Julian Weigl ist wieder wichtig. Nachdem der BVB-Express zu Saisonbeginn ohne den seinerzeit verletzten Mittelfeldspieler rasant an Fahrt aufgenommen hatte, spielte er sich in neuer Rolle zurück in die Mannschaft. Der 23-Jährige ist ein Beispiel dafür, wie schnell es im Fußball gehen kann. Er nennt diese Erfahrungen bei einem Waldspaziergang »lehrreicher als die vielen guten Dinge«. Nun ist er wieder guter Dinge. 

Nichts bleibt wie es ist. Schon gar nicht im hochdynamischen Profifußball. Julian Weigl hat es schon in seiner ersten Bundesliga-Saison geahnt, als er sich „wie auf einer Welle“ fühlte. Damals – in der Spielzeit 2015/16 – war der im Alter von 19 Jahren vom damals noch zweitklassigen TSV München 1860 zu Borussia Dortmund gekommene Mittelfeldspieler ein überraschender Aufsteiger, den anfangs so gut wie niemand auf der Rechnung hatte. Wohl aber Thomas Tuchel, zu jener Zeit Trainer des BVB. Er sah das große Talent, das in dem schlaksigen Oberbayern aus Bad Aibling steckte, der ursprünglich erst einmal „einen Zwischenschritt zu einem kleineren Bundesliga-Verein machen wollte, um mich an die Verhältnisse in der höchsten Spielklasse gewöhnen zu können“.

Dann aber überzeugte Tuchel den jungen Weigl davon, den großen Schritt sogleich zu wagen. „Er hat mir aufgezeigt, dass die Konkurrenz mächtig und der Druck bei einem Spitzenklub groß ist“, sagt der im Gespräch wie auf dem Platz ziemlich ausgependelt wirkende fünfmalige Nationalspieler, „er hat mir aber auch ganz klar zu verstehen gegeben, dass ich spielen werde, wenn ich besser bin als andere.“ 

Bild
Sofort erste Wahl

So kam es dann auch. Weigl war auf Anhieb erste Wahl, debütierte beim 4:0-Sieg im Auftaktspiel gegen Borussia Mönchengladbach und imponierte mit seiner Selbstverständlichkeit, Bälle in engen Räumen vor der Abwehr zu erobern, zu verarbeiten und mit seinen klugen, präzisen Pässen das Spiel nach vorn zu initiieren. Das sah bei seinen 51 Pflichtspieleinsätzen, davon 30 in der Bundesliga, meistens vollkommen unangestrengt und unaufgeregt aus. So erwarb sich Weigl den als Kompliment gemeinten Ruf einer „Passmaschine“, die in Tuchels Positionsspiel wie geölt funktionierte. Beim Blick zurück beschreibt Julian Weigl seine gerade Haltung auf dem direkten Weg ins Rampenlicht mit Sätzen, wie: „Ich habe in meiner ersten Saison für den BVB gar nicht lange nachgedacht und gezögert, sondern einfach so gespielt, wie ich es konnte. 2015/16 habe ich jeden Moment genossen, es war eine tolle Zeit.“

Gleichzeitig machte sich der zum positiven neigende „Jule“ erste Gedanken darüber, „wie ich wohl reagieren würde, wenn ich eine schwerere Phase mit schlechteren Spielen durchmachen müsste. Sie erwischt dich manchmal völlig unerwartet, und dann fängt der Kopf an zu rattern, und du denkst zu viel nach.“ 

Zunächst aber hielt Weigls Hoch an. Er, der mit 15 Jahren erstmals ein Borussen-Spiel im Signal Iduna Park sah und danach schwer beeindruckt sagte, „da möchtest du auch mal spielen“, war auch 2016/17 eine konstante Größe im Dortmunder Team, als er es auf 43 Pflichtspiele, davon erneut 30 in der Bundesliga, brachte. Seine seelische Balance wurde wie die seiner Mitspieler am 11. April 2017 durch den hinterhältigen Anschlag auf die Mannschaft während der Fahrt zum Champions-League-Viertelfinalhinspiel nachhaltig erschüttert. Dass er einen Monat später im vorletzten Saisonspiel beim FC Augsburg einen Verrenkungsbruch des Sprunggelenks und damit seine erste größere Verletzung erlitt, schmerzte umso mehr, weil er dadurch zwei Wochen später beim 2:1-Sieg im DFB-Pokalfinale über Eintracht Frankfurt nicht dabei sein konnte (wie auch im Juni 2017 beim Confederations Cup in Russland). 

