In einem zweiteiligen, meinungsstarken Interview mit der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG äußerte sich Hans-Joachim Watzke am Montag und Dienstag zur Situation bei Borussia Dortmund. „Wir müssen wieder eine optimalere Mischung zwischen technisch hochwertigem Fußball und Siegermentalität hinbekommen“, sagte der Vorsitzende der Geschäftsführung. Er erläuterte, warum man nach Ousmane Dembélé auch Pierre-Emerick Aubameyang hat ziehen lassen, sprach sich ausdrücklich gegen Montagspiele aus („Außer sie sind sportlich durch Europa-League-Einsätze indiziert“) und kündigte an, dass Verhältnis zwischen Fans und Verein wieder deutlicher in den Vordergrund zu stellen.

Hans-Joachim Watzke im FAZ-Interview über Unruhe im Umfeld:
„Wenn man, wie wir das in den vergangenen zwölf Monaten erlebt haben, so viele schwierige Situationen meistern muss, für die es keine Blaupausen gibt, dann ist natürlich vollkommen klar, dass es unruhiger wird. Unruhe liegt aber grundsätzlich nicht in der DNA des BVB. Klubintern herrscht Geschlossenheit. Aber richtig ist auch: Extreme Einschnitte wie der Anschlag und das unrühmliche Wechsel-Theater von Aubameyang und Dembélé kosten Substanz.“

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... über Zahlen, Ziele und Erfolge:
„Vor 13 Jahren haben wir 75 Millionen Euro Umsatz gemacht, hatten ca. 200 Millionen Schulden, hatten kein eigenes Stadion mehr und standen vor der Insolvenz. Dieses Jahr machen wir weit über eine halbe Milliarde Umsatz, haben keine Finanzverbindlichkeiten, das Stadion gehört wieder uns, und wir haben ordentlich was auf der Bank. Sportlich haben wir in diesem Jahrzehnt immer international gespielt, zwei Meisterschaften gewonnen, zwei Pokalsiege geholt, standen in mehreren weiteren Pokalfinals, haben das Champions-League-Finale erreicht und sechs Mal an der Königsklasse teilgenommen. Aktuell stehen wir zweifelsfrei nicht so da, wie wir es uns wünschen, sind aber nur einen Punkt von Platz zwei entfernt. Das ist der Status quo. Es kann passieren, dass wir in dieser Saison zum ersten Mal unsere Ziele verfehlen. Wenn man deshalb vom „Auseinanderfallen“ spricht, dann sprechen wir aber vom Auseinanderfallen auf hohem Niveau. Ich habe nun wirklich andere Zeiten bei Borussia Dortmund erlebt...“

... über den Fall Dembélé:
„Wir haben Dembélé für 15 Millionen Euro verpflichtet – und dann kommt ein Angebot, das uns bis zu 148 Millionen Euro bringen kann. Das ist eine Größenordnung, die wir als börsenorientiertes Unternehmen sehr sauber abwägen müssen. Vor allem, wenn ein Spieler sich auch noch so verhält, streikt, das Land verlässt, nicht mehr zu greifen ist. Die Summe war einfach zu groß, um einfach zu sagen: Wir setzen dich jetzt ein Jahr auf die Tribüne. Unter charakterlichen und ethischen Gesichtspunkten war der Fall Dembélé katastrophal.“

... über den Fall Aubameyang:
„Er hatte uns klar zugesagt, dass er diese Saison bleibt, gerade auch als Reaktion auf den Wechsel von Dembélé. Bei ihm schwang aber auch mit, dass er glaubte, wir müssten ihm dankbar sein, weil er sich 2016, als Hummels, Gündogan und Mkhitaryan gingen, gegen sehr lukrative Offerten ausgesprochen und zum BVB bekannt hat. Da ist ein bisschen was dran. Einen Exodus auch noch mit Auba hätten wir 2016 tatsächlich kaum verkraftet. Dieses Gefühl schwang bei uns jetzt auch mit. Unter anderem deswegen haben wir es letztlich gemacht. Aber vor allem auch, weil wir das Gefühl hatten: Das wird in der Rückrunde niemals mehr gut mit Auba. Nicht mehr gut mit den Fans. Nicht mehr gut mit der Mannschaft. Da war durch sein Verhalten zu viel kaputtgegangen. Die Summe von 64 Millionen war letztlich nicht so hoch, dass wir es deswegen hätten machen müssen.“

