Ein langgezogenes "Erling!" ruft Norbert Dickel ins Mikrofon. Ebenso langgezogen schallt es aus 80.000 Kehlen zurück: "Haaland!" Dieses Wechselspiel zwischen Stadionsprecher und Fans gab es bereits viermal. Am kommenden Freitag will Fußball-Dortmund die nächsten Heim-Tore des neuen Publikumslieblings bejubeln.

Bild

Erling Haaland war und ist das Gesprächsthema am Borsigplatz. Drei Tore im ersten Spiel in Augsburg, zwei beim ersten Heimspiel gegen Köln, jeweils als Einwechselspieler. Ein Doppelpack gelang dem 19-Jährigen auch im folgenden Heimspiel gegen Union Berlin, und auch im Pokal, beim ärgerlichen Ausscheiden in Bremen (2:3), schoss der Norweger ein Tor. "Natürlich", möchte man beinahe sagen. Am vergangenen Samstag, beim 3:4 in Leverkusen, ging Haaland erstmals ohne Treffer vom Rasen. Auch deshalb, weil Bayer-04-Torhüter Lukas Hradecky hervorragend parierte.

"Die oft beschworene, phasenweise aber auch arg mythologisierte Wucht des Dortmunder Stadions hat durch den erst 19-Jährigen einen neuen Schub erhalten", schrieb der kicker nach dem Heimspiel gegen Union: „Denn Haaland trifft nicht nur, er rackert auch nach hinten mit, kennt gefühlt nur ein (Höchst-)Tempo und reißt seine Mitspieler – und eben längst nicht nur die – durch seine Körpersprache mit. Diese, gepaart mit seiner Klasse und seiner Unbeschwertheit, macht ihn zum prädestinierten Liebling des Publikums.“ Acht Schüsse nur benötigte Haaland für seine sieben Treffer, mit denen er Bundesligageschichte schrieb: Sieben Tore in den ersten drei Spielen hatte bis dahin niemand geschafft.

Rückblende: Nasskalt ist der Vormittag Anfang Januar in Dortmund, sieben, vielleicht acht Grad, der Himmel wolkenverhangen und grau. Erling Haaland tritt an seinem ersten offiziellen Arbeitstag bei Borussia Dortmund nach draußen ins Freie – in T-Shirt und kurzer Hose. Er blickt nach oben, dann an sich herunter, er zuckt mit den Schultern, als gäbe es kein schlechtes Wetter und keine zu knappe Bekleidung, er lacht stattdessen kurz auf und sagt nur: "Ich bin Norweger!" Nach ein paar Schritten trifft er auf seinen Vater, Alf-Inge. Der mustert seinen Filius mit dem akkurat geschnittenen hellblonden Haar, der ihn inzwischen um ein paar Zentimeter überragt, von oben bis unten. Als gäbe es eben doch schlechtes Wetter und eine zu knappe Bekleidung. Doch dann lacht auch er kurz auf, es lacht das Lachen eines stolzen Papas. "Stehen Dir gut", sagt er, "die schwarzgelben Sachen!"

Viele Klubs in ganz Europa wollten Haaland in diesem Winter verpflichten. Entschieden hat er sich, in enger Abstimmung mit dem Familienrat um den früheren Profifußballer Alf-Inge Haaland, schließlich für den BVB. Es waren turbulente Tage rund um den Weihnachten und den nahenden Jahreswechsel, ehe er Sportdirektor Michael Zorc schließlich die frohe Botschaft übermitteln ließ. „Ich wollte Klarheit haben über meine sportliche Zukunft“, sagt Erling Haaland, „und wissen, wo ich für die nächsten Jahre hingehöre.“ Nach Dortmund. Dort, wo schon so viele in ganz Europa begehrte Talente den Schritt zum (angehenden) Weltstar vollzogen haben. Dort, wo ehrlicher, immer leidenschaftlicher und nicht selten mit einer Prise Drama gewürzter Fußball angeboten wird – im wohl schönsten Stadion der Welt obendrein. Haaland hat viel davon gehört, „viele Bilder und im Fernsehen auch Spiele gesehen“ – und mittlerweile die ersten Eindrücke gewonnen. Er spürt, dass die Fans ihn lieben. Ein langgezogenes „Erling!“ ruft Norbert Dickel nach jedem Treffer des Norwegers ins Mikrofon. Ebenso langgezogen schallt es aus 80.000 Kehlen zurück: „Haaland!“

Doch der Reihe nach. Das mit den Talenten? "Stimmt", sagt Haaland. "Das ist mir natürlich auch aufgefallen." Und er zählt ein paar Beispiele auf, Pulisic, Dembelé, Sancho, Hakimi – eine Liste, die immer länger wird. Und die auf diese Weise immer mehr Sportdirektor Michael Zorc bestätigt, der schon lange sagt: "Eines unserer besten Argumente in den Verhandlungen mit jungen Spielern ist der Aufstellungsbogen: Hier ein 18-Jähriger, da ein 20-Jähriger – und das wohlgemerkt nicht in einer frühen Pokalrunde, sondern auch dann, wenn es zählt, in der Bundesliga, genauso in der Champions League." Aus der umgekehrten Perspektive, jener nämlich des umworbenen jungen Spielers, klingt es aus dem Munde Haalands wie folgt: "Sie sind ehrlich zu den Spielern, sie machen keine falschen Versprechungen. Sie lassen sie spielen und machen sie so besser. Und das will ich auch: besser werden."