»Wochen, in denen mir der BVB noch mehr ans Herz gewachsen ist« 

Er selbst wusste in seiner schwersten Zeit als Patient und Rekonvaleszent die seelische Unterstützung und Aufmunterung seiner Kameraden sehr zu schätzen. Allen voran ging dabei Marco Reus, heute ein vorbildlicher BVB-Kapitän, der kurz nach Weigls Sprunggelenksoperation seinen Freund besuchte und mit ihm in ein Café fuhr, um den auf Krücken daherkommenden Oberbayern ein wenig aufzubauen. „Er ist ja leider sehr erfahren im Umgang mit Verletzungen“, sagt Weigl, „und war auch deshalb in diesen Tagen eine wichtige Stütze für mich. Er hat mir sehr geholfen wie eine Reihe anderer Spieler auch. Es waren Wochen, in denen mir der BVB noch mehr ans Herz gewachsen ist.“ 

Als Weigl vier Monate nach der Fraktur beim 5:0-Heimsieg gegen den 1. FC Köln an seinen Arbeitsplatz Stadion zurückkehrte, erinnerte er bei seinem vierundzwanzigminütigen Comeback phasenweise wieder an jenen Präzisions- arbeiter, den die Fans und Kollegen in bester Erinnerung hatten. Weigl selbst aber war sich bewusst, dass ihm diesmal nicht alles wie von selbst zufallen sollte, wie bei seinem Einstand im Sommer 2015. Schließlich war Tuchel durch den Niederländer Peter Bosz ersetzt worden, der in Dortmund ein rasantes und auf frühe Balleroberung abzielendes 4-3-3-System zu installieren versuchte anstelle der von Tuchel bevorzugten und auch auf defensiver Ballbesitz-Stabilität ruhenden 4-1-4-1-Formation. „Mein Neustart war augenscheinlich zwar nicht so schlecht“, sagt Weigl heute beim Blick zurück auf den Frühherbst 2017, „trotzdem fand ich nicht so recht zu meinem Spiel zurück. Ich habe mich dann immer häufiger zu spät vom Ball getrennt und falsche Entscheidungen getroffen. Du willst auf einmal das Besondere machen, was aber gar nicht nötig ist.“ 

Bild

Dass Bosz den jenseits seiner Heimat perfekt hochdeutsch sprechenden Organisator weiter vorn in seinem System agieren ließ, trug nicht dazu bei, dem defensiven Mittelfeldspieler die alte Geborgenheit in seinem Spiel zu verschaffen. „Es war nicht einfach“, sagt Weigl, „da geduldig zu bleiben und auf den Moment zu warten, in dem die alten Automatismen wieder greifen. Ich hatte nun weniger Ballkontakte als früher.“ Im Mai 2016 hatte er mit 214 Ballkontakten beim 2:2 gegen den 1. FC Köln einen Bundesliga- Rekord aufgestellt. Nun „tat ich mich schwer, meine Räume im neuen System zu finden. Beim desaströsen 4:4 gegen Schalke 04 hatte ich nur dreißig Ballkontakte, so viele wie sonst nach zwanzig Minuten. Was die Dinge weiter erschwerte, war der Abwärtssog, in den wir nach einer Siegesserie unter Bosz gerieten. Da hatte jeder mit sich selbst zu tun“. 

Der Niederländer musste im Dezember 2017 gehen und wurde durch den Österreicher Peter Stöger in einer Saison ersetzt, in der nicht nur für Weigl, sondern für die gesamte Mannschaft wenig zusammenlief. „Wir konnten am Ende froh sein, dass wir uns trotz aller Widrigkeiten und Versäumnisse als Tabellenvierter für die Champions League qualifiziert haben“, sagt Julian Weigl über eine ziemlich verkorkste Saison. 

» ...nicht lange nachgedacht und gezögert, sondern einfach so gespielt, wie ich es konnte « 

Als Lucien Favre im Sommer 2018 Nachfolger von Stöger wurde, konnte Julian Weigl wegen einer „Adduktorenansatzentzündung auf dem Weg zur Schambeinentzündung“ die Saisonvorbereitung wie schon im Jahr zuvor nicht mitmachen. „Die Ärzte hatten mir geraten, Urlaub zu machen und keinen Sport zu treiben, damit meine Beschwerden abklingen.“ Doch gegen Ende der unfreiwilligen Ferien setzten sie wieder ein, so dass Weigl eine weitere Pause einlegen musste. Als er dann wieder auf dem Trainingsplatz stand, hatte sich die Mannschaft schon leidlich eingespielt und ihre ersten Erfolgserlebnisse in dieser Saison hinter sich, mit den beiden neu hinzugekommenen Mittelfeldgrößen Axel Witsel und Thomas Delaney vorneweg. Julian Weigl, an ein Leben als Stammspieler gewöhnt, musste sich erst einmal hinter dem Belgier, dem Dänen und auch dem U21-Nationalspieler Mahmoud Dahoud einreihen. „Dass die Konkurrenz bei uns im Mittelfeld größer geworden ist, macht mir nichts aus“, sagt er, „wir haben ja Qualität dazubekommen. Die Jungs wussten alle schon, auf was der Trainer Wert legt und wie sein neues System – meistens ein 4-2-3-1 – funktionieren soll, als ich mich zurückgemeldet habe. Da lief der Betrieb schon auf Hochtouren, und ich habe mich manchmal gefragt, wer wartet eigentlich auf dich?“ 

