Erst 19 Jahre alt und damit am Anfang einer Karriere – und doch schon so reif, so abgeklärt, auf dem Platz und außerhalb. Erling Haaland ist erst seit einem halben Jahr in Dortmund. Er wirkt zurückhaltend, nimmt aber jede Kleinigkeit auf, im Gespräch und auf dem Rasen. Er ist da, wo er sein muss – und explodiert, wenn es darauf ankommt.

Das Video, das Erik Sandberg, Erik Botheim und Erling Haaland an einem herrlich sonnigen Nachmittag im Sommer des Jahres 2016 produzierten, wäre wahrscheinlich auf immer in den Privatarchiven der Künstler verblieben, wenn es die drei jungen Männer nicht in einem ganz anderen Fach zu einer gewissen Bekanntheit gebracht hätten. So ist nun dreieinhalb Jahre später der Do-it-Yourself-Clip der „Flow Kingz“ zur Komposition „Kygo Jo“ zum Internet-Hit avanciert, mehr als 4,5 Millionen Mal haben ihn Menschen in aller Welt bisher aufgerufen.

Musikalisch sind sicherlich Sandberg und Botheim die treibenden Kräfte des Trios, der Gesang des dritten Mannes ähnelt eher dem Ruf der Nebelkrähe, doch es ist zweifellos jener Erling Haaland, der die Performance populär gemacht hat. Nach seinem Wechsel zu Borussia Dortmund verbreitete sich das Video in großer Runde im Internet, auch die Presse bekam es mit. Hier und da war danach von einer „Jugendsünde“ und von einer „Peinlichkeit“ aus Kindheitstagen die Rede, doch viele Fans sind anderer Meinung. In der Kommentarleiste auf Youtube gibt es viel Anerkennung für Haaland. Erling sei nur deshalb Fußballer geworden, um diesen fantastischen Song zu vermarkten, schrieb ein Zuhörer, während sich ein anderer eine Szene in drei Akten ausdachte: „Ich spiele Kygo Jo bei 100 Prozent Lautstärke/ Nachbar ruft die Polizei/ Polizei kommt und nimmt den Nachbarn fest.“

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Nicht viel später als zu jener Zeit, in der sich Haaland und seine Freunde am Rap versuchten, wurde auch der BVB auf den blonden Norweger aufmerksam. Haaland fiel den Nachwuchsscouts während eines Junioren-Turniers auf. Man beschloss, ihn regelmäßig zu beobachten, aber auf diese Idee waren inzwischen auch andere Klubs gekommen – zumal da sich der vielseitige Angreifer bereits als 17- Jähriger beim norwegischen Erstligisten Molde FK einen Stammplatz erspielt hatte. So saßen am 1. Juli 2018 angeblich die Späher nahezu sämtlicher Top-Klubs Europas auf der Tribüne des SK Brann in Bergen, um Erling Haaland in Aktion zu erleben, und sie sollten nicht enttäuscht werden. Bei Moldes 4:0-Sieg gegen den damaligen Tabellenführer schoss der Mittelstürmer binnen 61 Minuten Einsatzzeit sämtliche Tore. Es konnte nun wirklich keinen Zweifel mehr geben, dass seine Zukunft nicht in der Popmusik, sondern im Fußball liegen würde. Dort wo auch sein Vater Alf-Inge, genannt „Alfie“, beruflich zuhause war: Zehn Jahre hatte er bis 2003 in England bei Nottingham Forest, Manchester City und Leeds United gespielt.

Während der Zeit in der Kleinstadt Molde an der Westküste hat Erling Haaland nicht nur sein fußballerisches Talent weiterentwickelt, das ihn angeblich bereits als Fünfjährigen hervorhob. Er hat in Molde auch die Gestalt des Mannes gewonnen, der die Gegenspieler allein durch seine Statur in den Schatten stellt. 17 Zentimeter legte er in einem verblüffenden späten Wachstumsschub zu, aus dem ehedem begabten, aber leider viel zu schmächtigen Jungen wurde ein kraftvoller Athlet mit einem Körper, der sich für den Nahkampf gegen hünenhafte Verteidiger prächtig eignet.

