Samstag, 1. Mai 2021. Noch nicht mal ein Zweikampf. Es ist ein Laufduell, bei dem sich Mateu Morey eine schwere Knieverletzung zuzieht. Zweimal muss er am Gelenk operiert werden. Den ersten Teil der Reha hat der junge Spanier hinter sich. Der zweite Teil einer langen Reise hat begonnen. Wir begleiten Mateu auf seinem Weg zurück auf den Rasen.

Am Tag, als der Herbst seine ersten Schatten über Dortmund wirft, kommt Mateu Morey in bester Sommerlaune und abgeschnittenen Jeans ins BVB-Trainingszentrum nach Brackel. Zwei Tage zuvor ist er aus Mallorca eingeschwebt und fremdelt nach 35 Grad im spärlich vorhandenen Schatten noch ein wenig mit dem deutschen Wetter. Um das rechte seiner braun gebrannten Beine schlängelt sich eine schwarze Orthese – kleines Souvenir an das Pokal-Halbfinale gegen Kiel und an zwei Operationen, die Borussia Dortmunds rechter Verteidiger über sich hat ergehen lassen müssen. Den Sommer über hat sich Mateu daheim in der Reha gequält. Jetzt ist er wieder da, und man muss schon ganz genau hingucken, um in seinem Gang ein angedeutetes Hinken zu erkennen. Zum Interview spaziert er jedenfalls beschwingt in den Besprechungsraum der Geschäftsstelle, wo sich seine Augen sofort an die Taktiktafel neben der Tür heften. Er hat da noch ein bisschen was vor, aber dazu später mehr. 

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Buenos dias! Wie schön, dass du wieder in Dortmund bist, Mateu! Wie geht es dir? 
Danke, sehr gut! Und dem Knie auch! 

Was macht ein Fußballspieler, der nicht Fußball spielen kann? 
Der hat alle Zeit der Welt, sich Fußballspiele anzuschauen. Was das betrifft, habe ich einen tollen Sommer erlebt. Mit der Europameisterschaft und einer fantastischen spanischen Nationalmannschaft, die nur mit sehr viel Pech im Halbfinale an Italien gescheitert ist. Und Olympischen Spielen, als wir im Endspiel gegen Brasilien kurz vor der Goldmedaille standen und dann doch in der Verlängerung verloren haben. Nun ja, ich habe mich für Reinier gefreut. Wenn schon Spanien nicht Olympiasieger ist, dann immerhin ein Dortmunder. Ansonsten waren die letzten Monate nicht einfach, aber die Reha schlägt gut an. Ich war gerade drei Monate bei meiner Familie in Petra, so lange war ich zuletzt als 14-Jähriger zu Hause. 

Bei Youtube findet sich nach einigem Stöbern ein Video, das Mateu im Sommer 2017 nach der Rückkehr aus Kroatien zeigt. Gerade hat er mit der spanischen U17 die Europameisterschaft gewonnen, im Finale gegen den englischen Nachwuchs, angeführt von einem gewissen Jadon Sancho. Der Bürgermeister von Palma de Mallorca empfängt den jungen Helden der Insel, der in kurzen Hosen und Poloshirt erschienen ist, die Goldmedaille baumelt um seinen Hals. Es wird nur ein kurzer Besuch in der Heimat, denn Mateu Morey spielt längst für den FC Barcelona. Auch nach dem Wechsel zum BVB im Sommer 2019 ist Mallorca für Mateu weit weg. Bis er zwei Jahre später für einen ganzen Sommer zurückkommt. 

Wie war das unverhofft lange Wiedersehen mit der Heimat? 
Wunderbar! Die Tage mit der Familie und den Freunden haben sehr gutgetan. Meine Familie bedeutet mir alles, und die ersten Freunde werden immer die besten sein. Findest du nicht auch? 

Auf jeden Fall! Umso besser, dass du den ersten Teil der Reha bei deinem Jugendverein RCD Mallorca absolvieren konntest.
Das war eine sehr spezielle Erfahrung. Kurz nach meiner Ankunft auf Mallorca bin ich mit meinem Vater und den Familien-Hunden spazieren gegangen. Dabei hat er mich gefragt, ob ich nicht mal wieder Lust hätte, bei meinem alten Klub an meiner Fitness zu arbeiten. Natürlich hatte ich Lust! Also bin ich jeden Tag die 45 Kilometer von unserem Haus zum Klubgelände gefahren. Da werden schon Erinnerungen wach. 

