Einst haben sie gemeinsam die UEFA Champions League gewonnen, heute arbeiten sie gemeinsam daran, die besten Nachwuchsspieler für Borussia Dortmund zu finden, sie auszubilden und auf Top-Niveau zu führen: Michael Zorc (56) und Lars Ricken (42). Im Interview mit dem Mitgliedermagazin Borussia sprechen der Sportdirektor und der Nachwuchskoordinator über die erfolgreichste Talentschmiede der vergangenen Jahre und sehen dennoch keinen Grund, Harmoniesoße über die Entwicklung der Jugendförderung im deutschen Fußball zu schütten. Der BVB hat sich entschieden, seine Nachwuchsarbeit weiter zu optimieren. Alleine am Trainingsgelände Hohenbuschei im Stadtteil Brackel werden aus diesem Grund in den kommenden zwei Jahren bis zu 20 Millionen Euro investiert.

Lars, Du warst Profi, Meister, Champions-League-Sieger, bist jetzt gerade einmal 42 Jahre alt und als Nachwuchskoordinator längst eine Institution. Wohin führt Dein BVB-Weg noch?

Ricken: Ich habe nie einen Karriereplan verfolgt. Für mich war es immer wichtig, tief in diesem Verein verwurzelt zu sein und möglichst lange beim BVB zu arbeiten. Es war nicht mein Ansatz, binnen kürzester Zeit in der Hierarchie zu klettern. Das Tolle an meinem aktuellen Job ist, dass ich Menschen helfen kann. Den Spielern dabei, sportlich das Beste aus sich herauszuholen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Aber auch den Mitarbeitern rund um die Teams. Wir haben inzwischen sicher 15 Mitarbeiter im Nachwuchsleistungszentrum des BVB entwickelt, – Trainer, Co-Trainer, Athletiktrainer, Physiotherapeuten – die heute im nationalen und internationalen Profifußball ihre feste Rolle gefunden haben. Insofern habe ich eigentlich den coolsten Job der Welt!

Hans-Joachim Watzke hat Dir im Rahmen der November-Versammlungen „enormes Potenzial“ bescheinigt…

Ricken: Es ist ja nicht immer nur die Frage, was man sich selbst zutraut. Natürlich freut es mich grundsätzlich sehr, wenn man im Verein der Meinung ist, dass ich in Zukunft auch für weitere Aufgaben in Betracht komme. Das zeigt ja nur, dass man unsere Arbeit im Nachwuchs wertschätzt.

Bild

Michael, in welchen Bereichen hat Lars während der vergangenen zwei Jahrzehnte die größte Entwicklung vollzogen?

Zorc: Ich kenne Lars jetzt, seitdem er als Schüler Mitte der 90er Jahre zum Profikader gestoßen ist. Damals fielen in Riedle, Povlsen und Chapuisat drei Stürmer mit Kreuzbandrissen aus. Lars und Ibrahim Tanko kamen aus dem Nachwuchs dazu und haben schnell in wichtigen Spielen – auch in internationalen – Einsatzzeit bekommen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie er nach einem Europapokalspiel noch in der Nacht mit dem Fanflieger zurück nach Deutschland gereist ist, um in Dortmund am nächsten Morgen eine Klausur zu schreiben…

…und dann?

Zorc: (lacht) Dann hat er auf einmal angefangen, nur noch Metallica zu hören und hat sich die Haare abrasiert. Nein, im Ernst: Lars hat sich kontinuierlich entwickelt. Zum einen ist er als Mensch und Familienvater gereift und hat großes Verantwortungsbewusstsein. Zum anderen hat er als – ich nenne es jetzt mal „Chef der Jugendabteilung“ – im Sinne des BVB wichtige Strukturen geschaffen, die es uns ermöglicht haben, viele Talente für den Profibereich zu entwickeln. Auf diesem Weg, nicht ganz unwichtig im Nachwuchs, hat er mit seinem Team in den vergangenen Jahren obendrein etliche Titel geholt. Ich arbeite sehr gerne mit Lars zusammen, weil wir Dinge in einer guten Atmosphäre sachlich und strukturiert miteinander besprechen können.

Was ist das Alleinstellungsmerkmal des BVB-Nachwuchs‘?

