Als Dr. Reinhard Rauball im November 2004 zum dritten Mal zum Präsidenten des Ballspielvereins Borussia 09 e.V. gewählt wurde, war nicht ansatzweise zu erahnen, welch positive Entwicklung der Klub nehmen würde. Nicht nur sportlich mit dem Gewinn von Deutschen Meisterschaften und Pokalsiegen, mit der Etablierung in Europas Spitze, sondern auch gesellschaftlich. Der BVB ist sich seiner Vorbildfunktion bewusst und lebt sie vor. Darauf sei er besonders stolz, sagt der 74 Jahre alte oberste Borusse. Ein Gespräch über Vertrauen, Frauen und Fans. Unter anderem. 

Deutscher Fußball-Pokalsieger. Deutscher Meister im Frauenhandball. Aufstieg der U23 in die 3. Liga. Aber: früher Saisonabbruch in der 2. Tischtennis-Bundesliga sowie in den Nachwuchs-Ligen aller Abteilungen; keine Torball-Saison. Welches Resümee ziehen Sie in Bezug auf die Saison 2020/21? 

Es war eine den besonderen Umständen geschuldet gerade noch tragbare Spielzeit, in der wir uns sehr über die Deutsche Handballmeisterschaft der Damen gefreut haben, weil die Entscheidung des Verbandes in der Saison zuvor von niemandem verstanden und akzeptiert worden ist. Dann so virtuos, verlustpunktfrei, zum Titel zu kommen, ist grandios. Es ist eine tolle Mannschaftsleistung gewesen, zu der man dem Trainer, dem Staff sowie Abteilungsleiter Andreas Heiermann und seinen Leuten nur gratulieren kann. Auf der anderen Seite stehen die Tischtennisspieler, die keine Handvoll an Spielen hatten und kaum Training. Das ist schmerzhaft. Man muss aufpassen, dass da nicht etwas wegbricht, die Athleten an sich oder deren Athletik. Nicht so sehr bei Borussia Dortmund, aber im Allgemeinen mache ich mir Sorgen und befürchte einen Aderlass. Dass gerade die jungen Leute, die Schüler, über Monate keinen Sport machen konnten, rausfallen werden, was den Sport anbelangt. Ob in der politischen Entscheidung alles richtig gewesen ist: Darüber muss man reden. 

Beispielsweise? 

Man sollte darüber nachdenken, wie man es – mit größtmöglicher Sicherheit, aber ohne unüberwindbare Hürden aufzubauen – Kindern und Jugendlichen wieder ermöglichen kann, regelmäßig Sport zu treiben – auch in geschlossenen Hallen. Diese Bestrebungen müssen deutlich mehr in den Vordergrund gerückt werden als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Und man muss den Jungs und Mädchen, die sich bislang nicht sportlich engagiert haben, klar machen, dass es für ihre Gesundheit unverzichtbar ist und dass es Lebensfreude vermittelt, wenn man gemeinsam in Sportvereinen aktiv ist. 

In der Pandemie sind die Verträge mit der kompletten Geschäftsführung vorzeitig verlängert worden. Der Sportdirektor hängt ein weiteres Jahr dran. Das Vereinspräsidium ist in dieser Besetzung seit 2008 durchgehend im Amt. Wie sehr hilft diese Kontinuität in der Krise? 

Darüber sind wir sehr froh. Borussia Dortmund hat schwierige Situationen der vergangenen zwei Jahrzehnte immer deshalb gemeistert, weil sehr früh Vertrauen aufgebaut worden ist. Was die wirtschaftliche Seite anbelangt, haben wir es einigermaßen hinbekommen. Aber es wird sehr eng, wenn wir diese Pandemie nicht gehandelt kriegen. 