Eine sentimentale Reise zurück in die Vergangenheit... 
Nein, verstehe das bitte nicht falsch: Es geht hier nicht um Nostalgie. Ich bin Fußballprofi und habe keinen romantischen Urlaub verlebt, sondern unter den bestmöglichen Bedingungen an meiner Reha gearbeitet. Mein spanischer Physiotherapeut wohnt eine Viertelstunde von unserem Haus entfernt, wir kennen uns schon sehr lange, und ich habe großes Vertrauen in ihn. 

Alles hat seine guten Seiten, sogar eine so scheußliche Verletzung, wie du sie dir im Mai im Pokal-Halbfinale gegen Holstein Kiel zugezogen hast.
Genauso ist es. Ich bin ein Mensch, der immer versucht, positiv zu denken, so schwer das manchmal auch sein mag. Wenn du irgendwann nicht mehr positiv denkst, bist du auf dem falschen Weg. In diesem Fall war gut, die Zuneigung und Unterstützung so vieler Leute zu spüren. Meine Freunde, meine Familie meine Mannschaftskameraden, alle waren für mich da. Ich hätte nie gedacht, dass die Fans vom BVB so großartig reagieren würden. Das sind wirklich ganz besondere Menschen hier, sie haben mir in dieser schweren Phase sehr geholfen. Dass da in den sozialen Netzwerken so viele Menschen mit meinem Trikot posiert haben – unglaublich! Selbst auf Mallorca haben mich die deutschen Touristen erkannt und mir alles Beste gewünscht.  

Wie war die Verbindung zum BVB in dieser Zeit? 
Sehr intensiv! Wir standen in ständigem Kontakt, natürlich mit der medizinischen Abteilung, aber auch mit meinen Mannschaftskollegen habe ich mich täglich ausgetauscht. Sie haben mir immer das Gefühl gegeben, dass ich bei ihnen bin. Jetzt bin ich bereit für den nächsten Schritt und arbeite mit den hervorragenden Physios vom BVB an meiner Rückkehr auf den Platz.  

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Die fatale Szene vom 1. Mai hat sich vor allem deshalb so nachhaltig in das Gedächtnis aller BVB-Fans eingebrannt, weil der Lärmschutz durch die Geräuschkulisse im sonst für gewöhnlich ausverkauften SIGNAL IDUNA PARK wegen Corona nicht zur Anwendung kommt. Im leeren Stadion sind Mateus Schmerzensschreie über die Mikrofone des Fernsehens so deutlich zu hören, als würde man direkt neben ihm stehen und hätte aus nächster Nähe mitangesehen, wie er an der Mittellinie einen Ausfallschritt macht und doch nicht an den Ball kommt. In der Zeitlupe ist in der gnadenlosen Deutlichkeit der HDTV-Auflösung zu verfolgen, wie die Bänder im Knie nachgeben wie Gummi, das Bein sich nach hinten durchbiegt und die Form einer Sichel annimmt. Auf der Tribüne dreht sich der verletzte Erling Haaland entsetzt weg und verbirgt das Gesicht hinter beiden Händen. Auf dem Platz stellen sich fünf, sechs Borussen als Schutzmauer vor den Verletzten, aber die Schreie können auch sie nicht am Durchdringen hindern. Für einen furchtbar langen Augenblick gerät der Einzug ins Berliner Finale zur Nebensache. Emre Can wird später sagen: „Das tut uns weh, das tut jedem in der Mannschaft weh. Wie schwer diese Verletzung ist, haben wir alle direkt geahnt. Und gehört.“ 

Hast du mal das Video von deiner Verletzung gesehen? 
Ja, das habe ich, mehrmals sogar. Mein Kopf hat mir gesagt: Dieser Realität musst du dich stellen! Also habe ich mir das Video gleich im Krankenhaus angeschaut. Es gab ja dann auch viele Fotos in den sozialen Medien, daran kommst du heute ja nicht mehr vorbei. Das sah nicht schön aus, aber das ist ja bei so ziemlich allen Verletzungen der Fall. Mir hat die bewusste Auseinandersetzung damit geholfen. 

