Von einem sehr kalten Geburtststag, einem von Würmern zerfressenen Rasen, einem geflüchteten Spielgestalter und einem Aufruf auf dem Boden. Vier außergewöhnliche Geschichten aus 50 Jahren Stadion.

Gänsehaut und die klirrende Kälte

„Kalt“ wäre nun wirklich nicht das richtige Adjektiv. Es war nicht kalt am 19. Dezember 2009. Es war schweinekalt. Oder noch genauer: oberschweinekalt. Die Quecksilbersäule im Thermometer zeigte bei Spielbeginn zwölf Grad. Minus zwölf Grad. Bei Spielende mag es noch etwas kälter gewesen sein, und in den Erzählungen der 80.100 Zuschauer, die live dabei waren, als der ruhmreiche BVB am Tag seines 100. Geburtstages den SC Freiburg empfing, kommt mit jedem Jahr ein weiteres Minusgrad hinzu. 

So oder so: Das erste Duell war bereits entschieden, als Schiedsrichter Peter Sippel die Mannschaften auf den Platz führte: Die Rasenheizung hatte es gegen den Frost verloren. Das Spielfeld war knüppelhart gefroren, ein reguläres Fußballspiel im Grunde gar nicht möglich. An jedem anderen Tag wäre die Partie vermutlich abgesagt worden – aber wer hätte es wagen wollen, dieses Spiel abzusagen?! An diesem Tag. Bei diesem Programm, an dem die Fangruppen und der BVB monatelang getüftelt und gewerkelt hatten. 

Vor allem der aktiven Fanszene war es zu verdanken, dass die Anhänger an diesem Tag trotz klirrender Kälte wieder und wieder heiße Schauer überliefen. Monate vorher hatten die Ultra-Gruppen damit begonnen, Spenden zur Finanzierung einer Choreographie historischer Güte einzusammeln. Seit August hatten sie in hunderten Arbeitsstunden gemalt, geklebt, gebastelt. Das Ergebnis war spektakulär – und unmittelbar vor Spielbeginn zu bestaunen. Zu den Klängen von „Leuchte auf mein Stern Borussia“ zogen die Anhänger eine riesige Plane mit dem BVB-Logo über die gesamte Breite und Höhe der Südtribüne. Und dann zogen sie an einer Seilkonstruktion vor der Silhouette der Stadt Dortmund eine überdimensionale Ansammlung schwarzgelber Helden in die Höhe. Darunter Gründervater Franz Jacobi, Spieler wie August Lenz, Lothar Emmerich, Norbert Dickel und Michael Zorc – Lars Ricken reckte den Champions-League-Pokal in die Höhe, „Aki“ Schmidt den DFB-Pokal, Wolfgang Paul den Europacup der Pokalsieger, und über allen schwebte gleichermaßen, mit der Meisterschale in der Hand, Alfred „Adi“ Preißler. 

Ganzkörpergänsehaut. 

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Das Spiel, das der BVB in goldfarbenen Trikots bestritt, die den „Flutlicht-Trikots“ vom legendären 5:0 über Benfica Lissabon aus dem Jahr 1963 nachempfunden waren, hatte nicht den Heizwert des Drumherum. Nur zwei echte Höhepunkte bot es: das einzige Tor des Tages durch Lucas Barrios (19.) und das Comeback des nach langer Verletzungspause in Durchgang zwei eingewechselten Dédé. Mit dem Sieg kletterte die Borussia zu Weihnachten auf Platz fünf und damit in die Europa-League-Ränge. Exakt dort lief das Team von Jürgen Klopp auch bei Saisonende ein und qualifizierte sich für den internationalen Wettbewerb. 

Warm ums Herz und sogar in den zwischenzeitlich eingefrorenen Zehenspitzen wurde den Fans wieder nach dem Schlusspfiff. Unter einem gigantischen weißen Ballon, der über dem Mittelkreis schwebte und als Projektionsfläche für eine Lasershow mit historischen Szenen diente, sang der eigens gecastete BVB-Jahrhundertchor die eigens komponierte Jubiläumshymne.
Frank Fligge

Popivoda und der Rasenpapst ihrer Majestät

Samstag, 23. April 1977. Der Tabellenneunte Borussia Dortmund empfängt den Zweiten Eintracht Braunschweig, der einen Punkt hinter Spitzenreiter Borussia Mönchengladbach rangiert. Der BVB hat nach 30 Spieltagen bereits 67 Tore erzielt, so viele, wie nie zuvor ein Aufsteiger, 40 davon im eigenen Stadion. Und er besitzt bei nur zwei Punkten Rückstand noch Chancen auf die UEFA-Pokal-Teilnahme. 

