Eine Reise in die Vergangenheit. Eine Reise ins Jahr 1995. Zwei Dortmunder feiern mit Borussia eine historische Meisterschaft, die erste nach 32 Jahren. Sie haben sich für immer unseren Farben verschrieben: Michael Zorc und Lars Ricken.

Als Borussia Dortmund am 29. Juni 1963 das letzte Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft mit 3:1 gegen den 1. FC Köln gewinnt, ist Michael Zorc knapp ein Jahr alt. Die nächste schwarzgelbe Meisterelf führt er 32 Jahre später als Kapitän an und ist mit 15 Saisontreffern ihr erfolgreichster Torschütze.

Als Borussia Dortmund am 23. Juni 1976 mit einem 3:2 im Relegations-Rückspiel gegen den 1. FC Nürnberg die Rückkehr in die Bundesliga schafft, ist Lars Ricken noch nicht geboren. Er kommt erst 17 Tage später zur Welt. In der Meisterelf von 95 ist er der Zweitjüngste – und der Schütze des finalen Tores.

Beide spielen in ihrer Kindheit und Jugend für den TuS Eving-Lindenhorst, beide verbringen ihre Profikarriere bei ein und dem selben Klub: Niemand hat mehr als jene 571 Pflichtspiele für Borussia Dortmund bestritten, die für Michael Zorc notiert sind. Lars Ricken kommt auf 407 Einsätze. Zorc ist Kapitän der Meistermannschaften von 1995 und 1996, Ricken Schütze des „Jahrhunderttores“ zum Champions-League-Sieg 1997 gegen Juventus Turin.

Zusammen sind sie seit 72 Jahren beim BVB! Michael Zorc verantwortet seit 1998 den Profibereich, Lars Ricken seit 2008 den Nachwuchs.

Verabredet sind wir zu einem Interview an authentischer Stelle. Dort, wo am 17. Juni 1995 die letzte Schlacht erfolgreich geschlagen worden ist. Fragen sind vorbereitet, doch sie zu stellen, ist kaum nötig, weil Michael Zorc und Lars Ricken seit jeher ein eingespieltes Team sind.

Bild

Habt Ihr noch Erinnerungen an die Tage vor dem großen Saisonfinale?

Ricken: Die Euphorie in der Stadt war riesengroß, weil jeder davon ausgegangen ist, dass Bayern gegen Bremen gewinnen, zumindest einen Punkt holen würde.

Zorc: Bayern hatte aber eine nicht ganz so starke Saison gespielt. Werder war unser Kontrahent. Ich kann mich noch gut an den 33. Spieltag erinnern. Da waren wir fast tot. Zur Halbzeit knallten in Bremen schon die Sektkorken, weil wir in Duisburg zurücklagen.

Ricken: Sie waren praktisch Deutscher Meister, weil sie gegen Karlsruhe in Führung lagen.

Zorc: Doch wir haben das Spiel noch gedreht. Stefan Reuter hat ja nicht so viele Tore geschossen, aber diese beiden waren superwichtig.

Die Vorgabe für das Spiel gegen den HSV lautete: mit zwei Toren Unterschied zu gewinnen, damit auch ein Unentschieden von Bremen in München reicht. Wie war die Ansprache des Trainers vor dem Spiel? Wie war die Stimmung in der Mannschaft?

Ricken: Ottmar war in seiner Art wie immer ruhig und hat uns gesagt, wir sollen uns auf unser Spiel konzentrieren. Wir waren uns sehr sicher: Wenn wir das Spiel gewinnen, mit zwei Toren Unterschied, dann werden wir auch Deutscher Meister. Wir haben relativ zeitig 2:0 geführt, gleichzeitig lag Bremen schon früh mit 0:1 in München zurück.

Zorc: Unser 1:0 macht Andy Möller mit einem Bauerntrick, flach um die Mauer herum. Und Lars verwandelt einen Kopfball gegen die Laufrichtung des Torwarts – Golz, richtig? – zum 2:0. Ich kann mich noch gut an die explosionsartige Stimmung im Stadion erinnern. In der letzten Viertelstunde haben wir uns nur noch die Bälle hin und her geschoben. Wir hatten uns geschworen: Keinen Fehler mehr machen! Wir bringen das über die Bühne! Und auf den Rängen wurde getanzt und gefeiert. So etwas habe ich dann gut 15 Jahre später nochmal erlebt, aber nicht mehr als Spieler, sondern als Sportdirektor, 2011 bei unserer ersten Meisterschaft mit Jürgen Klopp, als Nobby schrie Mach mich auf, mach mich auf, als das Tor für Köln gegen Leverkusen fiel.

