Shinji Kagawa hat die jüngsten Derbys geprägt wie kaum ein anderer. Wann immer das Revierduell anstand, war der Japaner zur Stelle und hat gegen kein Team häufiger getroffen als gegen Schalke. Doch ein Derby wird für ihn immer ein ganz Besonderes bleiben.

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An diesen Tag in seiner Karriere erinnert sich Shinji Kagawa noch ganz genau. Erst wenige Wochen war der damals 21-Jährige aus seiner japanischen Heimat fort, Deutsch zu verstehen war für ihn nahezu unmöglich, doch dass er etwas Außergewöhnliches vollbracht hatte, verstand er sofort. Mit zwei Treffern avancierte er am 19. September 2010 zum Helden im Revierderby und versetzte ganz Dortmund in Dauerekstase.

Über drei Jahre hatte der BVB bis dahin auf einen Sieg gegen den Rivalen warten müssen. Höllische Zeiten, doch ausgerechnet Kagawa bereitete ihnen ein fulminantes Ende. „Ich wusste zu der Zeit wirklich sehr wenig über Dortmund“, gesteht er heute, über sieben Jahre später, beim Plausch im Currywurstladen unweit seines Zuhauses am Hörder Phoenixsee: „Dass es aber ein Spiel gibt, das anders ist als die anderen, habe ich schon am Anfang gemerkt.“

Direkt nach der Begrüßung hatte Kevin Großkreutz ihm von der Derby-Faszination und dem Mythos der Spiele gegen Schalke erzählt und dann mit rauer Stimme die wichtigsten Fanlieder beibringen wollen. Erstmals greifbar wurde die Sehnsucht nach einem Sieg gegen Schalke für Shinji aber erst eine Woche vor dem Derby. Der BVB hatte soeben 2:0 gegen Wolfsburg gewonnen, Kagawa sein allererstes Bundesligator geschossen, doch die Südtribüne blickte unweigerlich nach dem Spiel schon nach vorne. „Wir woll’n den Derbysieg!“, hieß es. Die genaue Bedeutung verstand Kagawa nicht, wohl aber, „dass irgendwas in der Luft lag“. Auf dem Weg zur Kabine klärten ihn die Mitspieler dann auf, und Shinji erinnerte sich in dem Moment auch an die Großkreutzschen Gesänge. Bis ihn das ultimative Derbygefühl packte, dauerte es jedoch bis zum Spieltag selbst. „Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen“, sagt Kagawa und schmunzelt: „Ich habe aus dem Bus geguckt und nur Schalker gesehen. Da wusste ich: Wir müssen hier unbedingt gewinnen!“

„So eine Rivalität wie die zwischen Dortmund und Schalke gibt’s in Japan nicht ansatzweise“

Wenige Tage zuvor hatte er eines seiner ersten Interviews in Deutschland gegeben. Der Sport-Bild kündigte er einen 2:0-Sieg auf Schalke an und antwortete auf die Frage, wer denn die Tore schießen würde, selbstbewusst: „Ich. Zwei!“ Genau so präsentierte er sich auch auf dem Rasen. Von der ersten Minute an wirbelte der kleine Japaner mit den damals noch etwas längeren Haaren – mal im Zentrum, mal auf dem Flügel. Wo Kagawa war, war Gefahr für den Gegner. Und in der 19. Minute war es soweit. Erst wurde Benedikt Höwedes auf die falsche Fährte geschickt, dann konnte sich Manuel Neuer strecken, wie er wollte; der Ball war drin! Kagawa wusste gar nicht wie ihm geschah. Wenige Wochen zuvor hatte er noch in der zweiten japanischen Liga gespielt, plötzlich ließ er mit einem platzierten Schlenzer ein ganzes Stadion verstummen. „Es war auf einmal komplett leise“, erzählt er und strahlt dabei. Ihm fällt wieder der Moment ein, als seine Mitspieler zum Jubeln heraneilten. „Schmelle, Nuri, Mario, wer auch immer – da habe ich sie erst so richtig kennengelernt! So kannte ich sie vorher nicht“, sagt er.

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Die Emotionen dieses Derbys hatten auch Kagawa gepackt. Nicht nur, dass er nie zuvor in seinem Leben so ausgepfiffen worden war wie beim Betreten des Stadions, auch die Gangart auf dem Feld war außergewöhnlich. „Die Zweikämpfe waren noch mal härter als in den Spielen zuvor. Aber ich bin dann einfach auch direkt aggressiver reingegangen“, sagt er. Jeder im Stadion konnte es sehen. Mit dem Halbzeitpfiff holte er sich den gelben Karton ab, doch Coach Jürgen Klopp ließ Kagawa erst mal auf dem Feld – und Shinji dankte es. In der 58. Minute stiel er sich seinen Gegenspielern davon und veredelte am langen Pfosten eine perfekte Hereingabe von Jakub Blaszczykowski zum 2:0 – das Derby war entschieden. Der BVB gewann am Ende mit 3:1, und auf einmal wusste das ganze Land, wer Shinji Kagawa war: der Derbyheld in Schwarz und Gelb.

