Eine Saison mit Höhen und Tiefen und einem bitteren Ende liegt hinter uns. Wir blicken auf die Spielzeit 2022/23 zurück und stellen dabei ein großes Comeback in den Mittelpunkt. Teil 2 des Saison-Rückblicks. (Hier geht es zu Teil 1.)

Die Asienreise Ende November führt den BVB nach Singapur, Malaysia und Vietnam. Angeführt wird der Kader von Marco Reus, Mats Hummels und Emre Can. Viele U23- und U19-Spieler ergänzen die Reisegruppe und freuen sich, erstmals Profiluft schnuppern zu können. In Asien scheint Platz sechs weit weg: Überall wird die schwarzgelbe Reisegruppe euphorisch empfangen. „Borussia Dortmund, welcome to Vietnam!”, ruft ein Einwohner Hanois den Borussen zu, als er sie erkennt. Wo auch immer die Spieler des BVB hinkommen, werden sie freundlich empfangen. Die Menschen winken ihnen zu, zücken ihre Smartphones und schnell bitten sie um Selfies und Autogramme. Doch bei Spielern und Trainern ist Platz sechs auch in Asien präsent. Neben Sightseeing und Marketing-Terminen wird auf dem Trainingsplatz gearbeitet. 

Mehr Tore schießen

Die Vorbereitung auf die zweite Saisonhälfte beginnt kurz nach dem Jahreswechsel. Jetzt wird das umgesetzt, was das Trainerteam in zahlreichen Gesprächen ausgearbeitet hat. Themen in der Defensive und Offensive werden angegangen, dazu zählt besonders die schwache Torausbeute. Eines der großen Themen in der dreiwöchigen Winter-Vorbereitung ist die Strafraum-Besetzung, „um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, Tore zu schießen“, wie Terzic erklärt. 

Wir trauen unseren Augen kaum: Auch Sebastien Haller ist dabei, als sich die Spieler zur Leistungsdiagnostik am ersten Trainingstag des neuen Jahres wiedersehen. Der Stürmer scheint alle natürlichen Gesetze außer Kraft gesetzt zu haben und ist scheinbar in Rekordzeit wieder zum Leistungssportler geworden. Seine schwere Krankheit sehen wir ihm nicht an. Kraftvoll und mit einer großen Präsenz steht er auf dem Trainingsgelände. Er lacht und scherzt mit seinen Mitspielern, absolviert die schweißtreibenden Kraft- und Beweglichkeitsübungen und durchläuft das mehrstündige Programm ohne Probleme. Haller fliegt auch mit nach Marbella.

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Im Trainingslager in Spanien wollen Trainer und Spieler die Grundlagen für eine erfolgreiche zweite Hälfte legen. Blut, Schweiß und Tränen, so könnte das Moto unter andalusischer Sonne lauten. Terzic nutzt die zwölf intensiven Einheiten, um Dinge einstudieren zu können. Viele Gespräche – einzeln und in der Gruppe – gehören ebenfalls zum Trainingslager. Und zwei Testspiele. Das erste findet gegen Fortuna Düsseldorf statt. Der BVB gewinnt 5:1, aber das ist zweitrangig an diesem Tag. In der 74. Minute steht der Mann mit der Rückennummer 9 am Spielfeldrand und wartet auf seine Einwechslung. Ein halbes Jahr nach seinem Wechsel kommt Sebastien Haller zum ersten Einsatz in Schwarzgelb. Mitspieler, Trainer, Betreuer, Gegenspieler, Fans und Journalisten, alle applaudieren für den Mann, der den Krebs besiegt hat. „Es war ein großartiger Moment auf dem Platz. Dieses Gefühl habe ich vermisst“, sagt er anschließend. Sein Trainer fügt hinzu: „Wir sind stolz darauf, dass er diesen Weg so gegangen ist und dass wir das heute erleben durften.“ 

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Drei Tage später steht das nächste Testspiel an. Gegen den FC Basel gewinnt der BVB mit 6:0. Zum Ergebnis trägt auch Sebastien Haller bei: In seinem zweiten Spiel für Schwarzgelb gelingt dem Stürmer ein Hattrick. „Es ist das bestmögliche Gefühl: zurückkommen, Tore schießen, der Mannschaft helfen, jeden Tag die Verbesserung des Körpers spüren. Ich hätte mir nichts Besseres vorstellen können, nicht nur für mich, sondern für die Mannschaft“, sagt er. „Wir werden versuchen, zusammen so weiterzumachen. Ich hoffe, dass ich effektiv und nützlich für die Mannschaft sein kann.“ 

