Borussia Dortmunds Nachwuchskoordinator Lars Ricken (42) hat in seiner aktiven Karriere viele Titel geholt - unter anderem gewann er 1997 die Königsklasse mit seinem BVB. Seit mehreren Jahren steht er der gegenwärtig erfolgreichsten deutschen Fußballnachwuchs-Schmiede vor. Im Interview mit "DIE WELT" spricht Ricken über Borussia Dortmunds Nachwuchs-Philosophie, Schwachstellen im System und eine neue Generation Fußballer, die lernen muss, mit Widerständen umzugehen.

Herr Ricken, Oliver Bierhoff hat bei der Nachwuchsarbeit "Schwachstellen im System" ausgemacht und beklagt, dass es deutschen Talenten an Widerstandsfähigkeit und mentaler Stärke fehlt. Hat er recht?

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass bei einigen jungen Spielern heutzutage die Widerstandsfähigkeit nicht so stark ausgeprägt ist wie früher. Wir widmen uns diesem Thema schon seit einigen Jahren. Ich kann als Nachwuchskoordinator eines großen Vereins nicht darauf warten, bis mir jemand Konzepte oder Strategien vorlegt, wie dies anzugehen ist. Das müssen wir schon selbst leisten. Oliver Bierhoff hat ja auch gesagt, dass sich die Wirkung einiger der Maßnahmen, die der DFB ergreifen will, erst in fünf bis 15 Jahren zeigen wird. Ich kann aber schlecht zu Michael Zorc und Hans-Joachim Watzke gehen und sagen: 'Wir werden jetzt leider eine Durststrecke haben, bis sich Erfolge einstellen.' Genau deshalb haben wir schon vor Jahren entsprechende Maßnahmen ergriffen.

Woran haben Sie Defizite im Bereich Mentalität festgemacht?

Wir hatten auch in unserem Nachwuchsbereich Entwicklungen beobachtet, die wir für bedenklich hielten: Beispielsweise hatten wir in Bezug auf unsere U19-Mannschaft in den vergangenen zwei Jahren festgestellt, dass wir zwar den stärksten Kader in Deutschland hatten, uns aber trotzdem mitunter nur mit Mühe und Glück ins Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft spielen konnten. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich um kein rein fußballspezifisches Problem handelt: Es fehlte den Spielern häufig an Widerstandsfähigkeit. Das ist in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu sehen. Junge Menschen tun sich heute schwerer, gegen Widerstände anzukämpfen. Wir wollen aber keine kleinen Prinzen in bunten Fußballschuhen entwickeln!

Ziel: "Starke Mannschaften, die auch um die Deutsche Meisterschaft spielen"

Was tut Borussia Dortmund gegen diesen gesellschaftlichen Trend?

Als eine Maßnahme haben wir speziell für die jüngeren Mannschaften eine Elternschule eingeführt. Konkret haben wir einen Maßnahmenkatalog zur bewussten Herausbildung von Verantwortlichkeiten erstellt - für die Spieler, die Trainer und die Eltern.

Warum für die Eltern?

Eltern sind speziell für die ganz jungen Spieler auch Trainer, Manager und Förderer. Doch das darf nie dazu führen, dass sie ihren Kindern immer nur die besten und teuersten Fußballschuhe kaufen und alles abnehmen. Auch darf nicht jedes Problem vom Vater oder der Mutter gelöst werden, die Jungs müssen lernen, Problemlösungen selbstständig anzugehen. Das müssen die Jungs lernen - aber auch die Eltern.

Außerdem hat der BVB ein Bildungsprogramm für Spieler aufgelegt. Was beinhaltet das?

Dieses Programm ist speziell auf die älteren Jahrgänge zugeschnitten. Schließlich haben wir auch viele Spieler im U19-Bereich, die bereits die Schule beendet haben und nur noch Fußballspieler sind. Diese Spieler machen bei uns die Trainer-B-Lizenz. Sie bekommen aber auch Anleitungen für den Alltag: Was ist zu tun, wenn ich meine erste Wohnung beziehe? Worauf muss ich achten? Sie erhalten eine Ernährungsberatung und eine Unterweisungen m Umgang mit Social Media. Sie bekommen Englisch- und Spanischunterricht, ein Rhetoriktraining. Es gibt einen Workshop, den wir gemeinsam mit unseren Fanbeauftragten durchführen: Wie ist unsere Fanszene zusammengesetzt? Wofür stehen die einzelnen Ultragruppierungen? Es gibt Impulsreferate über Mut, Motivation und echte Leidenschaft von ehemaligen Spielern wie Sebastian Kehl und Florian Kringe.

Ist es nicht ein grundlegendes Problem, dass der Schwerpunkt im Nachwuchsbereich zu sehr auf den Spielergebnissen liegt und zu wenig auf der individuellen Förderung?

Uns ist es wichtig, dass wir starke Mannschaften haben, die auch um Platz eins oder die Deutsche Meisterschaft spielen, denn durch solche Herausforderungen und Ziele lernen die Spieler Widerstandsfähigkeit. Sie lernen nichts, wenn sie um Platz vier oder Platz fünf spielen. Sie lernen etwas, wenn sie vor 34.000 Zuschauern ein Finale gegen Bayern München spielen.