Ricken: Ich glaube, dass es die Mischung aus total ambitionierten sportlichen Zielen und einer trotzdem unheimlich familiären Atmosphäre ist, die uns auszeichnet. Borussia Dortmund gehört zu den Top Ten in Europa, und es ist unser Anspruch, Spieler auszubilden, die auch in der Champions League spielen können. Aber wir verlieren dabei – und das attestieren uns Eltern, Spieler, Berater immer wieder – die Grundidee einer Wertegemeinschaft, die zusammenhält und familiär miteinander umgeht, nie aus den Augen. Am Trainingsgelände Hohenbuschei in Brackel schlägt inzwischen das Herz dieses Vereins. Dort trainieren Profis und Nachwuchskicker eng beieinander. Und am Ende des Tages schaut die U10 schon mal beim Elfmeterschießen der Profis vorbei. So muss es sein.

Bild

Worin siehst Du Deine Kernaufgabe in diesem Team aus über 100 Mitarbeitern, das Du führst?

Ricken: Natürlich muss ich die richtigen Spieler finden und verpflichten, aber vor allem muss ich mich für die richtigen Mitarbeiter entscheiden. Das ist das A und O!  Wir haben über die Jahre in einem sehr jungen Team, verstärkt durch einige erfahrene Leute wie zum Beispiel Edwin Boekamp (Sportlicher Leiter, d. Red.) oder Matthias Röben (Pädagogischer Leiter, d. Red.) eine tolle Atmosphäre geschaffen. Da arbeitet niemand auf eigene Rechnung, da will niemand zuallererst den nächsten Karriereschritt machen. Ich bin überzeugt davon, dass sich jeder in seiner Rolle sehr wohlfühlt und im Sinne des Vereines arbeitet. Diese Atmosphäre ist sicher eine Stärke!

Mit Blick auf die sportlichen Erfolge der jüngeren Vergangenheit muss man eigentlich urteilen: Das Ende der Fahnenstange ist erreicht. Korrekt?

Ricken: Wir haben mit dem BVB-Nachwuchs in den vergangenen fünf Jahren fünf von zehn möglichen Titel geholt. Ich glaube, das wird es deutschlandweit im Jugendbereich nicht mehr geben.

Zorc: (lacht) Es geht immer mehr, Lars…

Ricken: Es wird immer schwieriger, so dominant zu sein. Inzwischen verfügen alle deutschen Top-Vereine über eine wirklich gute Jugendarbeit. Die Leistungsdichte ist enorm.

Wie schaffst Du es, Selbstzufriedenheit vorzubeugen?

Ricken: Ich glaube, dass uns dieser permanente Zweifel auszeichnet. Was können wir besser machen? In welchen Bereichen können wir von anderen Klubs lernen? Dieser Dreiklang aus Selbstkritik, Gemeinschaftsarbeit mit hoher Expertise in den einzelnen Bereichen und Pionierarbeit ist mir sehr wichtig. Wir wollen auch Vorreiter sein im deutschen Nachwuchsfußball, initiieren aus diesem Grund eine Vielzahl von Projekten. Das ist unser Anspruch. Und nicht zuletzt: Erfolg schmeckt uns. Wenn du im Signal Iduna Park vor 35.000 Zuschauern ein U19-Finale spielen kannst, dann werden Ambitionen zu einer inneren Haltung. Und die ist Teil unserer Ausbildungsphilosophie.

Michael, freust oder ärgerst Du Dich eigentlich über Spieler, die anderswo den Durchbruch schaffen?

Zorc: Ich würde das Thema sogar erweitern, denn die neueste Entwicklung ist ja die, dass unsere U23-Trainer, die auch zum BVB-Nachwuchs gehören, in der englischen Premier League sehr gefragt sind. David Wagner, Daniel Farke und Jan Siewert hat es in den vergangenen Jahren allesamt in den englischen Profifußball gezogen. Um aber auf die Frage zurückzukommen: Grundsätzlich glaube ich, dass das ein natürlicher Prozess ist. Wir möchten mit Borussia Dortmund für absoluten Spitzensport stehen. Man muss sich das wie eine Pyramide vorstellen. Nach oben hin wird es leistungstechnisch einfach extrem eng. Es kann sich nicht jeder Jugendspieler, auch nicht jeder Jugend-Nationalspieler, am Ende bei Borussia Dortmund durchsetzen. Also ist es letztlich auch eine Freude und ein Qualitätssiegel für unseren Nachwuchs, wenn Menschen, die wir ausgebildet haben, in anderen Klubs eine richtig gute Rolle spielen. Zumal wir zu ganz vielen über Jahre eine enge Verbindung halten, die mitunter auch unserem Klub zugute kommt. Egal, ob es sich um Spieler, Trainer, Athletiktrainer oder Physiotherapeuten handelt.