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Die Vorbereitung zeigt Wirkung, die Spielideen fruchten, fast alle Spieler sind einsatzfähig und erhöhen die Intensität auf dem Trainingsplatz. Jeder muss um seinen Platz in der Startelf kämpfen. Als die Bundesliga ihren Spielbetrieb Ende Januar wieder aufnimmt, startet Borussia Dortmund mit dem Heimspiel gegen Augsburg eine Serie von acht Siegen. Die Mannschaft lässt Platz sechs schnell hinter sich und arbeitet sich bis auf den zweiten Rang vor. Mittelfeldspieler Julian Brandt blüht auf, erzielt in vier aufeinanderfolgenden Spielen ein Tor und wird sowohl im Januar als auch im Februar Bundesliga-Spieler des Monats. Emre Can findet seine Paraderolle im defensiven Mittelfeld und hält viele Angriffe auf, bevor sie überhaupt auf das Tor zurollen. Linksverteidiger Raphael Guerreiro wird zeitweise ins Mittelfeld versetzt und aufgrund seiner Leistungen zum Spieler des Monats im März gewählt. Gregor Kobel hält – wie auch in den Monaten zuvor – seiner Mannschaft mit starken Paraden den Rücken frei. Vor ihm teilen sich Mats Hummels, Nico Schlotterbeck und Niklas Süle die beiden Innenverteidiger-Positionen auf. Wer gebraucht wird, ist da. Gern auch mit starken Grätschen, die in Dortmund seit jeher gefeiert werden wie ein Tor. Marius Wolf beackert als Rechtsverteidiger die Außenbahn so gut, dass er deutscher Nationalspieler wird. Jude Bellingham spielt in der Schaltzentrale eine herausragende Spielzeit und wird Bundesliga-Spieler der Saison werden.

Die Rückkehr von Sebastien Haller scheint der Mannschaft einen Schub zu geben, sowohl menschlich als auch sportlich. Der Ehrgeiz des Stürmers ist ansteckend, auf dem Platz schafft er wertvolle Sekunden und Räume für die flinken Außenbahnspieler Karim Adeyemi und Donyell Malen. Beide haben vor dem Jahreswechsel in der Bundesliga nicht getroffen, im neuen Jahr blühen sie auf. Adeyemi treibt die gegnerischen Verteidiger mit seinen Sprints immer wieder zur Verzweiflung. Er trifft im neuen Jahr sechsmal und bereitet fünf Treffer vor. Auch Malen können die Gegner nach seinen flinken Antritten und Richtungswechseln nicht halten. Er kommt 2023 auf neun Tore und sieben Torvorlagen und wird Spieler des Monats April.

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Sebastien Haller steigert sich von Spiel zu Spiel. Gegen Augsburg kommt er erstmals in einem Pflichtspiel für den BVB zum Einsatz. Eine halbe Stunde steht er auf dem Platz. Fast wöchentlich erhöhen sich seine Einsatzminuten. Erst als Einwechselspieler, dann in der Startelf. Erst legt er ein Tor auf, dann trifft er selbst. Beim Spiel gegen Freiburg erzielt er das 3:1 und trifft damit erstmals in einem Pflichtspiel für den BVB. Ausgerechnet am Internationalen Weltkrebstag. Vor der Südtribüne. Gänsehaut.

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„Es war unfassbar, wie laut das Stadion seinen Namen nach dem Tor gerufen hat. Ein Gänsehautmoment, nicht nur für Seb“, sagt Julian Brandt nach einem Spiel, das am Ende nur dieses eine, große Thema hat: der Treffer von Sebastien Haller. Flanke Guerreiro, Kopfball – Tor! „Es bedeutet ihm extrem viel, es bedeutet uns extrem viel“, erklärt Edin Terzic. „Wir hoffen, dass es das erste von ganz vielen Toren war.“

Die Siegesserie reißt ausgerechnet auf Schalke. Im Derby kann der BVB eine überlegen geführte Partie nicht zu Ende führen und fährt nach einem Unentschieden nur mit einem Punkt im Gepäck den kurzen Weg nach Hause. Doch eine Woche später, nach einem überlegenen 6:1-Heimsieg gegen Köln, übernimmt der BVB erstmals in der Saison die Tabellenspitze. Die Freude darüber währt nur kurz. Schwarzgelb muss als nächstes die Reise nach München antreten – und die Tabellenführung nach einer 2:4-Niederlage sofort wieder an den FC Bayern München abtreten. 

Euphorie und Enttäuschung

In dieser Phase der Saison wechseln sich Euphorie und Enttäuschung wöchentlich ab: Heimspiele werden gewonnen, auswärts tut sich die Mannschaft schwer. Nicht nur auf Schalke, auch in Stuttgart. Beim Abstiegskandidaten liegt der BVB zur Pause mit 2:0 in Führung und spielt in Überzahl. Nachdem die Schwaben zunächst ausgleichen können, erzielt Giovanni Reyna in der Nachspielzeit unter großem Jubel den vermeintlichen Siegtreffer. Doch auch diesen kann der VfB noch kontern, sodass Gregor Kobel anschließend von einer „vertanen Chance“ spricht.

Trotzdem gibt sich Sportdirektor Sebastian Kehl in den Tagen danach kämpferisch. „Wir wollen Deutscher Meister werden“, sagt er in einer bis dahin in der Saison noch nicht dagewesenen Deutlichkeit. Der BVB liegt weiterhin auf Platz zwei mit zwei Punkten Rückstand.
Christina Reinke

Zu Teil 1 des Saison-Rückblicks