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... über mögliche weitere Fälle:
„Ich habe der Mannschaft klipp und klar gesagt: Der nächste Spieler, der so etwas macht, wird kläglich scheitern. Der bekommt ein riesengroßes Problem. Börsennotierung hin oder her. Der nächste Spieler, der versucht, uns unter Druck zu setzen, indem er Leistung zurückhält oder gar streikt, wird damit nicht durchkommen – und auf der Tribüne sitzen. Das wissen jetzt alle. Das ist eine öffentliche Aussage, an der ich mich messen lasse! Es gibt jetzt nach Dembélé und Aubameyang ein übergeordnetes Interesse für den Klub: Wir müssen wieder eine bessere Struktur in den Kader bekommen.“

... über (zusätzliche) Leitfiguren:
„Das beste Beispiel ist Sven Bender: Er ist ein Kämpfer vor dem Herrn, hatte bei uns nicht mehr die Einsätze wie einst unter Jürgen Klopp, auch wegen Verletzungen, aber eben nicht nur deswegen. Er hatte mehrfach um seine Freigabe gebeten, wir haben mehrfach vergeblich versucht, ihn umzustimmen. Bei keinem Spieler außer Mats Hummels ist es mir so schwer gefallen, ihn ziehen zu lassen. Sven ist ein großartiger Junge. Er steht genau dafür, was wir in der neuen Saison wieder mehr in die BVB-Mannschaft implementieren müssen. Wir benötigen zwingend noch zwei, drei Spieler, die extreme Siegermentalität ausstrahlen, die gierig sind und auch mal böse werden können. Reibung sorgt für Dynamik! Wir müssen da wieder eine optimalere Mischung zwischen technisch hochwertigem Fußball und Siegermentalität hinbekommen.“

... über verändertes Anspruchsdenken:
„Mit dem Erfolg hat sich über die Jahre allerdings auch der Anspruch und das Selbstbewusstsein der Spieler verändert. Die Mannschaft, die 2011 und 2012 die Titel gewonnen hat, war fußballerisch definitiv nicht so gut wie die heutige Mannschaft. Aber sie hatte die beste Mentalität, die man sich vorstellen kann. Wir benötigen im Sommer eine Kader-Justierung, je nach Verlauf der Rückrunde auch eine deutlichere. (…) Am Ende muss er (Sportdirektor Michael Zorc, Anm. d. Red.) die Ein- und Verkäufe auch den Wünschen der Trainer anpassen. Es hilft nichts, wenn du Spieler holst, die dann nicht eingesetzt werden. Michael Zorc hat weiter mein absolutes Vertrauen, auch falls nach zehn sehr, sehr erfolgreichen Jahren einmal für ein Jahr ein Rückschlag eintreten sollte.“

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... über den Sieg in Köln:
Ich hoffe, dass daraus eine Trendwende resultieren kann. Ich habe auf jeden Fall eine BVB-Mannschaft mit absolutem Willen auf dem Platz gesehen. Phasenweise haben wir richtig guten Fußball gespielt. Ein Spiel wie das in Köln würde ich mir als neutraler Zuschauer gern mal ansehen. Da hätte ich viel Freude! Und nebenbei bemerkt: Wir mussten in der vergangenen Saison ebenfalls bis zum Schluss hart um die Champions League-Qualifikation kämpfen. Und ich sehe auch in diesem Jahr gute Chancen. Obwohl Peter Stöger, das ist allerdings der Unterschied, keinen Dembélé, keinen Aubameyang und bisher auch keinen Marco Reus hat. Er hat zuletzt phasenweise mit einem 17-Jährigen vorne links, einem 19-Jährigen vorne rechts und einem 18 Jahre alten Stürmer im Zentrum spielen müssen. (…) Peter Stöger ist in der Liga als BVB-Trainer nach wie vor ungeschlagen und hat mit seinem Team jetzt in sechs Spielen zwölf Punkte geholt. Soweit ich weiß, hat nur Bayern in dieser Zeit mehr Zähler geholt.“

