Als Kevin Großkreutz am späten Donnerstagvormittag um kurz vor Elf in den Flieger nach Dortmund stieg, empfing ihn aus dem hinteren Teil der Kabine warmer Applaus. Mit seinem Siegtreffer gut zwölf Stunden zuvor hatte er seinen Klub ins Achtelfinale der UEFA Champions League geschossen – und den mitgereisten Fans eine lange, feuchtfröhliche Nacht beschert.

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Marian Sarr gegen Marseilles Sturmführer Gignac

Auch im Mannschaftshotel des BVB war es spät geworden. Das eine oder andere Glas Bier ging ebenfalls über den Tresen, doch überwiegend war es Apfelschorle, die durch die durstigen Kehlen der Spieler rann nach einem harten Kampf, nach einem aufwühlenden Match, das nicht zum frühen Schlafengehen einlud.

„Dieses Spiel passt irgendwie zu dieser Saison“, meinte Großkreutz und spielte auf die vielen Widrigkeiten an, denen Borussia Dortmund im Spieljahr 2013/14 trotzen muss. Um fünf Leistungsträger beraubt (Hummels, Subotic, Schmelzer, Gündogan, Bender), stattdessen mit einem 18-jährigen Debütanten in der Innenverteidigung, mit einer hoch überlegenen Spielweise und doch nur mit einem 1:1 bis zur 87. Minute, den K.O. vor Augen, weil Chancen in Hülle und Fülle ausgelassen wurden und Marseilles einzige Möglichkeit in diesem Spiel überhaupt zum Ausgleich geführt hatte. Dass dieser Treffer regelwidrig war, weil Torschütze Diawara sowas von klar im Abseits stand, dies aber weder Tor-, noch Linien- oder Schiedsrichter erkannten, passt ebenso ins Bild – und damit zu diesem Spiel, das der kicker als „gesundheitsgefährdenden Krimi“ einstufte, und eben zu dieser Saison.

 „… kostet mich Jahre meines Lebens“
„Ich habe gezweifelt“, gestand Präsident Dr. Reinhard Rauball, „ja, das habe ich.“ Auf Hans-Joachim Watzkes Gesicht machte sich erst spät in der Nacht Erleichterung breit. „So ein Spiel kostet mich viele Jahre meines Lebens“, sagte der BVB-Chef, und da konnte er schon wieder lächeln. Zumal Jürgen Klopp ironisch feststellte: „Er sollte sich mittlerweile daran gewöhnt haben, dass es bei uns mal eng werden kann…“

Diese Mentalität, dieses Immer-an-sich-glauben, ist eines der Qualitätsmerkmale der Borussia. „Jürgen Klopp hat der Mannschaft über Jahre implementiert, dass sie bis zuletzt daran glaubt, etwas reißen zu können“, lobte Watzke in höchsten Tönen: „Die Mannschaft hat schon oft gezeigt, dass sie dann am stärksten ist, wenn die Schwierigkeiten am größten sind.“

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Erleichtert und glücklich: Hans-Joachim Watzke

Dass Borussia Dortmund in einem Champions-League-Spiel die linke Abwehrseite mit Marian Sarr und Erik Durm, 18 und 21 Jahre jung, bekleiden würde (müsste wäre das falsche Wort, weil es diesen hoch veranlagten Jungs nicht gerecht würde!), war vor wenigen Wochen nicht zu erahnen. Der eine, Durm, bereitete wie schon im Hinspiel das Lewandowski-Tor vor, machte seine Seite dicht und hatte für jede Problemstellung eine spielerische Lösung zur Hand, der andere spielte so cool, als wäre es das Normalste der Welt, in einem der wichtigsten Spiele der Saison im wichtigsten Klubwettbewerb der Welt zu debütieren. „Marian hat mehr gezeigt, als ich erhofft oder sogar erträumt hatte. Er war cool am Ball, hat keinen wichtigen Zweikampf verloren“, staunte Klopp. „Man muss mutig sein“, betonte Watzke, „und unser Trainer war mutig. Dafür ist er belohnt worden.“

BVB sammelt Punkte in Europa
Zum zweiten Mal hintereinander hat Borussia Dortmund die K.O.-Runde in der Königsklasse erreicht. So etwas gelang zuvor nur in den 90er Jahren (1996, 1997, 1998), als man allerdings Stars kaufte – und nicht selber machte. „Die Mannschaft hat phantastische Reaktionen gezeigt in einem Halbjahr, in dem viel gegen uns gelaufen ist, vor allem mit den Verletzungen. Wir sind zurückgekommen und haben das Rennen für uns entschieden. Das ist außergewöhnlich gut“, attestierte Klopp.

3,5 Millionen Euro beträgt die Prämie für den Einzug in die Runde der besten 16 Teams Europas, dazu partizipiert der BVB auch weiterhin am Market-Pool, der unter den vier Bundesligisten aufgeteilt wird. Doch noch wichtiger: Für das Erreichen des Achtelfinales gibt es fünf Bonuspunkte in der Fünfjahreswertung der UEFA. Insgesamt 53,042 Zähler sammelte der BVB in den letzten anderthalb Jahren; mehr als Madrid, Chelsea oder Barcelona. Nur die Bayern (58,042) sind noch erfolgreicher als die Borussia, die aber eben wie keine zweite Mannschaft für Spektakel und Spielkunst zugleich steht und am Mittwochabend insgesamt über neun Millionen Zuschauer (ZDF: 8,3 Mio., Sky: 870.000) vor den Bildschirmen fesselte.
Boris Rupert