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War die Lage für den Verein in den Jahren 1979 oder 1984, als Sie als Retter gerufen worden waren, prekärer oder sind es die noch immer nicht absehbaren Folgen der Pandemie?
Es gab damals zwar Gelder aus dem gemeinnützigen Bereich, diese aber konnten wir nicht in den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb einsetzen, um eben nicht die Gemeinnützigkeit zu gefährden. Die finanziellen Probleme waren 1979 die eine Seite. Die andere: Es standen fünf Spieler unter Vertrag, die älter waren als der Präsident. Das schon erforderte einen gravierenden Einschnitt und zeigte einen Grund für die Probleme der damaligen Zeit. Von der Dimension her war das, was 2004 und 2005 passiert ist, sehr viel schwieriger, weil man an vielen Stellen anpacken musste: Da waren die Aktionäre, da waren die Gläubiger, da waren die Anleger des Molsiris-Fonds‘. Ein Glücksfall war es, dass wir damals in Person von Hans-Joachim Watzke und Thomas Treß genau die richtigen Leute gefunden, aber auch einen Partner an unsere Seite bekommen haben wie Morgan Stanley. Patrick Lynch und seine Mitarbeiter haben einen Beistand geleistet, für den wir heute noch unfassbar dankbar sind. Bislang – um auf den zweiten Teil Ihrer Frage zu kommen – halten Aki Watzke und seine Kollegen in der Geschäftsführung, Thomas Treß und Carsten Cramer, das Boot stabil auf Kurs in stürmischer See, wenn ich dieses Bild wählen darf. Und auch der eingetragene Verein ist in keiner Weise gefährdet. Auf Vereins- und Geschäftsführungsebene herrscht ein großes Vertrauensverhältnis, was seinesgleichen sucht und seit vielen Jahren einen Großteil des erzielten Erfolges ausmacht. Wir wissen heute auch noch nicht, was in der Saison 2021/22 gehen wird – und was nicht – und sind auf alle möglichen Umstände eingerichtet. 

 

„Ein Vertrauensverhältnis, das seinesgleichen sucht.“

 

Als Sie 2004 zum dritten Mal antraten, war der BVB meilenweit von dem entfernt, was er heute ist. Es gab keine Trainingsplätze für die Profifußballer, geschweige denn ein Nachwuchsleistungszentrum. Die Handballerinnen spielten im Mittelfeld der Liga, die Fußballer ebenfalls. Wo haben Sie zuerst angesetzt? 

Wir mussten zunächst das Problem mit den Handball-Damen lösen. Die Gläubiger wollten, dass alles abgeschnitten wird, was Verluste praktiziert. Ich habe dann mit meinen Vorstandskollegen beschlossen, dass wir nicht akzeptieren, dass diese Abteilung zugemacht wird, denn Borussia Dortmund ist seit 1924 auch ein Hand- ballverein. Durch die finanzielle Hilfe von Sponsoren ist es gelungen, diese Abteilung in den eingetragenen Verein zurückzuholen und eine Lösung zu finden, die im Sinne der Gemeinnützigkeit tragbar ist. Parallel lief die von der Geschäftsführung vorangetriebene Entschuldung. Erst dann konnte die sportliche Entwicklung in Angriff genommen werden. Mit der Verpflichtung von Jürgen Klopp wurde diese zum Selbstläufer. 

Borussia Dortmund hat sich geöffnet: für Integrationssport, für Frauenfußball. Der BVB gibt seit 2004 den Fans in einer eigenen Abteilung eine Stimme, ist weltoffen und gegen jede Form von Intoleranz oder Diskriminierung. Wie kam es zu dieser Entwicklung? 

Die Finanzkrise 2004 hatte einen enormen Vertrauensverlust auch bei den Fans zur Folge. Die Gründung der Fan- und Förderabteilung hat dazu geführt, dass die Anhänger wieder hinter dem Verein stehen. Und auch durch sie wurde ein Weg eingeleitet, der vorbildlich ist. Beispielsweise die regelmäßigen Besuche der früheren Todeslager in Polen zeigen, dass sie sich Themen annehmen, die weit über den Sport hinausgehen. Ich bin stolz, dass Borussia Dortmund nicht nur ein Fußball-, ein Handball-, ein Tischtennisverein ist, sondern dass gesellschaftliche Verantwortung gelebt wird. Und: Ich freue mich, dass unsere Blindenfußballer verstärkt Anfragen von Menschen erhalten, die sich hier engagieren wollen. 