Großteil der aktuellen U21-Feldspieler stammen vom BVB

Der Einfluss von Beratern ist über die vergangenen Jahren auch im Jugendbereich kontinuierlich gewachsen. Welche Gefahren ergeben sich daraus?

Natürlich ist es ein schmaler Grat zwischen Begleiten und Verhätscheln - Spieler müssen begleitet und angeleitet werden, Probleme selbst zu lösen. Die Gehälter im Jugendbereich sind mit denen von vor zehn Jahren nicht mehr zu vergleichen. Auch gibt es kaum noch einen talentierten Jugendspieler, der keinen Berater hat. Hinzu kommt die Bedeutung der Social-Media-Aktivitäten, die dazu führen, dass sich Spieler häufig nicht nur anhand der Leistung auf dem Platz, sondern 19 insbesondere auch an der Anzahl der Follower einschätzen. Das birgt Gefahren. Das Kerngeschäft Fußball und die Erkenntnis, dass ein Nachwuchsleistungszentrum keine Komfortzone ist, werden teilweise verdrängt.

Warum gibt es in den Profi-Kadern der Bundesligisten weniger im eigenen Nachwuchs ausgebildete Spieler als in anderen großen europäischen Ligen?

Es gibt immer noch sehr viele junge deutsche Spieler, die bereit sind, sehr hart, diszipliniert und mit ganz viel Leidenschaft zu arbeiten. Aber natürlich ist die Chance auf einen sozialen Aufstieg eine wichtige Motivation, um darauf hinzuarbeiten, Profi-Fußballer zu werden. Und punktuell kann diese Motivation in anderen Ländern etwas höher sein als in Deutschland. Hinzu kommt, dass man in Deutschland bis zum 18. Lebensjahr zur Schule gehen muss. In England, Spanien und Frankreich ist das anders. Dort können sich Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr häufig komplett auf die Karriere konzentrieren. Das hat Auswirkungen auf die Trainingsintensität und die Regenerationsmaßnahmen.

Auffällig ist, dass es derzeit keinen aktuellen deutschen U21-Nationalspieler im Bundesligakader des BVB gibt. Warum ist das so?

Das liegt natürlich an dem hohen Anspruch, den wir in Dortmund haben, und dem damit verbundenen Wettbewerb. Aber das heißt ja nicht, dass hier keine Spieler ausgebildet werden, die dann später in der U21 spielen. Die Bayern und wir sind die Vereine, die die meisten der aktuellen U21-Feldspieler ausgebildet haben.

"... da ging uns das Herz auf"

Ist der Markt im Jugendbereich mittlerweile zu stark internationalisiert?

Natürlich ist der Markt ein europäischer geworden. Zu meiner Zeit als Spieler war ich das Toptalent in Deutschland. Damals war der Markt aber noch nicht so professionalisiert wie heute. Sonst hätte der BVB damals durchaus sagen können: 'In England gibt es noch einen Michael Owen, in Frankreich einen Patrick Vieira, in Chemnitz einen Michael Ballack.' Heute müssen sich unsere Talente mit Talenten aus ganz Europa auseinandersetzen. Auch der BVB setzt im höheren U-Bereich auf internationale Toptalente - aber wir wollen es nicht in der Breite machen, sondern wirklich nur Spieler aus dem Ausland holen, in denen wir ein außergewöhnlich großes Potenzial sehen. Wie bei Pulisic, Bruun-Larsen oder aktuell bei Gio Reyna und Immanuel Pherai.

Jadon Sancho war dafür bekannt, extrem viele Opfer gebracht zu haben, um sich seinen Traum vom Profi-Fußball erfüllen zu können. Sind deutsche Talente nicht mehr bereit, sich genügend zu quälen?

Es ist ein gehöriger Aufwand, den die Jungs betreiben müssen: Du hast in der Woche einen Arbeitsaufwand von 70, 80 Stunden, du hast im Prinzip zwei Jobs: Schule und Fußball. Du stehst oft um sechs Uhr auf und hast erst abends um 20.30 Uhr Feierabend - und das fünfmal pro Woche. Das ist kein Spaß! Wir wollen aber trotzdem, dass die Spieler am Wochenende mit ganz viel Spaß und Spielfreude auflaufen. Das zu gewährleisten ist nicht immer einfach. Auch ist die Anzahl der Spiele durch die Auswahlmannschaften, in denen die Toptalente spielen, in den letzten Jahren stark angestiegen. Ich sehe aber noch ein anderes Problem.

Welches? 

Wir reden ja auch über Persönlichkeitsentwicklung und darüber, Typen zu entwickeln, die durchsetzungsstark und konfliktfähig sind. Deshalb müssen wir aufpassen, dass junge Spieler nicht nur in der Blase Fußball leben, sondern auch noch Kontakt zu Menschen behalten, die keine Leistungssportler sind. Kürzlich hat einer unserer Jugendspieler Geburtstag gefeiert. Er hat acht Leute eingeladen, darunter waren nur zwei Mitspieler und sechs Mitschüler aus seiner Klasse. Ganz ehrlich: Da ging uns das Herz auf!