Er schoss das erste Tor der Spielzeit 2019/20 – und er war der letzte Einwechselspieler einer Saison, die alles andere als gewöhnlich verlief. Für Tobias Raschl war sie besonders: Sie bescherte ihm am finalen Spieltag das Erstliga-Debüt. Der 20-Jährige geht damit als 383. Bundesligaspieler von Borussia Dortmund in die Vereinsgeschichte ein.

17 Uhr und 33 Minuten zeigt die Stadionuhr am 12. Juli des Jahres 2019, als Borussia Dortmund im ersten Vorbereitungsspiel auf die neue Saison recht dezent das erste Tor bejubelt. Tobias Raschl hat es erzielt, das 1:0 beim achtklassigen FC Schweinberg, und damit den ersten Fußabdruck im Profibereich gesetzt. Für den damals 19-Jährigen beginnt ein Lehrjahr, das am 27. Juni 2020 mit der Einwechselung im Bundesligaspiel gegen die TSG Hoffenheim belohnt worden ist.

Schweinberg, die sympathische 700-Seelen-Gemeinde im Neckar-Odenwald-Kreis, die für ihr „Jahrhundertspiel“ gegen den BVB 5.000 Fans aus der Region mobilisieren kann, haben die meisten Fans wohl schon vergessen, und das Spiel gegen Hoffenheim wollen sie schnell vergessen. Für Tobias Raschl sind es jedoch Meilensteine auf dem Weg vom Jugendspieler zum Bundesligaprofi.

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Als Kapitän der U19, als Deutscher A-Junioren-Meister, ist er vor gut zwölf Monaten zu den Profis gestoßen. In der Jugend stets ein Anführer, muss er sich seitdem hinten anstellen und häufig auch in Geduld üben. „Es war keine einfache Zeit für ihn“, erklärt Ex-Profi Otto Addo, als Übungsleiter an der Schnittstelle zwischen Nachwuchs und Profis tätig und Raschls engste sportliche Bezugsperson in dessen erstem Seniorenjahr: „Er war es gewohnt, immer in der Mannschaft zu spielen, mit der er trainiert.“

Das ist nun anders gewesen. Die ersten Wochen erlebt der 19-Jährige „viel intensiver als im Jugendbereich, viel schneller und robuster“. Zwei Einheiten am Tag schlauchen den Körper und den Kopf. In der Vorbereitungsphase kommt er regelmäßig bei den Profis zum Einsatz, ebenso später bei den Testspielen in den sogenannten „Länderspielpausen“. Wenn die großen Stars auf Reisen sind, füllt er wie selbstverständlich die Lücken. Auch beim „Retterspiel“ in Cottbus überzeugt und trifft der Youngster. „Ich habe in weiten Teilen der Saison das Gefühl gehabt, mithalten zu können.“ Er freut sich „über das positive Feedback im Training von Mitspielern“, über die aufmunternden Aussagen von Chefcoach Lucien Favre, den Co-Trainern Edin Terzic sowie Manfred Stefes und nicht zuletzt von Otto Addo, mit dem er sich mehrmals pro Woche bespricht. Hinzu kommt: „Ich habe eine gesunde Wahrnehmung, kann meine Leistung ganz gut einschätzen.“

Es ist ein Tanz auf drei Hochzeiten. Bis zum vorzeitigen Saisonabbruch aufgrund der Corona-Pandemie kommt er 15-mal in der Regionalliga-Mannschaft zum Einsatz und steuert zwei Tore bei. Die Gastspiele bei der U23 seien „nicht einfach, aber sehr lehrreich für ihn gewesen“, erklärt Addo: „Mit dem Tempo, mit dem anderen Spiel, hatte er anfangs Probleme. Er hat sich schnell und deutlich gesteigert.“

Zeigen kann er sein Talent zudem weiterhin auch bei der U19, wo er in der UEFA Youth League als einer von wenigen älteren Akteuren spielberechtigt ist – und die Mannschaft als Kapitän anführt. Dass sie in der Gruppenphase den FC Barcelona hinter sich lässt, ist auch Raschl zu verdanken. In den beiden Partien gegen die berühmteste Nachwuchsschmiede der Fußballwelt, La Masia, ist er bei den Dortmunder 2:1-Siegen an drei der vier Treffer beteiligt: Zwei Tore schießt der Mittelfeldspieler selbst, ein weiteres bereitet er vor. „Für mich war es in diesen Spielen leichter als für die anderen Jungs, weil ich der Erfahrene war und schon in den beiden Jahren zuvor dabei gewesen bin.“ Insgesamt seien es „geile Spiele auf einer guten Bühne“ gewesen.