Bild

Ricken: Wir sehen unsere Arbeit ja grundsätzlich vor einem sehr langfristigen Horizont. Es ist kein Zufall, dass unser Jugendleiter Wolfgang Springer, Edwin Boekamp als Sportlicher Leiter, Heiner Finke als Chefscout und ich als Nachwuchskoordinator insgesamt mehr als 100 BVB-Jahre auf dem Buckel haben. Aber wenn Trainer aus unserem Bereich zu anderen Klubs wechseln, dann ist das ja auch eine Chance für uns, sie und ihre Entwicklung im Profibereich weiter zu beobachten. So war es beispielsweise im Fall von Edin Terzic, der bei West Ham United unter der Leitung von Slaven Bilic gearbeitet hat. Der Kontakt ist nie abgerissen, und siehe da: Heute ist er Co-Trainer unserer Profimannschaft.

Zorc: Oder nehmen wir Hannes Wolf, der als U19-Trainer direkt in den Profibereich (zum VfB Stuttgart, d. Red.) gewechselt ist. Sicher ein absoluter Ausnahmefall, aber er zeigt, dass wir ein gutes Händchen bei der Auswahl der Trainer für den Nachwuchs haben. Es ist für uns grundsätzlich immer wichtig, den Kontakt zu halten, diese Trainer weiter zu beobachten, um im Bedarfsfall zuzugreifen. Das ist manchmal sinnvoller als jemanden von außen zu holen, weil man Menschen mit BVB-DNA natürlich als Typ viel besser einschätzen kann als Fremde. Wir kennen ihre Charaktere, was Risiken deutlich minimiert. Nicht von ungefähr hatten wir im vergangenen Sommer überlegt, Hannes Wolf in unser Trainerteam zu integrieren.

Aktuell spielen sechs Eigengewächse im BVB-Profikader. Bis zum Wechsel von Nuri Sahin nach Bremen waren es sogar sieben. Könnt Ihr Euch mit dem Status quo anfreunden?

Zorc: Ja. Wobei die Zahl an sich für mich nicht entscheidend ist, sondern die individuelle Qualität des einzelnen Spielers. Es freut mich, dass wir in Marcel Schmelzer und Mario Götze aktuell Profis dabei haben, die wirklich BVB-Geschichte schreiben konnten. Aber in Jacob Bruun Larsen oder Christian Pulisic eben auch junge Kerle, die schon jetzt Spiele prägen können. Christian wird uns zwar im Sommer verlassen, weil sein Traum schon immer die Premier League war. Aber er wird dies zu extrem werthaltigen Konditionen tun. Du siehst: Lars und ich haben viele Schnittstellen in unserer Arbeit. Wenn es um die Verpflichtung von Talenten oder um die Akquise geht, dann kommt bei 16-, 17-Jährigen schnell die Frage nach der Anbindung an den Profibereich. Dann sitzen wir sehr oft zusammen in Terminen und arbeiten gemeinsam daran, Spieler an uns zu binden.

Seit dem WM-Aus der A-Nationalmannschaft in Russland wird viel Kritik am Zustand des deutschen Nachwuchs‘ geübt. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Zu wenig Platz für Entfaltung, kaum besondere Spielertypen, kein selbstständiges Denken.“ Ist das trübe Bild, das derzeit gezeichnet wird, ein realistisches?

Ricken: Wir müssen uns natürlich alle hinterfragen, das ist ja ganz klar. Wenn wir die U-Nationalmannschaften als Speerspitze des deutschen Nachwuchsfußballs betrachten, bleibt festzuhalten, dass das Abschneiden in den vergangenen Jahren – von Ausnahmen abgesehen – nicht gut war. Auch in diesem Sommer finden in den Jahrgängen verschiedene Europameisterschaften statt, und ich kann aktuell nicht erkennen, dass wir zu den Titelfavoriten gehören. Ich glaube allerdings nicht, dass es sich hier nur um Auffälligkeiten im Bereich der 16- bis 20-Jährigen handelt, sondern dass man die Thematik leider größer fassen muss. Wir als Nachwuchsabteilung haben inzwischen natürlich auch das Problem, dass Menschen wie Michael ein dermaßen professionelles Scouting aufgezogen haben, dass…

Zorc: (lacht) …da kommt Ihr nicht mehr mit, oder?