... über die vergangenen zwölf Monate:
„Was ich selbst unterschätzt habe, sind die Langzeitwirkungen des Anschlags. Nach ein paar Wochen war bei uns der Alltag wieder eingekehrt, und ich glaubte, mit dem Pokalsieg, sei das verarbeitet. Das war offensichtlich eine Fehleinschätzung. Mir sagen Psychologen, dass Traumata häufig zeitverzögert eintreten. Und vor dem Hintergrund des laufenden Anschlags-Prozesses ist das vielleicht umso stärker der Fall. Das führt bei dem einen oder anderen betroffen Spieler möglicherweise dazu, dass er eine etwas niedrigere Druckresistenz hat – um es mal vorsichtig auszudrücken. Man kann das ja nicht messen, aber die Leute, mit denen wir zusammenarbeiten, sind von dieser Wirkung überzeugt. Wir haben das bisher nie thematisiert. Wenn man aber eine sorgfältige Analyse vornimmt, wäre es unseriös, das zu verschweigen.“

... über Borussias Rolle im europäischen Fußball-Kreislauf:
„Wir haben nach wie vor den Anspruch, ein großer Verein zu sein. Aber bezogen auf den Fall Aubameyang muss man trotzdem feststellen: In Europa gibt es noch sechs, sieben Klubs, die größer sind als Borussia Dortmund. Und 20, die mehr Geld haben. Wenn du über mehr als ein Jahrzehnt eine Geschichte wie Borussia Dortmund schreibst, stürzen sich leider nur die allergrößten Vereine auf deine Spieler. Wir sind nämlich einer der wenigen Klubs, die Weltklassespieler herausgebracht haben, die man aber wirtschaftlich aus dem Klub rausbrechen kann. Real Madrid, Barcelona und Bayern können jedes Problem der Welt mit Geld lösen. Wir nicht. Niemals. Das hemmt uns. Tatsache ist: Es ist unter rein finanziellen Aspekten mittlerweile leichter, einen Spieler aus dem Gefüge des BVB herauszubrechen als aus dem eines englischen Mittelfeldklubs. So viel Fernsehgeld, wie in England selbst an den Letzten fließt…aber es gibt Gott sei Dank auch noch Spieler, die die Gier nach sportlichem Erfolg antreibt. Sie brauchen wir in Zukunft verstärkt!“

... über sportliche Ambitionen und Anforderungen an die Spieler:
„Eine Meisterschaft kann ein Klub wie der BVB nicht planen. Das können Bayern oder Barcelona. Man darf als Borussia Dortmund nicht über Titel reden, wir müssen irgendwann einfach mal wieder da sein. So wie im Sommer. Wir haben den DFB-Pokal ja schließlich gewonnen. Nach zehn Jahren Dauererfolg müssen wir vielleicht wirklich, falls es dieses Jahr nicht mit der Champions League klappen sollte, einen Schritt zurückgehen. Um anschließend wieder die nächsten Schritte nach vorne machen zu können. Aber auch dann: Wir brauchen wieder Spieler, die das Publikum durch ein, zwei Aktionen emotional mitnehmen. Das ist viel wichtiger als die Anzahl der Follower auf Instagram. Die Tabelle muss bei einigen Spielern wieder im Fokus stehen, nicht die sozialen Netzwerke. Es geht heute natürlich nicht ohne sie. Wir nutzen sie ja auch. Aber der Schwerpunkt muss wieder stimmen. Man kann ja auch mal wieder das Foto von einen gewonnen Zweikampf posten – und nicht bloß eins vom roten Teppich.“

... über Borussia Dortmunds Zukunft:
„Wir müssen es schaffen, in Dortmund wieder eine stärkere Einheit zwischen Fans und Klub und zwischen Fans und Mannschaft zu schaffen. Wir haben da immer einen höheren Anspruch als viele andere. Das heißt: Wir müssen bei der Internationalisierung neue Geldquellen erschließen, aber wir dürfen keine Politik gegen das Gefühl unserer zehn Millionen Fans in Deutschland machen. Wir müssen in der Liga auch darüber diskutieren, ob die Montagsspiele – außer sie sind sportlich durch Europa-League-Einsätze indiziert – wirklich sein müssen. Borussia Dortmund wird dazu den Anstoß geben. Ich spüre bei allen Fans eine sehr große Aversion dagegen. Wir sollten nicht alles unter kommerziellen Gesichtspunkten tun, was möglich ist. Ohne Montagsspiele werden wir ab 2021 vielleicht ein, zwei Millionen Euro weniger einnehmen. Aber eine größere Einheit mit den Fans ist uns mehr wert. Auch da gilt für Borussia Dortmund: back to the roots, zurück zu unseren Wurzeln!“