Bild

Dass der Senkrechtstarter von 2015 dann aber nur auf drei Teilzeiteinsätze während der ersten 16 Ligaspieltage kam, wurmte ihn. Es war die härteste Prüfung für Julian Weigl in seinen vier Spielzeiten beim BVB, als aus dem unbeschwerten jugendlichen Helden aus der Spielzeit 2015/16 ein Bankdrücker, manchmal sogar Tribünenhocker geworden war. „Für mich war die Situation nicht befriedigend“, sagt Weigl ehrlich, „und für mein Umfeld war es auch nicht so einfach, wenn ich schlecht gelaunt vom Training kam.“ Zum Glück stand dem Spieler, der sich im Abseits wähnte, seine Freundin Sarah Richmond bei. Um auf andere Gedanken als den Fußball mit all seinen Ausschlägen nach oben oder unten zu kommen, lenkten Weigl die gemeinsa- men Spaziergänge mitsamt seinem Labrador „Mason“ ab. „Das ist eine kleine Auszeit für mich, es ist sonst so viel Trubel mit dem Handy, den sozialen Netzwerken und so weiter“, sagt der Borusse über seinen privaten Auslauf. 

Längst ist sein Missmut wieder seiner unangestrengten Freundlichkeit gewichen, nachdem Julian Weigl wieder mitspielen darf. Die Winterverletzungen der defensiven Stammkräfte Manuel Akanji, Dan-Axel Zagadou und Abdou Diallo hievten ihn in die Mannschaft zurück – in einer neuen Rolle als Innenverteidiger. Favre, mit dem siebten Sinn für alternative Verwendungsmöglichkeiten seiner Spieler ausgestattet, erteilte am 17. Spieltag dem bewährten Ömer Toprak und Julian Weigl für das Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach das Mandat für die Innenverteidigung. „Favre kam auf mich zu und fragte, ob ich das spielen könne“, sagt Weigl über das vorangegangene Gespräch mit seinem Trainer, „und ich habe geantwortet, ich weiß nicht so recht.“ Der Schweizer aber ließ sich davon nicht beirren und hob in seiner liebenswürdigen Beharrlichkeit hervor: „Wir glauben schon, dass Sie Innenverteidiger spielen können.“ Favre hatte sich die eine Halbzeit angeschaut, in der sich Julian Weigl 2017 unter Bosz beim 2:2 in Frankfurt als Innenverteidiger versuchen musste, ohne dabei wirklich zu überzeugen. Damals war er zur Pause ausgewechselt worden, weil er mit den Spezifika eines zentralen Abwehrspielers nicht wirklich vertraut war. 

Bild

Diesmal aber coachte ihn der erfahrene Kollege Toprak im Training wie im Spiel bestmöglich, so dass Weigl die Zeit und innere Ruhe fand, sich minütlich besser auf seine neue Aufgabe einzustellen. Und siehe da: Er meisterte sie beim 2:1-Sieg über die Gladbacher wie in den Spielen danach, als er seine neue Rolle mit wachsender Selbstverständlichkeit ausfüllte. Plötzlich war dieser Julian Weigl wieder mittendrin unter den Borussen, die Samstag für Samstag gefragt waren. Heute sagt er: „Ich bin lieber auf der Innenverteidigerposition dabei als überhaupt nicht zu spielen. Ich habe Blut geleckt, die neue Aufgabe macht mir Spaß.“ Die alte und vertraute aber noch mehr, so dass Weigl keinen Hehl daraus macht, wo er seiner Mannschaft am liebsten dienen möchte. „Auf der Sechs. Da fühle ich mich zu Hause. Das habe ich jahrelang gespielt. Ich glaube, dass ich es dort am weitesten bringen kann.“ Weigls Qualitäten als Sechser hat sich inzwischen auch Favre wieder zunutze gemacht – beispielsweise beim 3:2-Heimsieg über Bayer 04 Leverkusen an der Seite von Witsel. 

» Diese Zeit hat mich reifen lassen und als Spieler vielleicht auch besser gemacht ... « 

Der wieder einigermaßen regelmäßig aufgestellte Julian Weigl sagt beim Blick auf die Hoch- und Tiefphasen seiner Laufbahn: „Diese Zeit hat mich reifen lassen und als Spieler vielleicht auch besser gemacht. Alles, was nicht so gut war, war vielleicht noch lehrreicher als die vielen guten Dinge. Man weiß dann zu schätzen, wie schön es ist, wenn es wieder gut läuft.“ Für die kommende Saison hat sich der „wieder glückliche“ Weigl aus eigener Erfahrung zweierlei vorgenommen: „Gesund zu bleiben und mal wieder eine komplette Saisonvorbereitung mitzumachen.“ Das wär’ doch schon mal eine gute Grundlage, um die Spielzeit 2019/20 tatkräftig und optimistisch anzugehen. 

Autor: Roland Zorn
Fotos: Alexandre Simoes