Das Ganze ist eine Viertelstunde vor Schluss passiert, als das Spiel beim Stand von 5:0 längst entschieden war. Denkt man da nicht im Nachhinein: Hättest du den Gegenspieler doch einfach laufen lassen...
Nein, so ticke ich nicht. Ich bin ja erst ein paar Minuten zuvor eingewechselt worden und stand schon mal deshalb in der Verpflichtung, bis zum Schluss alles zu geben. Außerdem macht es für mich keinen Unterschied, ob ich fünf oder neunzig Minuten spiele. Mein Job ist es, den Ball zu jagen, wenn er in meiner Nähe ist. Den Gegner zu stoppen, wenn er angreift. Das habe ich auch in dieser Szene getan, und dass ich mich dabei verletzt habe, gehört zum Berufsrisiko. Ich würde denselben Sprint immer wieder anziehen. Was dabei passiert ist, haben wir alle gesehen. Ich komme den einen Schritt zu spät, knicke nach hinten weg und das Bein biegt sich durch. Das ist so passiert, ich kann es nicht mehr ändern. Ich bin da Fatalist. In Spanien sagen wir: Todo pasa por algo. Die Dinge passieren so, wie sie passieren sollen, und du lernst immer dazu. Als Fußballspieler und als Mensch. 

Es war deine zweite langwierige Verletzung in Dortmund nach der Schulter-Luxation im Sommer 2019. Und nach einem Meniskusriss vor drei Jahren deine zweite schwere Knieverletzung. Damals war es das linke Knie, diesmal das rechte.
Weißt du was? In dem Moment, als es passierte und ich diesen entsetzlichen Schmerz spürte, habe ich ganz kurz überlegt: Welches Knie ist es? Wieder das linke? Nein, das rechte! Na, jetzt haben beide Knie eine heftige Verletzung durchgemacht, und ich muss mich nicht um das eine mehr sorgen als um das andere. 

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Hilft dir dabei die Erinnerung an die erste Knieverletzung? Weil du weißt, dass du gestärkt zurückkommen kannst, auch wenn es vielleicht ein Jahr dauern kann wie nach dem Meniskusriss in Barcelona?
Ja, auf jeden Fall! Ich weiß natürlich, dass es diesmal etwas anderes ist, aber ... hm wie sage ich das? Ich versuche es mal so: Wenn du eine Reise machst, weißt du im Voraus nie, wie sie werden wird. Aber aus den Erfahrungen deiner früheren Reisen weißt du, dass du mit einiger Sicherheit ankommen wirst. So ist das auch bei dieser Verletzung. Ich kann heute nicht seriös voraussagen, wann ich wieder auf dem Platz stehen werde. Aber dass ich zurückkomme, da bin ich mir zu hundert Prozent sicher. Weil ich das alles schon mal erlebt habe. 

Ist die eigene Ungeduld der schwerste Gegner während der Reha? 
Kann schon sein. Ich versuche, diesen Gegner dadurch zu besiegen, dass ich mir immer nur kurzfristige Ziele setze. Ich weiß nicht, ob ich in sechs, acht oder zehn Monaten so weit bin. Es macht auch keinen Sinn, so weit zu denken. Lieber mit kleinen Schritten nachhaltig vorangehen, als dass du zu große Schritte machst und dabei stolperst. Wichtig ist es, ständig in Bewegung zu bleiben und nie stillzustehen. Wenn du in zu großen Intervallen denkst, fliegt dir alles irgendwann um die Ohren. 

Wichtig ist heute und morgen, nicht nächste Woche. 
Richtig! Jeder Tag bringt eine Herausforderung mit sich. Für mich sind das alles kleine Fußballspiele, und ich will sie alle gewinnen. Der erste Erfolg war die Unterstützung durch den Klub und die Fans. Dann kamen die beiden Operationen, sie sind gut gelaufen – zwei Siege! Als nächstes wollte ich die Krücken loswerden, erst die linke, dann die rechte – auch diese Spiele habe ich gewonnen. Jetzt spiele ich gegen die Orthese an meinem rechten Bein, ich will endlich wieder ohne laufen können, und ich bin mir verdammt sicher, bald wieder einen Sieg einzufahren. So geht das immer weiter, bis ich wieder auf dem Platz stehe, und zwar bei uns in Dortmund, wenn das Stadion ausverkauft ist. Ich habe das auf der Ersatzbank miterlebt, aber noch nie auf dem Rasen. Das wird der entscheidende Sieg! 

Genug erzählt. Mateu springt auf mit der Leichtigkeit des frisch Genesenen. Draußen wartet seine Freundin, aber vorher muss er noch etwas an der Taktiktafel neben der Tür klären. Zu sehen sind dort auf einem nachempfundenen Fußballplatz elf gelbe Magneten, die elf roten gegenüberstehen. BVB gegen Bayern? Mateu lacht, er zögert kurz und kann der Versuchung doch nicht verstehen. Schon hat er einen Filzstift in der Hand und schreibt unter den gelben Magneten auf der rechten Abwehrseite: „Morey“. Und darunter, in Klammern: „Soon!“ 

Bald geht’s wieder los!  
Autor: Sven Goldman
Fotos: Mareen Meyer