Selten war ein Pokalendspiel mit solcher Spannung erwartet worden, wie jenes am 12. Mai 2012 im Berliner Olympiastadion. Nicht nur halb Dortmund hatte sich auf den Weg in die Hauptstadt gemacht, sondern ganz Fußball-Deutschland schaute auf dieses Spiel.

Auf der einen Seite der Deutsche Meister von 2011 und 2012, auf der anderen der FC Bayern München, der in der Meisterschaft nun zweimal das Nachsehen gehabt hatte gegen die Vollgasfußballer vom Borsigplatz. Die Münchner wollten ihrer Saison nach der Vizemeisterschaft in der Liga noch einen goldenen Anstrich verpassen: durch den Gewinn des DFB-Pokals und – eine Woche später – im „Finale dahoam“ mit der Champions-League-Trophäe.

Es knisterte an allen Ecken und Enden vor diesem Finale, das Borussia Dortmund die Gelegenheit bot, Versäumtes nachzuholen: Die erste Chance aufs Double hatte man 1963 durch ein 0:3 im Pokalfinale gegen den HSV liegen gelassen. Im 103. Jahr des Vereinsbestehens sollten endlich beide Trophäen in die Fußball-Hauptstadt gehen.

Die Sympathien lagen wie schon bei den Endspielen 1989 und 2008 an gleicher Stätte bei den Westfalen. Beim friedlichen Fan-Fest rund um den Breitscheidplatz hatten zigtausend fröhlich feiernde Westfalen wieder einmal die Herzen der Berliner erobert.

Keine zwei Minuten nach dem Anpfiff durch den Bremer Schiedsrichter Peter Gagelmann glich das Olympiastadion schon einem Tollhaus. Münchens Luiz Gustavo misslang zunächst ein Anspiel nach vorn, dann auch noch ein Rückpass. Jakub Blaszczykowski erlief rechts im Strafraum den Ball, legte quer auf Shinji Kagawa, der ins leere Tor einschob. Ein Traumstart für den BVB!

Der Jubel der BVB-Sympathisanten unter den 74.497 Zuschauern war kaum verklungen, da stockte ihnen bereits der Atem: Torhüter Roman Weidenfeller lag nach einem Zusammenprall mit Mario Gomez minutenlang auf dem Rasen, konnte zunächst unter immensen Schmerzen weiterspielen, doch im Sprint raus aus seinem Kasten fehlte ihm buchstäblich die Luft: Weidenfeller kam zu spät gegen Gomez, brachte ihn zu Fall (23.). Gelb für den Keeper und Elfer für Bayern, den Robben sicher ins rechte Eck verwandelte. Mitte der ersten Halbzeit war alles wieder offen.

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Die Bayern versuchten, den Druck zu erhöhen. Schmelzer und Großkreutz auf der linken Seite gegen Robben sowie Piszczek und Blaszczykowski auf der rechten Seite gegen Ribery waren ständig gefordert. Langerak, seit drei Minuten für Weidenfeller im Tor, musste in Minute 37 gegen Gomez Kopf und Kragen riskieren.

Gegen Ende des ersten Durchgangs schafften die Schwarzgelben auch wieder Entlastung. Borussia setzte sich am Bayern-Strafraum fest. Blaszczykowski trickste links im Sechzehner, Boateng säbelte ihn um. Wieder Elfer, den Mats Hummels mit etwas Glück verwandelte. Neuer war noch dran, doch Borussia in der 41. Minute wieder vorn, mit 2:1.

Fünf Minuten wurden nachgespielt in Durchgang eins. Borussia setzte den fast schon entscheidenden Konter: Kagawa schaltete blitzschnell, als Lewandowski halbrechts startete und sich von Boateng absetzte. Der Pole netzte frei vor Neuer aus 13 Metern ins linke Eck ein. Schwarzgelb setzte auch in Durchgang zwei immer wieder Nadelstiche – und setzte sich ab: 58. Minute, Kagawa zu Großkreutz, der clever diagonal durch Schweinsteigers Beine zu Lewandowski spielte. Von halbrechts knallte er das Leder aus zehn Metern zum 4:1 ins linke Eck. Zehn Minuten später scheiterte er aus spitzem Winkel an Neuer, nachdem Gündogan und Co. die Bayern-Abwehr schwindelig gespielt hatten.

Auf der anderen Seite köpfte Gomez aus kurzer Distanz ans Lattenkreuz (69.), verkürzte Ribery per Flachschuss aus 16 Metern auf 2:4 (75.). Doch nur sechs Minuten später stellte Lewandowski mit seinem dritten Treffer den Drei-Tore-Vorsprung wieder her: Neuer ließ Gündogans Pass aus den Händen gleiten, Piszczek schnappte sich auf dem rechten Flügel die Kugel, flankte zu Lewandowski, der aus vier Metern zum 5:2 einnickte (81).

Danach war endgültig Party angesagt im Olympiastadion. Die letzten Minuten vergingen wie im Rausch. Auch Roman Weidenfeller war rechtzeitig zurück aus dem Krankenhaus. „Ich musste der Ärztin erst einmal klar machen, wie wichtig es für mich war, rechtzeitig zurück zu sein und eine Hand an den Pott zu kriegen. Sie hat das erst überhaupt nicht verstanden.“

Als Sebastian Kehl dann den Pokal entgegennahm, kannte der Jubel in Schwarz und Gelb keine Grenzen. „Es ist wunderschön. 103 Jahre hat der Verein gebraucht, um das Double zu gewinnen. Das ist eine so emotionale Sache. Das ist unfassbar“, konstatierte Hans-Joachim Watzke, nachdem er minutenlang versonnen auf dem leeren Rasen gestanden hatte, so wie einst Franz Beckenbauer nach dem gewonnenen WM-Finale 1990 in Rom.

Das Spiel war bestimmt schon eine Dreiviertelstunde vorbei, doch die Dortmunder waren immer noch da. 40.000 auf den Tribünen, elf unten auf dem Rasen und auf der Tartanbahn. Sie saugten den größten Moment der Vereinsgeschichte auf, sie konnten gar nicht genug bekommen. Als der Nummer-1-Hit der „Toten Hosen“ durch die Lautsprecher dröhnte, lief es manchem kalt den Rücken herunter. „An Tagen wie diesen“.

Als sei dieser Song eigens für diesen Klub, für diese Mannschaft, für diesen Moment komponiert worden.
Boris Rupert