Man sieht Sie bei fast jedem Heimspiel der Handballerinnen. Werden sich auch die Fußballerinnen in der Kreisliga über prominente Unterstützung freuen dürfen? Da können Sie ganz sicher sein! Meine Anwesenheit ist ja nicht dem Erfolg geschuldet. Es hat bei den Handballerinnen jedenfalls sehr viel Spaß gemacht, mit der Abteilungsführung zusammen zu beobachten, wie die Aufbauarbeit Früchte getragen hat. 

Wir haben eingangs über die Erfolge der Fußballer – den Pokalsieg der Profis, den Aufstieg der U23 – und der Handballerinnen gesprochen. Welche Erwartungen haben Sie an die neue Saison?
Die Bundesligamannschaft hat sich in den vergangenen Jahren immer in der Tabellenspitze bewegt. Nicht nur meine persönliche Erwartungshaltung ist, dass sie abermals die Qualifikation für die Champions League erreichen sollte. Für die U23 wird es schwierig, ihre erste Saison in der 3. Liga erfolgreich zu gestalten. Der Klassenerhalt sollte das Ziel sein. Die Handball-Damen haben in Kelly Dulfer und Inger Smits ihre beiden besten Spielerinnen verloren – und das auch noch an den größten Konkurrenten. Die herausragenden Erfolge der beiden vergangenen Spielzeiten zu wiederholen, wird nicht ganz einfach sein. Platz eins oder zwei sollten es am Ende dennoch werden. 

Wie sehr fehlen die durch das Zusammenspiel von Fans und Fußballern ausgelösten Emotionen?
Bundesligaspiele ohne Fans: Das ist eine andere Sportart! Die permanenten Rufe von der Trainerbank, von den Spielern, von den Ersatzspielern zu hören, ging mir ehrlich gesagt ein wenig auf die Nerven. Ich sehne den Tag herbei, an dem wir so vor Fans spielen können, wie es in der Vergangenheit der Fall war: vor 81.000 Zu- schauern. Dass der Weg bis dahin mühsam sein wird, zeigt ein Blick auf die Inzidenzzahlen. 

 

Bundesligaspiele ohne Fans: Das ist eine andere Sportart.“ 

 

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Michael Zorc hört im Juni 2022 nach dann 44 Jahren in Schwarz und Gelb auf. Ist ein BVB ohne ihn vorstellbar?
Unter seinem ersten Vertrag steht meine Unterschrift. Von daher kann ich mich in diese Thematik gut hineindenken. Michael kam 1978 zu uns und hätte bereits ein Jahr später Lizenzspieler werden können. Ich habe ihm davon abgeraten, damit er noch eine weitere Saison bei den Amateuren spielen konnte, um dort zu regelmäßigen Einsätzen zu kommen, was in der Bundesligamannschaft als gerade erst Siebzehnjähriger vermutlich nicht der Fall gewesen wäre. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er dann im Jahr 1980 im Beisein seiner Mutter den ersten Profivertrag unterschrieben hat. Michael Zorc ist für mich persönlich ein Wegbegleiter vom ersten Tag an. Das verbindet. Borussia Dortmund ohne Michael Zorc ist schwer vorstellbar. Es bricht dann eine neue Ära an. 

Wird es sich auszahlen, dass Zorcs Nachfolge frühzeitig geregelt ist, dass in Edin Terzic ein weiterer Herzblut-Borusse eine wichtige, neu geschaffene Position des Technischen Direktors ausfüllt?
Wir sind froh und glücklich, dass sich Edin Terzic dazu entschlossen hat, bei uns zu bleiben und dass die Verantwortlichen in der KGaA diese neue Funktion geschaffen haben. Und dass Sebastian Kehl – mittlerweile auch ein Urgestein, seit zwei Jahrzehnten im Verein – der Nachfolger von Michael Zorc wird, ist eine folgerichtige Lösung. 