"Ich habe mir ausgemalt, wie es wäre, wenn ich eines Tages ein solcher Stürmer in diesem Trikot wäre."

In Dortmund. Haaland erzählt, dass er auch Stimmen vernommen habe, "dass mein Schritt doch noch größer hätte ausfallen müssen, hin zu einem richtig großen Klub". Und er sagt mit einem Lächeln, dass er solche Meinungen zwar respektiere, aber nicht nachvollziehen könne. "Dortmund", sagt er in einer Mischung aus Deutsch und Englisch, „ist ein ‚massive club‘.“ Stammgast in der Champions League, dem Wettbewerb, den alle Spieler lieben; der auch Erling Haaland ein Lächeln entlockt, beispielsweise wenn er beim Autofahren in voller Lautstärke die berühmte Hymne hört. Alles schon vorgekommen.

Bild

Dem BVB, diesem ‚massive club‘, war Haaland tatsächlich schon in sehr jungen Jahren verfallen. Die Spielweise, die Spieler, die Stimmung, ja, auch die Farbkombination Schwarz und Gelb – all das, sagt er, "hat mir schon früh gut gefallen". Im Falle des im Juli 2000 zur Welt gekommenen Erling Haaland bedeutet früh, dass er „dem BVB im Champions-League-Finale 2013 die Daumen gedrückt“ hat – "eigentlich wie immer in Spielen gegen die Bayern."

Die Perspektive, die Sympathie – fiel die Entscheidung pro Dortmund letztlich also ganz leicht, Erling? Die Frage ist kaum zu Ende gestellt, da sprudelt es regelrecht aus ihm heraus: "Der BVB hatte immer gute Stürmer, ich habe sie bewundert. Und ich habe mir ausgemalt, wie es wäre, wenn ich eines Tages ein solcher Stürmer in diesem Trikot wäre. Naja, und als ich dann besser wurde, da habe ich eines Tages meinen Vater gefragt: ‚Dortmund und ich – das wäre doch cool, oder?!‘ Als ich dann vom Interesse des BVB erfahren habe, wurde dieser Traum zur Realität. Von diesem Moment an hatte ich ein gutes Gefühl. Und auch der Zeitpunkt hat gepasst."

Erst einmal aber war Geduld gefragt bei Erling Haaland. Den Einstieg beim BVB behinderte in den ersten Tagen eine Knieverletzung, eine Altlast seiner Zeit in Salzburg. Kraftraum, Nebenplatz, Kleingruppe – Stück für Stück führten ihn die Trainer und der medizinische Stab an das Mannschaftstraining heran, jeder seiner Schritte aufmerksam verfolgt von den Fans und erst recht den Medien, speziell jenen, die dem BVB und Haaland aus dessen Heimat Norwegen nach Marbella an die südspanische Costa del Sol hinterhergereist waren.

"Sie sind ehrlich zu den Spielern, sie machen keine falschen Versprechungen."

Der Hype um Haaland hat einerseits mit seiner atemberaubenden sportlichen Entwicklung zu tun, beispielsweise mit acht Toren in sechs Partien der diesjährigen Champions-League-Gruppenphase noch mit seinem alten Klub Salzburg. Und dem damit einhergehenden Interesse von großen und bedeutenden Klubs in Europa. Die Verhandlungen für den Spieler geführt hatte neben Vater Alf-Inge der renommierte Berater Mino Raiola. Als die Verträge mit dem BVB unterschrieben waren, betonte Raiola in einem Interview mit der englischen Tageszeitung The Telegraph: "(Erling) hat sich für Borussia Dortmund entschieden, und ich bin glücklich, dass er nun bei dem Klub ist, wo er sein wollte und der jetzt der beste für ihn ist."

Acht Tore hat er auch 2020 schon wieder auf dem Konto, sieben in der Liga, eines im Pokal. "Erling macht es hervorragend", betont Sportdirektor Michael Zorc: "Seine Aufgabe ist das Toreschießen, das lässt er an jeder Faser seines Körpers erkennen." Haaland lässt auf dem Rasen Taten sprechen. In Interviews tritt er dagegen zurückhaltend auf. "Ich fühle mich gut aufgehoben und hatte keine Probleme, mich zu integrieren", sagte er nach dem Spiel gegen Berlin: "Wir verstehen uns auf dem Platz, das hat man heute gesehen. Das ist das Wichtigste." Julian Brandt bestätigt: "Erling hilft uns enorm."

Am kommenden Freitag, gegen die Eintracht aus Frankfurt, hat der Neue seinen nächsten Auftritt im Signal Iduna Park. Norbert Dickel ist bereit für ein weiteres, langgezogenes "Öööööörling..." Die Fans sind es auch. Haalands Trikot mit der Nummer 17 ist das aktuell meistverkaufte in den Fanshops. (br/ds)