Heute vor 20 Jahren, am 18. Mai 1996, wurde Borussia Dortmund die Meisterschale überreicht – nach erfolgreicher Titelverteidigung die zweite innerhalb von zwölf Monaten, die fünfte insgesamt. Ein Rückblick auf die Saison 1995/96.

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Heiko Herrlich kam aus Gladbach.

Der Reiz des Neuen war es nicht, der die ausgelassenen Borussen Profis faszinierte, denn wie sich die Meisterschale anfühlt, hatte der Großteil von ihnen bereits ein Jahr zuvor erkunden können. Nein, es war die euphorische Begeisterung der riesigen Fangemeinde im Westfalenstadion sowie dem Friedensplatz.

„Unglaublich, sensationell, wahnsinnig“, faszinierte nicht nur Andreas Möller die einzigartige Atmosphäre, die sich nach der erfolgreichen Titelverteidigung in einem kollektiven Freudentaumel der rieseigen Fangemeinde widerspiegelte.

Vergessen war das lange Zittern und die Anspannungen, die bis zum Triumph durchlebt werden mussten, die Rückschläge, vor allem in der Rückrunde, und das nervige Gerangel um Heiko Herrlich vor der Saison. Der Torschützenkönig wollte unbedingt die Borussia wechseln. Nach der Premiere „lief es mir kalt den Rücken runter“, da er beim dem insgesamt enttäuschenden 1:1 gegen den 1. FC Kaiserslautern den einzigen Treffer markierte. Mit dem gleichen Resultat kehrten die Schwarzgelben aus Leverkusen zurück. Michael Meier: „Hier war mehr drin.“

Nach 1:5 in Rückstand auf Rang 13

Und schon machten sich die Auswirkungen der neuen Drei-Punkte-Regelung bemerkbar, ein Remis hatte nicht mehr seine ursprüngliche Bedeutung. Doch bei Hansa Rostock reichte es noch nicht einmal zu diesem einen Pünktchen, dafür aber für reichlich kuriose 90 Minuten. 2:0 führten die souveränen Gäste im Ostseestadion, bevor der Aufsteiger in der Schlussphase den Spieß zu einem 3:2 umdrehte. „Ein Verein, der Ansprüche wie der BVB hat, darf sich so eine Niederlage nicht erlauben“, wetterte Ottmar Hitzfeld, den der Blick auf die Tabelle wenig erfreute: Die Dortmunder rangierten auf Platz 13.

Schon die ersten Wochen der Saison 1995/96 machten deutlich, dass der BVB als neuer „Branchenführer“ merklich mit anderen Ansprüchen zu Werke ging. Man hatte teuer eingekauft (Heiko Herrlich, Jürgen Kohler, der Tscheche Patrick Berger, der uruguayische Nationalspieler Ruben Sosa und während der Saison der Blitztransfer von Jörg Heinrich) und agierte rationaler.

Die Wende wurde zwar mühselig, aber effektiv, gegen die „Fohlen“ vom Bökelberg geschafft, als Lars Ricken neun Minuten vor dem Ende zum 2:1 und zum ersten Sieg einschoss. „Jetzt geht es los“, frohlockte Stefan Reuter, der sich als guter Prophet erwies. Vier Siege in Siege standen auf der Tagesordnung, und was für welche! Nach der Pflicht beim FC St. Pauli folgte die Kür. So kickten die Schwarzgelben gegen den VfB Stuttgart nur mit zehn Mann, da Knut Reinhardt mit Rot dekoriert vorzeitig Duschen musste, fiedelten trotzdem den VfB Stuttgart mit dem magischen Dreieck Bobic, Balakov und Elber mit 6:3 ab. In Frankfurt setzte sich der Torsegen beim 4:3 fort, gleichzeitig wurde dreimal ein Rückstand aufgeholt.

Am 8. Spieltag ein 2:1 gegen die Bayern

Und dann kamen sie, die scheinbar unbesiegbaren Bayern, bei den Otto Rehhagel mit sieben Erfolgen nach ebenso vielen Spieltagen an der Isar einen Einstand nach Maß gefeiert hatte Es wurde ein mitreißender Abend, an dem der „Poeta del Gol“, Ruben Sosa, nach seiner Einwechselung und dem ersten Ballkontakt mit einem traumhaften Freistoß das 2:1 markierte und damit die Borussen auf die Siegesstraße führte.

Diese verließ der BVB bis zur Winterpause nicht mehr, auch der alte Rivale Schalke 04 konnte den Siegesexpress nicht aus der Spur bringen, obwohl die Königsblauen nur auf das Dortmunder Tor spielten. „Das ist die bitterste Niederlage seit ich in Schalke Trainer bin. Sie tut weh. So brutal kann Fußball sein“, raufte sich Jörg Berger die Haare, als Michael Zorc quasi mit dem Schlusspfiff den Ball zum 2:1-Auswärtssieg in die Maschen drosch. Der BVB überzeugte nicht, nahm aber die Punkte mit. So werden seit Jahrzehnten die meisten Meister gemacht. Zur Winterpause stand der BVB wieder an der Spitze: Zwölf Siege, vier Unentschieden und nur eine Niederlage, eine imponierende Bilanz lag unter dem schwarzgelben Tannenbaum. Lediglich die Bayern hielten noch mit zwei Zählern einen geringen Abstand, während die restliche Konkurrenz schon mit zwölf Zählern hinterher hechelte.