Kraft, Leichtigkeit, Antritt

Nun ist Haaland bei 1,94 Metern angelangt, doch es kommt keine Angst auf, wenn man ihm gegenübertritt. Trotz der respektablen Erscheinung geht von ihm nicht die Anmutung des Türstehers aus, der keine Fragen stellt, sondern lieber gleich zupackt. Stattdessen könnte man meinen, dass der junge Mann und sein schlaksiger Körper noch eine Weile brauchen könnten, um vollständig zueinander zu finden. Amerikaner würden sagen: Erling Haaland muss noch in seinen persönlichen Rahmen finden, der Prozess des Wachstums ist nicht abgeschlossen. Für seine Trainer und für sein persönliches Fitnessprogramm ist das durchaus ein Thema. Sie müssen einerseits zusehen, dass er an Kraft zulegt, und andererseits darauf achten, dass er dadurch nichts von seiner Leichtigkeit und dem extrem flinken Antritt verliert.

Der österreichische Torwart Samuel Sahin-Radlinger hat damals bei SK Brann im Tor gestanden, als Haaland viermal traf. Dem Portal „Spox“ erzählte er, dieser 17-Jährige sei ihm ziemlich arrogant vorgekommen, aber vielleicht sei er auch nur ziemlich selbstsicher gewesen, der Grat sei da sehr schmal. Als arrogant hat den Norweger beim BVB noch keiner erlebt, als selbstbewusst hingegen schon. Vor allem hat ihn jeder als extrem ehrgeizig kennengelernt. Haaland ist kein Mensch, der laut ist und in den Mittelpunkt drängt, aber er ist auch nicht schüchtern. Er ist locker und wirkt meistens auf angenehme Art relaxed. Das ändert sich jedoch, wenn ihm im Training etwas misslingt, wenn er das Tor verfehlt oder wenn es zum Äußersten kommt – und er mit seinem Team das Trainingsspiel verliert. Dann kann die schlechte Laune hartnäckig werden. Andererseits passiert es auch, dass er ernsthaft in Jubel ausbricht, wenn ihm beim Warmschießen vor dem Spiel ein gutes Tor glückt. Haaland versteht es, sich in den jeweiligen Augenblick zu vertiefen. Sowohl während der Vorbereitung aufs Spiel wie in den 90 Minuten oder – jenseits des Rasens – im Gespräch. Ständige Wachsamkeit ist ein Merkmal seines Wesens.

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Schon in sehr jungen Jahren wurde Haaland ein ausgeprägter Fußballverstand nachgesagt. Diese Gabe hat er auch in Dortmund öfter erkennen lassen. Haaland denkt mit, interessanterweise nicht nur dann, wenn seine Mannschaft angreift. Beim Spiel in Mönchengladbach im März stand der Torjäger als Verteidiger auf der Torlinie, als Lars Stindl für die gegnerische Borussia traf, der Ball rollte durch seine Beine, was unverdienterweise für spöttische Kommentare sorgte. Wenn man sich nämlich die Szene genauer anschaut, dann sieht man einen Spieler, der vorempfindet, wohin der Ball kommen wird, und der sich dann vorsorglich genau am richtigen Ort postiert. Dass er den Ball nicht bekommt, ist Pech.

Aus dem gleichen Grund ist auch das Tor spektakulär, das er im Januar gegen den 1. FC Köln erzielte. Auf den ersten Blick war sein vierter Treffer für den BVB ein gewöhnliches Abstaubertor. Der Kölner Schlussmann Timo Horn kann den Ball nicht festhalten, Haaland ist zur Stelle und schiebt ihn ins Tor. Doch Haaland hatte sich schon zum Tatort bewegt, als es noch keinen Tatort gab. Er schien zu wissen, was passieren würde.