 

„Unter Michael Zorcs erstem Vertrag steht meine Unterschrift.“

 

Es fällt auf: Alle Verantwortlichen sind echte Fans des Vereins: Neben Ihnen sind das beispielsweise Hans-Joachim Watzke, Michael Zorc, Vizepräsident Gerd Pieper, Schatzmeister Reinhold Lunow, um nur vier weitere Namen zu nennen. Entweder hingen sie bei den Titeln der 1960er Jahre in den Bäumen der Roten Erde oder standen selbst mal auf dem Rasen... 

Borussia Dortmund ist eine Familie. Man ist entweder mittendrin, oder man ist nicht drin. Anders wäre es nicht denkbar, dass wir aktuell 153.000 Vereinsmitglieder haben und damit der zweitgrößte Fußballverein Deutschlands sind. 2004 hatten wir 25.000 Mitglieder. Auch auf diese Entwicklung sind wir stolz. 

Borussia Dortmund hat Anfang der 1990er Jahre maßgeblich die Aktion „Mein Freund ist Ausländer“ initiiert, unterstützt mit „BVB für Amateure“ die kleinen Klubs, engagiert sich mit einer Millionen-Spende am Ausbau der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel oder aktuell für die von der Hochwasser-Katastrophe betroffenen Menschen in der Region. Kommt der einerseits oft kritisierten Glamour-Welt des Profifußballs hier mit ihrer Sogwirkung eine besondere Funktion für die Gesellschaft zu? 

Wenn ich das ergänzen darf: Schon 1980 haben wir ein Benefizspiel zugunsten UNICEF gegen eine Weltauswahl veranstaltet. Da sind die ganz Großen gekommen: Johan Cruyff, Johan Neeskens, Kevin Keegan, Franz Beckenbauer. Solche Spiele haben wir zu allen Zeiten schon gemacht; den Zusammenhalt der BVB-Gemeinde zeichnet seit jeher aus, dass wir nicht nur Fußball spielen, sondern auch soziales Engagement fördern. 

 

„Wir spielen nicht nur Fußball, wir fördern soziales Engagement.“

 

Auch nach Ausbruch der Pandemie haben sich die Fans weiterhin vielfältig engagiert, obwohl sie mittlerweile seit fast anderthalb Jahren praktisch ausgesperrt waren. Sie haben Spenden gesammelt, für gefährdete Menschen Einkäufe erledigt. Und sie machen dies auch jetzt für die Opfer der Hochwasser-Katastrophe. Es beeindruckend, dass diese Haltung immer wieder vorgelebt wird. Ich bin stolz, dass hier seit vielen Jahren, seitdem ich Verantwortung trage für Borussia Dortmund, eine Entwicklung fortgeschrieben wird, die nicht nur dem Verein guttut, sondern auch der Gesellschaft. Der Fußball ist besser als sein Ruf. Alle Vereine und zahlreiche Spieler haben Stiftungen. Alle machen etwas, was der gesamten Gesellschaft zugutekommt. Wenn man das alles aufzählen würde, würde der Fußball in einem etwas anderen Licht dastehen. Aber ja, es gibt auch Dinge, die mir missfallen, aber das sind Einzelfälle. Nicht alle Bundesligaspieler essen jeden Monat ein goldenes Steak. 

Die frühere Vorsitzende des Betriebsrats, Petra Stüker, hat anlässlich ihres 40-jährigen Dienstjubiläums vor einem Monat in diesem Magazin gesagt: „Ich bin überzeugt, wenn wir den Finger in eine Wunde legen, wird mehr Aufmerksamkeit erreicht, als der Normalbürger sie durch sein Engagement je erreichen würde.“ Ein bemerkenswerter Satz, der mir unheimlich gut gefällt. Es wird geunkt, der Fußball verliert seine Fans. Ich sage: Der Fußball wird seine Fans auf Sicht nicht verlieren. Die grobe Richtung des Fußballs wird von den Fans anerkannt, auch wenn links und rechts immer mal wieder Dinge passieren, die sich nicht wiederholen oder gar verfestigen sollten.

 

Autor: Boris Rupert 

Fotos: Alexandre Simoes