Verletzungspech blieb den Borussen treu

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Meister-Macher Ottmar Hitzfeld

Die Tabellenführung des BVB konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verletzungspech den Borussen auch in dieser Saison treu blieb. 92 Mal mussten Spieler wegen Verletzungen pausieren, allein 14 Muskelfaserrisse wurden diagnostiziert. Das geplante Stammspieler-Potenzial konnte in der Rückrunde kaum einmal abgerufen werden. Am deutlichsten wurde dem BVB das Dilemma im Viertelfinale der UEFA Champions League aufgezeigt. Ajax Amsterdam erteilte den Borussen im Westfalenstadion eine bittere Lektion: nach Toren von Edgar Davids und Patrick Kluivert gewannen die vollkommen dominanten Holländer mit 2:0 und machten damit auch das Rückspiel nur noch zu einer Pflichtaufgabe.

In der Bundesliga verteidigte der BVB von Spieltag zu Spieltag die Tabellenspitze, allerdings manchmal eher schlecht als recht. Angstgegner Rostock gewann im Westfalenstadion mit 2:1, Punktverluste in Kaiserslautern und Mönchengladbach taten ihr übriges. Aber auch der große Konkurrent aus München, bei dem das Medien-Theater zwischen „Kaiser Franz“ und Otto Rehhagel bereits im vollen Gange war, verlor wertvolle Punkte und blieb dadurch stets auf Abstand.

Ausgerechnet beim Tabellenvierten VfB Stuttgart gelang dem BVB der ersehnte Befreiungsschlag; in einem Match, das jeder, der dabei gewesen ist, bis heute nicht vergessen hat. „Chapuisat ist wieder da“, skandierten die 5.000 mitgereisten Fans im Gottlieb-Daimler-Stadion und warfen immer wieder einen verzückten Blick in Richtung Anzeigentafel, auf der ein 0:5 erstrahlte. Der Schweizer, der nach seinem Kreuzbandriss lange Probleme hatte, an seine alte Form anzuknüpfen, trug sich an diesem Samstagabend zweifach in die Torschützenliste ein, und der Privatsender Sat.1 durfte sich selbst auf die Schulter klopfen, denn er hatte mit der ersten Live-Übertragung an diesem ungewohnten Termin einen Volltreffer gelandet.

Im März das Siegen verlernt

Gleich sechs dieser Volltreffer gelangen dem BVB gegen die Frankfurter Eintracht, und Trainer Hitzfeld orakelte: „Die Mannschaft hat gezeigt, was in ihr steckt. Ich freue mich auf München.“ Die Wirklichkeit sah anschließend bitterer aus als die süße Vorfreude. „Noch nie haben die Bayern in einem Heimspiel den Schlusspfiff so herbeigesehnt“, stieg in Dr. Gerd Niebaum anschließend der Frust auf. Mehmet Scholls Tor konnten die Dortmunder nicht egalisieren, zumal als unerfreuliche Randerscheinung noch das Volksstück „Jagdszenen im Olympiastadion“ aufgeführt wurde. In der Hautrolle der Torschütze, der Stéphane Chapuisat ungestraft per Faustschlag niederstreckte.

Der hatte bei allen Dortmundern wohl seine Nachwirkungen hinterlassen, das Siegen hatten sie verlernt. Es folgten Wochen, in denen beide Spitzenvereine unfähig waren, entscheidend zu punkten. Der BVB hangelte sich von Unentschieden zu Unentschieden, während das „Dream-Team“ aus München Niederlage um Niederlage kassierte. Als Ende April Hansa Rostock im Olympiastadion mit 1:0 gewann, musste Rehhagel seinen Trainerstuhl vorzeitig räumen. Nun wollte es der Kaiser wieder selbst richten. Und zumindest die Borussen taten alles dafür, dass es gelingen konnte.

Am 31. Spieltag folgte in Karlsruhe ein Waterloo erster Klasse. „Das 0:5 war eine der bittersten Stunden für mich. Es war deprimierend mit anzusehen, wie wir innerhalb von fünf Minuten drei Gegentreffer kassiert haben. Meine Mannschaft wurde vom KSC vorgeführt“, musste Hitzfeld resigniert feststellen und appellierte an die Ehre der Spieler: „Ich bin zutiefst in meinem Stolz verletzt, eigentlich sind es alle.“ Das badische Debakel war für die Dortmunder Zweckgemeinschaft heilsam. „Man spürte von Beginn an, dass sie etwas gutzumachen hatten“, stellte auch der damalige Bundestrainer Berti Vogts fest, als der BVB den KFC Uerdingen mit 5:0 förmlich überrollte. Auch im Nachholspiel gegen Leverkusen ließen Sammer & Co nichts mehr anbrennen, während die Bayern nach einer 2:0-Führung noch mit 2:3 in Bremen verloren.

Showdown in München

Die Entscheidung fiel dann am 33. Spieltag. Der BVB holte im Münchner Olympiastadion zwar nur ein 2:2 gegen dem TSV 1860, doch die Bayern verloren zeitgleich in Gelsenkirchen. Meister wären die Borussen wohl auch ohne diese Schützenhilfe geworden. „Wir sind kein berauschender Meister, dafür haben wir in der Rückrunde zu viele Schwächen gezeigt. Auf der anderen Seite war die Willensstärke unser Plus“, blickte Ottmar Hitzfeld sachlich zurück: Den Fans war es egal. Sie genossen die zweite Übergabe der Meisterschale innerhalb von zwölf Monaten.

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