Ricken: …nein, darum geht’s ja nicht. Aber unsere Scouting-Abteilung kennt natürlich jedes, aber auch wirklich jedes junge Top-Talent weltweit. Ich bin ja froh, dass Zorci noch nicht Sportdirektor war, als ich damals zum BVB gewechselt bin. Sonst wäre er vielleicht auf die Idee gekommen, statt mir in England einen Michael Owen, in Frankreich einen Patrick Vieira oder in Deutschland einen Michael Ballack zu verpflichten.

Zorc: (lacht) Du warst doch außerhalb jeder Konkurrenz, Lars.

Ricken: Neeeneee, auf diese Ideen hätte man schon kommen können! Den Ballack, das muss man sich mal vorstellen, kannte damals kaum ein Klub, als der schon U21-Nationalspieler war. So ändern sich die Zeiten.

Bild

Zorc: Aber es geht ja nicht nur um das Scouting, Lars. Sondern auch darum, dass wir im deutschen Nachwuchs diese absolute Top-Qualität zurzeit nicht haben. Was die Bundesliga angeht, hat Kai Havertz (Bayer Leverkusen, d. Red.) sicher dieses Niveau. Und Leroy Sané, der aber längst bei Manchester City spielt. Was die 17- bis 21-Jährigen angeht, stehen wir im internationalen Vergleich gegenwärtig einfach nicht so gut da wie das vor einigen Jahren noch der Fall war. Ich habe zurzeit leider das Gefühl, dass der deutsche Fußball links und rechts überholt wird. Nicht umsonst wird ein Spieler wie Callum Hudson-Odoi (18 Jahre alter Engländer in Diensten des FC Chelsea, d. Red) in Deutschland auf rund 40 Millionen Euro taxiert, obwohl er erst drei Premier-League-Partien absolviert hat.

Die Nationalmannschaft wartet, um nur ein Beispiel zu nennen, seit Miroslav Klose auf einen Weltklasse-Mittelstürmer. Ein Problem?

Zorc: Ich würde die Analyse nicht auf Positionen beschränken. Mir geht es um die absolute Spitzenqualität, egal auf welcher Position, aber insbesondere im Offensivbereich. Bei Bayern München spielen seit zehn Jahren Ribery und Robben auf den Außenbahnen, wir haben Dembélé, Sancho und Pulisic entwickelt. Alle im deutschen Fußball müssen hinterfragen, warum es uns nicht gelingt, einheimische Spieler auf diesem Niveau hervorzubringen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe!

Ricken: Wir müssen da an ganz vielen Stellschrauben drehen. Natürlich gibt es insbesondere im Ausland viele Spieler, die muskulär von ihrer Genetik her schon eine Menge mitbringen und natürliche physische Vorteile haben. Sie sind körperlich ohnehin weiter, bewegen sich aber auch – und jetzt komme ich zum Punkt – in einem völlig anderen Schulsystem. Sie leben teilweise als 15-Jährige schon wie Profis. Auch wir in Dortmund kommen mit unseren Teams auf sieben Trainingseinheiten pro Woche. Aber es ist schon ein Unterschied, ob du morgens um 8 Uhr individuell trainierst, danach sieben Stunden Schule hast und am Abend erst eine Mannschaftseinheit absolvierst, oder ob du dich – wie zum Beispiel in England – schon in so jungen Jahren vornehmlich auf den Fußball konzentrieren kannst. Auch das Schulsystem ist ein Grund dafür, dass viele unserer Spieler in ihrer Entwicklung im internationalen Vergleich ein bis zwei Jahre hinterherhinken. Und deshalb müssen wir den Jungs Zeit geben. Übrigens, damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Wir möchten nicht unser Schulsystem von Grund auf ändern, dafür haben wir eine viel zu hohe soziale Verantwortung Jugendlichen gegenüber. Aber wir sehen schon Optimierungsbedarf.

Mal ganz konkret: An welchen Stellschrauben können wir kurzfristig drehen?

Ricken: Wir müssen es in unserem täglichen Ablauf beispielsweise kurzfristig hinbekommen, mit unserer U19 nicht erst um 18 Uhr, sondern schon um 16.30 Uhr zu trainieren, damit die Spieler anschließend noch Zeit haben, individuell zu trainieren, sich pflegen zu lassen, zum Physio zu gehen. Aber übrigens auch, damit die Jungs abends mal Zeit für sich haben. Wir reden in Deutschland immer über Persönlichkeitsentwicklung, aber wann soll die denn stattfinden? Die Jungs haben zwei Jobs: Schule und Fußball. Sonst haben die nichts mehr. Fast alle U19-Spieler waren in ihrem Leben noch nie auf einem Konzert. Einfach, weil sie keine zeitlichen Kapazitäten haben. Wie gesagt, hier geht es um kurzfristige Änderungen. Langfristig müssen wir uns im deutschen Nachwuchsfußball aber auch fragen: Trainieren und spielen wir im Grundlagenbereich noch richtig? Bilden wir die Trainer richtig aus? Müssen wir nicht in viel kleineren Gruppen trainieren und spielen – zwei gegen zwei, drei gegen drei, vier gegen vier? Müssen wir spezielle Kindertrainer entwickeln, die nicht nur auf das nächste Ergebnis schielen?