Erstmals zum Kader für ein Bundesligaspiel zählt Tobias Raschl am 26. Oktober 2019. Ausgerechnet vor dem Spiel der Spiele, dem Revierderby beim FC Schalke 04, belohnt ihn Favre für durchgehend gute Trainingsleistungen. „Das war mitten in der Hinrunde. Da ging es für mich los“, sagt Raschl im Rückblick: „Das erste Mal dabei zu sein, den Ablauf mitzubekommen. Es war ein cooles Gefühl und ein wichtiger Step für mich, an einem Bundesligaspieltag dazuzugehören und nicht nur im Training dabei zu sein.“

Zweimal schafft er es in der Hinrunde noch in den Spieltagskader. Doch das neue Jahr beginnt zäh. Zudem stößt in Emre Can ein weiterer zentraler Mittelfeldspieler zur Mannschaft und verschärft den ohnehin schon großen Konkurrenzkampf auf dieser Position. Als „ein Stück weit normal, dass er mal enttäuscht oder gar frustriert gewesen ist“, bewertet Addo diese Situation: „Für mich war es wichtig zu sehen, dass Tobi – egal, wie die Situation war – im Training immer einhundert Prozent gegeben hat.“

Der Re-Start der Liga Mitte Mai ist für Raschl zwar kein Neu-Start, eher ein Durchstarten. Mit Ausnahme der Partie gegen Bayern München ist der inzwischen 20-Jährige nun immer mit dabei. Zudem scheint ein neues Reglement – fünf statt drei Einwechselungen sind erlaubt – die Chance auf das ersehnte Bundesliga-Debüt zu steigern.

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Als gegen Schalke die Stammbesetzung auf der „Doppel-Sechs“ (Witsel und Can) verletzungsbedingt fehlt und Thomas Delaney nach siebenmonatiger Pause sein Comeback feiern „muss“, als nach einer Stunde ein 4:0 auf der Anzeigetafel steht, macht sich Raschl Hoffnungen, die sich jedoch nicht erfüllen.

„Ich hatte mehrmals die Erwartung, dass ich reinkomme. Da war ich abends leicht sauer, weil es nicht so war, habe es aber nie nach außen gezeigt und versucht, diese Enttäuschung ab dem nächsten Tag in Power umzuwandeln und voll da zu sein“, sagt der Abiturient über jenes und folgende Spiele. Am letzten Spieltag der Saison erhält er dann doch noch die Belohnung in Form eines Einsatzes. In der 65. Minute des Bundesligaspiels gegen die TSG Hoffenheim schickt ihn Lucien Favre aufs Feld. „Wir hätten es uns gewünscht, ihn beim Stand von 4:0 einzuwechseln statt bei einem 0:4“, erzählt Co-Trainer Edin Terzic: „Es war dennoch ein ganz besonderer Tag für ihn, auch wenn das Ergebnis nicht schön gewesen ist.“ Diesen ersten Bundesliga-Einsatz habe sich Tobias Raschl „über die vergangenen anderthalb Jahre erarbeitet. Ein Jahr war er jetzt komplett bei uns, davor im Winter schon im Trainingslager mit dabei. Tobi hat immer Gas gegeben und sich diese 25 Minuten verdient.“ Ein Nachsatz unterstreicht das gute Verhältnis: „Tobi ist nicht nur ein guter Spieler, sondern auch ein guter Kerl.“

Unterm Strich stehen nach dem Debüt recht bemerkenswerte Zahlen. 3,47 Kilometer Laufleistung, was auf 90 Minuten hochgerechnet eine Strecke von 12,24 km ergibt, 19 Ballkontakte (68 auf 90 Minuten). 14 seiner 16 Zuspiele erreichen den Adressaten. Auf eine Passquote von 88 Prozent kommen an diesem verwachsten Nachmittag nicht viele der arrivierten Kollegen in Schwarz und Gelb. Raschl: „Zahlen lügen nicht, aber ich will sie auch nicht überbewerten. Wir hatten sehr viele Lücken. Es war kein schönes Spiel.“

