der Hinrunde. Aber Sorgen mache ich mir wirklich nicht. Gar nicht. Denn eines zeichnet uns aus, und das ist eigentlich das Beste überhaupt an unserem Team: Wir wollen immer gewinnen. Als wir in der Hinrunde in Leverkusen 0:2 zurücklagen, wollten wir weiter gewinnen. Und wir haben gewonnen. Als wir zuhause im Hinspiel gegen Augsburg kurz vor Schluss den Ausgleich kassiert haben, wollten wir weiter gewinnen. Und wir haben gewonnen. Und als wir gegen den FC Bayern zweimal in Rückstand geraten sind, wollten wir dennoch gewinnen. Und wir haben gewonnen. Unsere Mannschaft hat einen ausgeprägten Siegeswillen.

Etwas Besseres kann man kaum sagen über Borussia Dortmund – nicht einmal zehn Monate nach der sportlich zwar halbwegs versöhnlichen, emotional jedoch ernüchternden Endphase der Spielzeit 2017/18. Der BVB hat wieder Mentalität. Spieler, die die Ärmel hochkrempeln. Spieler wie Thomas Delaney. Man spürt wieder Teamgeist. Der Funke springt über. Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt! Ach, übrigens: Die Wolkendecke über dem Trainingsgelände ist inzwischen aufgerissen. Die Sonne strahlt von einem tiefblauen Frühlingshimmel.

Du hast einmal in einem Interview gesagt, Du würdest gerne in der Premier League spielen, in Japan, in den USA – und am Ende noch einmal zum FC Kopenhagen zurückkehren. Nun ist ein Fußballerleben endlich. Wie viele dieser Wünsche passen noch in Dein Fußballerleben?
Tatsächlich habe ich zu meiner Bremer Zeit auf die Frage nach meinen Zielen und Wünschen für die Zukunft gesagt, dass mich die Premier League reizt. Und als ich dann nicht nach Chelsea, Liverpool oder Manchester gewechselt bin, sondern zum BVB, hieß es gleich: Das ist aber nicht England, das ist ja ‚nur‘ Dortmund. Dabei hatte ich die Premier League lediglich als Beispiel dafür genannt, dass mich viele Dinge interessieren. Auch Japan. Auch die USA. Und dann habe ich noch mindestens 100 andere Wünsche, von denen wahrscheinlich keiner jemals in Erfüllung gehen wird. Aber das ist nicht schlimm. Nichts davon muss passieren, um mich zu einem glücklichen Menschen zu machen. Ganz ehrlich: Wenn meine Laufbahn hier in Dortmund enden würde, wäre alles gut!

Nun wollen wir nicht alle 100 Wünsche mit Dir durchgehen. Aber einen vielleicht . . .
Ich würde am Ende meiner Profikarriere gerne in den Spiegel schauen und zu mir selbst sagen können: Thomas, du hast mehrheitlich die richtigen Entscheidungen getroffen. Du hast es unter dem Strich gut hinbekommen. Du hast dich clever angestellt und aus den vielen Privilegien, die so ein Fußballerleben mit sich bringt, etwas gemacht. Das ist so ein Wunsch. Und der lässt sich vielleicht sogar erfüllen.
Interview: Frank Fligge