Zorc: Jede Fragestellung muss jetzt erlaubt sein. Auch die Frage, ob wir im deutschen Nachwuchs vielleicht zu sehr auf Titel schauen und darüber die individuelle Förderung eines Spielers vernachlässigen. Sprich: Lassen wir ihn zu lange in seinem Jahrgang spielen, um das Kollektiv zu stärken, obwohl er vielleicht schon eine Stufe höher klettern könnte? Verhindern wir dadurch eine schnellere und bessere Entwicklung? Wir müssen einfach feststellen, dass wir die Top-Top-Talente zumindest zu einem großen Teil im Ausland finden. Und das beschränkt sich übrigens nicht nur auf den Profibereich.

Ricken: Ich gebe Dir vollkommen Recht. Allerdings gehört die Ambition, nach Titeln zu streben, zu unserer Philosophie. Wir möchten die besten Spieler, die besten Trainer, die besten Physiotherapeuten, die besten Athletik- und Reha-Trainer sowie die besten Pädagogen beim BVB haben, um die besten Ergebnisse zu erzielen. Und das sind letztlich Titel. Aus einem solchen Anspruch entsteht ja eine Haltung – gerade auch beim Spieler. Ich erinnere mich noch gut, als ich hier angefangen habe. Da musste ich wöchentlich Brände löschen, weil Spieler teilweise vor einer Partie in der Disco waren und die Nacht durchgemacht haben.  Wenn du aber den Anspruch hast, permanent Erster zu werden und vor 35.000 Zuschauern ein Finale zu spielen, dann erwächst daraus eine andere Haltung. Geht jemand trotzdem in die Disco und gefährdet dadurch den sportlichen Erfolg der anderen, dann regeln die Spieler das in der Kabine selbst. Kurzum: Über solch ein Thema habe ich beim BVB seit Jahren kein Gespräch mehr führen müssen.

Bild

Lasst uns deshalb lieber über Nachwuchsarbeit 2.0 in Deutschland sprechen.

Ricken: Es geht nicht darum, alles über den Haufen zu werfen, sondern darum, Dinge zu optimieren. Die Essenz der Zertifizierung unseres Nachwuchsleistungszentrums beispielsweise war es, dass wir beim BVB ein absolutes Alleinstellungsmerkmal haben, wenn es darum geht, kreative Lösungen im letzten Spielfelddrittel zu finden. Das ist ein ganz entscheidender und bewusst gewählter Teil unserer Ausbildungsphilosophie, denn die 81.000 im Signal Iduna Park wollen Tore, Spielzüge, Offensivfußball sehen. Die DFB-Prüfer waren wirklich begeistert davon, wie wir in engen Räumen und unter Zeit- bzw. Gegnerdruck kreative Lösungen finden. Das werden wir weiter optimieren. Und weil das Thema gerade angerissen wurde: Die Entwicklung von Stürmern war uns immer wichtig. Daniel Ginczek und Marvin Ducksch spielen in der Bundesliga (Wolfsburg bzw. Düsseldorf, d. Red.), Janni Serra (Kiel, d. Red.) entwickelt sich nach schweren Verletzungen gerade gut. Aber um ehrlich zu sein: Wenn du dich gegen einen Lewandowski, einen Barrios oder einen Aubameyang durchsetzen sollst, dann wird die Luft natürlich für fast jedes Talent dünn.

Lars sprach gerade davon, dass manch ein deutsches Talent ausländischen Gleichaltrigen um ein bis zwei Jahre hinterherhinkt. Inwieweit schießen sich deutsche Klubs vor diesem Hintergrund ins eigene Knie, wenn sie ihre U23-Mannschaften abmelden?