Und dennoch war es ein unvergesslicher Nachmittag für die Familie. In Düsseldorf-Unterrath leben die Eltern – Robert und Nadine – sowie der ältere Bruder Henrik und die jüngere Schwester Leonie. Hier steht Deutschlands ältestes Rahmenrichtwerk für Nutzfahrzeuge, hier biegen die Raschls seit Generationen Krummes gerade. Aber nicht am Wochenende. Das ist schon immer geprägt von den fußballspielenden Jungs. Seitdem es Tobi in den Profikader geschafft hat, sitzt die Familie pünktlich zum Anpfiff vor dem Fernseher (wenn sie denn nicht im Stadion ist).

Doch am 27. Juni lassen die Raschls die Samstagseinkäufe in der Stadt gemütlich angehen. Tobi sei verletzt, heißt es. Damit kein Grund zur Eile. Wieder zuhause, pendelt Nadine Raschl „zwischen Fernseher und Garten. Plötzlich sah ich Tobi mit Leibchen. Und dann kam er tatsächlich zum Einsatz. Das war Wahnsinn“, erzählt die stolze Mutter: „Wir haben uns so sehr gefreut!“

Auch Otto Addo ist an diesem Nachmittag „froh, dass ihm der Trainer trotz des schlechten Spielstands ein kleines Bonbon gegeben und seine Trainingsleistungen honoriert hat. Eine kleine, aber wichtige Anerkennung“. So fühlt auch der Debütant: „Abgesehen vom Spielverlauf und vom Spielstand war es für mich wichtig, diesen Einsatz bekommen zu haben. Die Einwechselung war ein großer Moment, den ich nie vergessen werde.“

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Tobias Raschl blickt zwölf Monate nach dem Premierentor in Schweinberg auf ein „insgesamt sehr lehrreiches“ erstes Jahr im Profifußball zurück: „Ich konnte viel aufsaugen. Insgesamt habe ich mir zwar mehr Einsätze und mehr Spielminuten erhofft. Aber zufrieden sollte man ohnehin nie sein.“

Eine Woche Urlaub hat er sich gegönnt, mit seinen engsten Freunden in Amsterdam. Nicht fliegen, keine Quarantäne riskieren. Stattdessen arbeitet er nach der Rückkehr unter Anleitung eines Privattrainers viel im athletischen Bereich, zwei Einheiten am Tag, „damit ich fit zurückkomme“. Tobias Raschl hat für sich erkannt: „Ich war mit meinem ersten Jahr insgesamt nicht zufrieden. Ich muss mehr tun, stabiler, robuster, athletischer werden, um den zweiten Step angehen zu können.“

Die Voraussetzungen, um sich in der Bundesliga etablieren zu können, sind gegeben. Co-Trainer Edin Terzic lobt: „Er gewinnt immer mehr an Sicherheit in seinen Aktionen, wird mutiger und legt die Furcht, Fehler zu machen, zunehmend ab. Tobi ist ballsicher, kann das Spiel schnell machen.“ Raschl sei ein Stratege im Mittelfeld. „Er stabilisiert seine Mannschaft und destabilisiert die Gegner durch gute Ideen.“

Seitdem er 15 ist, spielt Tobias Raschl für Borussia Dortmund. Der Wechsel von Fortuna Düsseldorf hat sich für ihn persönlich gelohnt, die ersten Schritte im Profifußball sind gemacht. „Wenn er gesund bleibt, kann er es schaffen“, meint die Mutter. „Ich bin überzeugt, dass er seinen Weg gehen und Stammspieler werden wird in der ersten Liga“, bekräftigt Otto Addo: „Wann und wo das sein wird, ist schwierig zu sagen. Über allem steht die Frage: Wieviel Geduld bringt er mit? Ich hoffe, dass er so fleißig bleibt wie in seinem ersten Jahr.“
Boris Rupert

BVB-TV by 1&1: Tach! Tobias Raschl