Ricken: 1995 gab es noch kein Social Media und keine Smartphones. Einige Zuschauer hatten Radios mit dabei und hörten die WDR-Konferenz. In der einen oder anderen Ecke brandete es dann auf, und dann verbreitete sich die Nachricht von einem Münchner Tor wie ein Lauffeuer im ganzen Stadion. Heutzutage wissen es von der einen auf die andere Sekunde alle. So etwas habe ich in der Form nie wieder erlebt, und so etwas Dramatisches hat es in diesem Stadion mit Ausnahme von 86 mit Fortuna Köln, als es gegen den Abstieg ging, auch kaum gegeben. Die Sehnsucht der Menschen, dass nach über 30 Jahren wieder eine Meisterschaft nach Dortmund kommen sollte, hat man schon beim Aufwärmen gespürt und das setzte sich mit Anpfiff nahtlos fort.

Zorc: Wir haben in der Hinrunde den mit Abstand schönsten Fußball gezeigt. Beim 6:1 in Köln haben wir gespielt wie vom anderen Stern, hätte ich jetzt fast gesagt. Wunderschöner Offensivfußball, auch beim 4:0 in Hamburg. Dann kamen leider die schweren Verletzungen der Top-Stürmer: Flemming Povlsen schon sehr früh in der Saison, dann Stéphane Chapuisat und Kalle Riedle. Auch wenn es am Ende sehr, sehr eng war, war es eine sehr verdiente Meisterschaft. Und dass man sich über einen Sieg von Bayern München freut, kann man sich heute auch schwer vorstellen (gesagt mit einem Augenzwinkern, Anm. d. Red.).

Ich bewundere heute noch den Mut von Ottmar Hitzfeld

Ricken: Wer uns auch noch mit zur Deutschen Meisterschaft geschossen hat, war Schalke. Zwei Wochen zuvor haben sie mit 4:2 gegen Bremen gewonnen, womit niemand gerechnet hätte. Das waren ganz entscheidende Punkte, die Werder nicht nur in München, sondern auch in Schalke liegen ließ. Diese Saison hatte ohnehin so viele Schlüsselmomente. Die vielen Verletzungen, in deren Folge der Babysturm mit Ibrahim Tanko und mir aus der Taufe gehoben wurde.

Zorc: Ich bewundere heute noch den Mut von Ottmar Hitzfeld, die jungen Burschen vorne reinzusetzen. Sie hatten die Geschwindigkeit und konnten auch richtig gut kicken. Und Lars ging ja noch zur Schule. Das machte die Sache für den Trainer auch nicht einfacher. Er hat die Jungs reingeschmissen, und die haben unbeschwert Fußball gespielt. Das hat uns gutgetan.

Ricken: Hitzfeld hat die Verletzungen nie als Alibi genommen und immer betont: Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist. Der Saisonverlauf, vor allem die letzten Spiele, haben gezeigt, dass dem wirklich so war.

Zorc: Es war Ottmars große Stärke, dass er jede Situation so angenommen hat, wie sie war, und dass er versucht hat, sich so schnell wie möglich darauf einzustellen. Wenn es geregnet hatte und der Rasen tief war, sagte er: Regen ist unser Wetter. War es eine Woche später knochentrocken und der Rasen viel zu hoch, sagte er: Das ist unser Platz. Ottmar wollte nie Alibis haben. Und er hat der Mannschaft auch keine Alibis gegeben.

Ricken: Ich sollte vor kurzem ein Interview geben zum Spiel meines Lebens. Ich wollte die Partie gegen den HSV nehmen, das ging aber nicht, weil Ottmar Hitzfeld sie schon für sich beansprucht hatte. Das finde ich bemerkenswert, da er ja einiges erlebt und erreicht hat in seiner Karriere.

Michael, Du warst Kapitän der Mannschaft und mit fast 33 Jahren im Spätsommer der Karriere. Lars war 15 Jahre jünger. Wie seid Ihr miteinander umgegangen? Chef und „Lehrling“?