„Dass es ein Spiel gibt, das anders ist als die anderen, habe ich schon am Anfang gemerkt.“

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„Der Junge ist 21, lässt seine Familie zu Hause, hat als Ansprechpartner nur seinen Dolmetscher, und nun steht sein Name in den Geschichtsbüchern“, sagte Klopp nach dem Abpfiff und wusste: Der Hype um den kleinen Japaner hatte gerade erst begonnen. Am Abend hatten sich rund 800 Fans vor dem SIGNAL IDUNA PARK versammelt, um Kagawa und Co. in ihrer Heimatstadt mit Feuerwerk und lautstarken Gesängen in Empfang zu nehmen. „Derbysieger, Derbysieger, hey, hey“, hallte es bis tief in die Nacht, und der Doppeltorschütze lernte gleich die Dortmunder Art zu feiern kennen: Auf Händen wurde er durch die Dunkelheit getragen. „Sowas Geiles habe ich hier noch nicht erlebt“, sagte Roman Weidenfeller damals, doch Kagawa, dem schüchternen Japaner, war der Rummel um seine Person sichtlich unangenehm. „Ich kannte das ja nicht“, erzählt er und ringt heute noch sichtlich um Fassung, als er anfügt: „Jetzt bin ich etwas älter und kann sagen: Dieser Tag wird immer einer der Höhepunkte meiner Karriere sein!“

Doch nicht nur sportlich war das erste Derby ein Schlüsselerlebnis – auch privat. „Danach bin ich hier richtig angekommen“, erinnert er sich und piekst wieder schüchtern in seine Currywurst, als er sagt: „Als Derbyheld – das weiß ich jetzt – kann man in Dortmund ganz gut leben.“ Seit sieben Jahren – klammert man das Intermezzo auf der Insel aus – ist Kagawa nun schon im Ruhrgebiet, und die Mentalität der Menschen hier hat ihn von Beginn an beeindruckt. „Ich bin schon so freundlich empfangen worden und immer mit jedem klargekommen“, sagt er. Das bestätigen seine Familie und Freunde. „Sie sind dann immer überrascht, von wie vielen Leuten sie angesprochen werden“, sagt Shinji. „Diese Herzlichkeit hier ist durch nichts zu ersetzen!“ Damit seien die Menschen im Pott denen aus seiner japanischen Heimat auch gar nicht so verschieden, den größten Unterschied merkt er tatsächlich beim Fußball und speziell vor dem Derby. „So eine Rivalität wie die zwischen Dortmund und Schalke gibt’s in Japan nicht mal ansatzweise. Nach meinem ersten Derby war mir klar: Das hier, das muss der Fußball in Deutschland sein, von dem immer erzählt wird.“ Heute weiß er: „So etwas ist nur möglich, wenn der Fußball ein Teil der Kultur des Landes ist.“  

„Als Derbyheld – das weiß ich jetzt – kann man in Dortmund ganz gut leben.“

Doch es gibt auch da Unterschiede, Shinji Kagawa weiß es aus eigener Erfahrung. Von 2012 bis 2014 spielte er für die Red Devils von Manchester United, deren größter Rivale seit jeher der FC Liverpool ist. Die in England als North-West-Derby bekannte Begegnung beider Teams hat Kagawa ebenso mehrfach gespielt wie das Stadtduell zwischen United und Manchester City. Doch an das deutsche Derby kommen beide Partien nicht heran. „Das Spiel hier ist einfach heißer“, sagt Kagawa: „Sowohl auf als auch neben dem Platz.“ Auch deshalb ist er froh, seit drei Jahren wieder in Dortmund zu sein.

„Nach dem ersten Derby war mir klar, dass du in solchen Spielen über dein eigenes Limit gehen musst. Sonst kannst du keine Anerkennung erwarten!“ Dass er diese Worte wie kaum ein anderer verinnerlicht hat, zeigt ein Blick auf seine ganz persönliche Derbystatistik. Viermal hat Kagawa schon gegen Schalke getroffen – gegen kein Team der Liga mehr. Und wenn es nach ihm geht, sollen in Zukunft noch einige hinzukommen: Seinen Vertrag hat er im Sommer erst bis 2020 verlängert. „Nach sieben Jahren spüre ich, wie eng wir hier in Dortmund alle zusammengewachsen sind“, sagt er. Mit seinen Toren 2010 hatte er daran großen Anteil. Er gab quasi den Startschuss für die erfolgreichste Vereinsepisode der Neuzeit.

„Die Zweikämpfe waren noch mal härter als in den Spielen zuvor. Aber ich bin dann einfach auch direkt aggressiver reingegangen.“

Mit dem Rückenwind des Derbysiegs blieb der BVB 15 Spiele in Serie ungeschlagen und fuhr überragende 14 Siege ein. Als Herbstmeister und mit Namenszusätzen wie „Senkrechtstarter“ und „Überfigur“ verabschiedete sich Kagawa Anfang 2011 zum Asien-Cup und musste dort den ersten herben Rückschlag seiner noch jungen Laufbahn verkraften: Mittelfußbruch im Halbfinale und ein halbes Jahr Pause. Die große Katastrophe, denn so verpasste er nicht nur den Triumph mit der Nationalmannschaft, sondern auch sein Derbydebüt im SIGNAL IDUNA PARK. Erst am letzten Spieltag der Saison feierte er sein Comeback und als Entschädigung die Deutsche Meisterschaft.

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Seitdem war Shinji Kagawa nicht zu jeder Zeit der unumstrittene Stammspieler wie in der Hinrunde 2010. Wenn aber ein Derby anstand, hat der mittlerweile 28-Jährige stets auf dem Rasen gestanden und alles gegeben – wie damals in seinem ersten Revierduell. „Es hat sich auch über die Jahre hinweg nichts verändert. Der Druck ist immer der gleiche, und die Rechnung einfach: Du musst gewinnen, etwas Anderes zählt nicht“, sagt er.

Gewonnen hat der BVB in den letzten drei Derbys nicht (es gab drei Remis), entsprechend groß ist die Sehnsucht – ähnlich wie 2010. Es klingt nach einem Spiel wie gemacht für Shinji Kagawa.
Jan-Philip Kirschke