Haaland ist nur wenige Tage von seinem 20. Geburtstag entfernt, doch es werden schon Legenden über ihn erzählt. Es heißt, dass seine ersten beiden Ballkontakte zu Toren führten, als er sich fünfjährig bei seinem Kindheitsverein Bryne FK vorstellte. Oder dass er im Alter von zwölf bereits den Lebenswandel eines Leistungssportlers pflegte. Keine Legende ist es hingegen, dass er für den BVB im ersten Spiel drei Tore schoss, und dies als Einwechselspieler beim Spielstand von 1:3. Darauf könnte er sich durchaus etwas einbilden, aber von den Allüren eines Jungstars gibt es nichts zu berichten in Dortmund. Haaland ist für jeden jederzeit zugänglich, Vieles macht er mit einem Lächeln und dem für Skandinavier typischen Entgegenkommen. Medientermine bereiten ihm keine Probleme, er sieht sie gern als Herausforderung und präsentiert sich als schnell und schlagfertig, manchmal auch als übermütig. Am Tag nach dem 2:1-Sieg gegen Paris St. Germain saß er mit einem Reporter der „New York Times“ zusammen. „Do you feel like a sensation?“, fragte ihn der Journalist. No, sagte Haaland lächelnd: Eher wie eine „zensation“ – eine Anspielung auf seinen Buddha-Jubel nach den beiden Toren gegen PSG.

Man kann sich vorstellen, dass Haaland in diesem Moment sehr einverstanden war mit seinem Leben und seinen Entscheidungen. Er hatte eine Menge Angebote gehabt, und er hatte dann Borussia Dortmund ausgewählt, weil man ihm zugesagt hatte, dass er regelmäßig spielen werde, und weil er gesehen hatte, dass beim BVB 19-Jährige wie Achraf Hakimi und Jadon Sancho zur Stammbesetzung gehörten und ein 17-jähriger wie Giovanni Reyna auch schon regelmäßig seine Chance bekommt. Und nun saß er hier mit einem New-York-Times-Reporter, nachdem er am Vorabend mit seinen Teenager-Kollegen das Star-Ensemble von PSG besiegt hatte. Da kann man schon mal einen lässigen Scherz machen.

Aber zumindest diese Story ging für ihn am Ende nicht gut aus. 0:2 hieß es nach dem Rückspiel in Paris, und obendrein gab es Spott von Neymar, der den Buddha-Jubel karikierte. Erling Haaland war darüber nicht erfreut, genauer gesagt: Er war richtig sauer. Andererseits: Vor ein paar Monaten wäre es Neymar nicht eingefallen, sich über Haaland lustig zu machen. Er hatte ihn gar nicht gekannt. Da kommt der Spott einer Würdigung gleich. Erling Haaland hat es beim BVB schon weit gebracht, und er steht trotzdem noch am Anfang.
Philipp Selldorf

Erling Haaland in Zahlen

  • Erling Haaland legte den besten Start eines Bundesliga-Spielers überhaupt hin: Der Norweger ist der erste Spieler, der in seinen ersten sechs Bundesliga-Spielen neun Tore erzielte!
  • Für diese neun Treffer benötigte er nur 19 Torschüsse! Nach sieben Toren mit links traf er zweimal mit rechts.
  • Der junge Norweger ist der erste BVB-Spieler, der beim Debüt in der Bundesliga, im DFB- Pokal und in der Champions League traf. Er erzielte zwölf Tore in seinen ersten elf Pflichtspielen für die Borussia.
  • Als siebtem Spieler in der Liga-Historie gelangen ihm beim Debüt drei Tore. Er war aber der erste, dem das als Joker gelang (beim 5:3-Sieg in Augsburg wurde in der 56. Minute beim Stand von 1:3 eingewechselt).