Ricken: Ich glaube, dass ich bei den arrivierten Spielern ein gutes Standing hatte. Die haben gemerkt, der Junge kann uns mit entscheidenden Toren oder Aktionen helfen, und ich habe mich natürlich auch komplett ein- und untergeordnet. Michael bin ich allerdings etwas auf den Geist gegangen, weil ich im Bus eine Reihe hinter ihm saß, und – zwar mit Kopfhörern, aber die waren damals nicht annähernd so abgeschirmt wie heute – laut Heavy Metal gehört habe.

Zorc: Das war so, als hätte ich ein Radio neben mir gehabt. Furchtbar (lacht).

Ricken: Er hat mich einige Male zur Ordnung gerufen... Ich bin Dortmunder, ich stand selbst auf der Südtribüne, habe Michael unten spielen sehen. Für mich war es ein Traum, Teil dieser Mannschaft zu sein und 1995 entscheidend mit eingreifen zu dürfen, dass wir Deutscher Meister werden.

Zorc: Es war eine besondere Konstellation. Ich war der Älteste in der Mannschaft, Lars gemeinsam mit Ibrahim der Jüngste – und wir beide aus Dortmund kommend. Wir haben uns quasi vom Alter her eingerahmt.

Kann Borussia Dortmund stolz darauf sein, dass zwei Ur-Dortmunder Verantwortung tragen in so wichtigen Funktionen?

Zorc: Ich finde es wichtig, dass sportlich verantwortliche Positionen von früheren Spielern bekleidet werden, die über eine lange Zeit beim BVB aktiv gewesen oder sogar – wie wir beide – gebürtige Dortmunder sind. Wir haben eine hohe Identifikation mit dem Klub, wir wissen, wie Stadt und Klub ticken. Wir haben selbst als Jungs auf der Südtribüne gestanden und waren Fans, bevor wir Spieler wurden. Das ist eine einmalige Situation.

Ricken: Es ist eines der Erfolgsrezepte, dass die verantwortlichen Positionen schon sehr lange mit den gleichen Personen besetzt sind: Aki Watzke seit über 15 Jahren, Reinhard Rauball sogar noch ein paar Monate länger, Carsten Cramer ist auch schon sehr lange dabei, und über Michael brauchen wir gar nicht zu sprechen. In schwierigen Zeiten, die wir jetzt mit Corona haben, ist das ein großer Vorteil. Da weißt du einfach, dass diese Menschen im Sinne des Vereins handeln.

Zorc: Man muss nicht immer einer Meinung sein, aber man muss sich aufeinander verlassen können. Und dem ist so.

Wird Eure direkte Zusammenarbeit in Zeiten von Corona noch enger und noch wichtiger? Beim Spiel gegen Hertha saßen fünf Jungs aus der U23 oder U19 auf der Bank.

Ricken: Das war sicherlich der an dem Tag angespannten Personalsituation bei den Profis geschuldet. Vielleicht ist es aber auch ein Trend für die Zukunft, dass die Plätze 18 bis 23 im Profikader mit diesen Spielern besetzt werden.

Zorc: Das versuchen wir ja immer, und am liebsten aus der eigenen Jugend. Ich habe ein Faible dafür, viele junge Spieler mit außergewöhnlichem Potenzial und Talent gesegnet im Kader zu haben. Manchmal holt man sie auch von außerhalb, aber auch da ist es mir lieb, wenn sie noch eine gewisse Zeit durch unsere Jugend gehen, weil sie dort die Identität des Klubs kennenlernen, den Umgang miteinander und Werte vermittelt bekommen. Youssoufa Moukoko werden wir in den kommenden Monaten im oberen Bereich integrieren, Nnamdi Collins wird in absehbarer Zeit dazustoßen. Da kommt schon was nach.
Interview: Boris Rupert

Bild

Michael Zorc
Jahrgang 1962 / seit 1978 Borusse
Erfolge als Spieler: Deutscher Meister 1995 und 1996, Pokalsieger 1989, Champions-League-Sieger 1997, Weltpokalsieger 1997
Erfolge als Funktionär: Deutscher Meister 2002, 2011 und 2012, Pokalsieger 2012 und 2017

Lars Ricken
Jahrgang 1976 / seit 1990 Borusse
Erfolge als Spieler: Deutscher Meister 1995, 1996 und 2002, Champions-League-Sieger 1997, Weltpokalsieger 1997
Erfolge als Funktionär: Deutscher A-Jugend-Meister 2016, 2017 und 2019, Deutscher B-Jugend-Meister 2014, 2015 und 2018