Zorc: Das muss jeder Verein für sich selbst entscheiden. Ich halte den Verzicht auf eine U23-Mannschaft für einen kardinalen Fehler, weil wir diese Plattform für verschiedenste Bereiche benötigen. Und wenn es für jene Spieler ist, die sich etwas später entwickeln als andere. Wir berauben uns hier einer Chance, zukünftige Bundesliga- und Nationalspieler auszubilden! Hast du keine U23, musst du deinem Spieler nach der U19 sagen: „Endstation. Das war’s!“ Denn vielleicht reicht es noch nicht für den Profikader, und in der Jugend darf er ja nicht mehr spielen. Aber kann man das in jedem Fall schon so früh so endgültig einschätzen? Ich sage: Nein!

In den kommenden zwei Jahren werden am BVB-Trainingsgelände 15-20 Millionen Euro investiert. Insbesondere auch in die Infrastruktur des Nachwuchs‘. Eine gewaltige Summe. Was steckt hinter den Plänen?

Zorc: Es ist absolut notwendig, dass wir uns in Sachen Infrastruktur immer weiter verbessern. Es geht gar nicht primär darum, hier eine Vorreiterrolle zu spielen. Wir haben einfach das Gefühl, dass andere Klubs in den vergangenen Jahren viel in ihre Trainingszentren investiert haben und uns mitunter voraus sind. Wir müssen und werden jetzt reagieren, um unserem Nachwuchs weiterhin Top-Voraussetzungen zu verschaffen. Schon im Frühjahr rollen die Bagger an…

Ricken: Ich bin sehr froh, dass ich mit meinen Wünschen bei Hans-Joachim Watzke und Michael Zorc offene Türen eingerannt habe. Das zeigt doch, dass im Hause Borussia Dortmund nicht nur auf den kurzfristigen Erfolg geschielt, sondern mittel- und langfristig gedacht wird. Wir werden im kommenden Jahr mit dem kompletten sportlichen Bereich, der ja zurzeit noch in der Geschäftsstelle an der B1 zu Hause ist, nach Brackel umziehen.

Zorc: Das bedeutet: kürzere Wege, Synergieeffekte, mehr Platz, noch intensiverer Austausch. Wir können dort einfach professioneller arbeiten.

Was bedeuten die Baumaßnahmen konkret für die Nachwuchsspieler?

Ricken: Wir werden unser Jugendhaus von 22 auf 50 Zimmer erweitern. Nicht, um mehr Talente von außen zu holen, sondern um Spieler aus der näheren Umgebung, die einfach gar nicht mehr die Zeit haben, nach der Schule nach Hause und dann zum Training zu fahren, viel besser betreuen zu können. Im Stile eine Tagesinternats. Spieler können zu uns kommen, sich vielleicht mal hinlegen, Hausaufgaben machen, Nachhilfestunden erhalten, schon mal den Footbonauten für ein individuelles Training nutzen. Im Zuge der Investitionen werden wir für Spieler, Eltern und Besucher eine Kantine bauen. Ein neuer Athletikbereich wird unsere Trainingsmöglichkeiten noch einmal deutlich verbessern. Wir erhöhen die Anzahl der Spielfelder abermals, kommen mit unseren U-Mannschaften viel früher auf die großen Rasenplätze und bekommen vor allem auch eine große Halle mit hohen Decken, die so konzipiert ist, dass man dort sogar Standards trainieren kann. Die Zeit war reif, um uns zu optimieren und perfekte Bedingungen zu schaffen.

Soll der BVB in Sachen Nachwuchs-Leistungszentrum zur Benchmark werden?

Zorc: Wenn wir heute nach England schauen, dann werden dort hunderte Millionen in Trainingszentren investiert. In diese Dimensionen können und wollen wir nicht vorstoßen. Uns geht es darum, unsere nationale Spitzenposition in der Nachwuchsförderung zu erhalten und Top-Talenten bestmögliche Bedingungen zu bieten. Dafür benötigen wir keine 35 Rasenplätze.

Ricken: Borussia Dortmund will im Nachwuchs höchst effizient, auf Top-Niveau konkurrenzfähig, aber auch familiär bleiben. Am Ende ist es nicht entscheidend, wie viele Plätze, Hallen oder Umkleideräume du hast. Wichtig ist vor allem, und da verweise ich auf meine Eingangs-Äußerungen: Wer arbeitet da? Wir möchten unser Konzept mit den besten Leuten, mit Ambitionen, mit Glaubwürdigkeit, mit Wärme – kurzum - mit Leben füllen! Was wir sicher nicht wollen: zur Maschinerie werden!

Interview: Sascha Fligge / Fotos: Mareen Meyer