Doch im 16. Heimspiel der Saison 1976/77 bleibt er ohne eigenen Treffer. Die Angriffsbemühungen werden von einem Rasen, der diese Bezeichnung längst nicht mehr verdient, torpediert. Die beste Chance lässt Peter Geyer aus, der freistehend vor Keeper Bernd Franke vergibt. Doch noch größer ist die Möglichkeit für die Gäste in der 73. Spielminute. Den 44.855 zahlenden Zuschauern stockt der Atem, als Helmut Nerlinger im Mittelfeld das tückisch vor ihm aufsetzende Spielgerät über den Schädel rutscht und Danilo Popivoda plötzlich freie Bahn hat. Der Jugoslawe umspielt an der Sechzehnmeterlinie den aus seinem Kasten herausstürzenden Horst Bertram, sieht nur noch das leere Tor vor sich, holt aus zum Schuss – und rutscht samt Rasen weg, der keinen Halt mehr findet in den von Würmern angefressenen Wurzeln, landet auf der Nase, und Hans-Joachim Wagner kann den Ball noch klären. „Popivoda ist mit seinen Beinen im Sand versunken, und so kam er zu Fall“, lauteten Bertrams Erinnerungen an jene kuriose Szene. 

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Anfang Mai rücken Bagger an, tragen den Rasen ab, der von Spezialisten aus England dann neu eingesät wird. Zum letzten „Heimspiel“ der Saison 1976/77 weicht Borussia Dortmund ins Gelsenkirchener Parkstadion aus. Die Mannschaft findet das gar nicht gut. Horst Bertram: „Wir fanden es sogar doof, ausgerechnet nach Schalke zu müssen. Das war Feindgebiet für uns. Warum hat man das Spiel nicht nach Bochum verlegt?“ 

Und dann kommt Mister John Escritt. Der Rasenpapst aus der Partnerstadt Leeds. Der Gärtner der Königin. Erprobt in Wembley und in Wimbledon. Seine überaus kühne These: „Ich brauche nur drei Monate, dann ist die Sache geritzt!“ Escritt schreitet sofort zur Tat. Der gesamte Rasenbereich wird ausgekoffert, eine besondere Sandmischung regelrecht komponiert und kilometerweit vom Rhein und von der Ruhr herangekarrt. Natürlich ist auch ein spezieller Samen-Mix erforderlich. Gesagt, gemixt. Mister Escritt ist immer mit dabei. Mit Rasensaat und Zollstock – und mit seiner obligatorischen Zigarette im Mundwinkel. 

Der Rasen wächst, das satte Grün lädt förmlich zum Kicken ein. Der Saisonstart 1977/78 kann kommen. Meint man. Doch dann meldet sich ein gewisser Petrus zu Wort. Er lässt es vor dem Match gegen Duisburg tagelang wie aus Eimern regnen. Der Rasen ist zwar spitze, aber leider so dicht gewachsen, dass er kein Wasser durchlässt. Das Stadion ähnelt rasch einem abgezirkelten viereckigen See. Die Feuerwehr kommt und pumpt das Wasser ab. 24 Stunden vor dem Anpfiff entspannt sich die Situation kurzzeitig. Doch Petrus öffnet wenig später wieder die Schleusen. 

Genau um 15.15 Uhr am Samstag, dem 13. August 1977, also eine Viertelstunde vor dem geplanten Anstoß, steht es definitiv fest: Die BVB-Heimpremiere mit der Begegnung gegen den MSV Duisburg kann auf keinen Fall stattfinden. Tage später erhält der Rasen eine Spezialbehandlung in Sachen Durchlässigkeit. Er wird regenfreundlich aufgeschlitzt, zahllose Löcher, in die man Sand einfüllt, gebohrt. Das Spiel gegen Duisburg kann folgerichtig zwei Wochen später problemlos nachgeholt und gewonnen werden.
Gerd Kolbe 

Raducanu und der Traum vom Westen

Tauchen wir ein in eine Zeit, in der der „Kalte Krieg“ zwischen Ost und West täglich präsent ist, eine Mauer Deutschland teilt und die USA und die Sowjetunion jeweils beweisen wollen, dass ihr System das bessere sei. Wir schreiben den 31. Juli 1981. Der BVB hat für die Eröffnung der Spielzeit 1981/82 die rumänische Nationalelf eingeladen. In dieser Mannschaft kickt ein begnadeter Techniker und Spielgestalter namens Marcel Raducanu. Seine Popularität wird in der Heimat nur noch von der legendären vielfachen Turn-Olympiasiegerin Nadia Comaneci übertroffen. 

„Ich wollte ins Ausland. Nicht weil es mir schlecht ging, sondern weil ich eine neue Herausforderung brauchte.“ Zweimal war Raducanu Fußballer des Jahres in Rumänien, er war Nationalspieler und Star bei Steaua Bukarest, dem FC Bayern seiner Heimat. Er war Meister und Pokalsieger. Doch all das war er hinter dem Eisernen Vorhang. „Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich auch im Westen Fußball spielen kann. Das war mein Traum.“ 

Es hätte damals auch Italien oder Spanien sein können. Doch es wurde Deutschland. Raducanu kam mit der Nationalmannschaft zunächst nach Hannover. „Da haben wir eine Klatsche gekriegt. 1:4 gegen Hannover 96 aus der zweiten Liga.“ Und dann ging’s nach Dortmund. 

Ein Freund habe ihm erklärt: Marcel, wenn Du hier bleiben willst, musst Du zwei Dinge tun. Eine starke erste Hälfte spielen, um auf Dich aufmerksam zu machen – und dann weg. Nach dem Abpfiff hast Du keine Chance. „Nach dem Spiel wäre es unmöglich gewesen, abzuhauen. Da war überall Geheimpolizei.“ Also täuschte Marcel Raducanu nach einer starken ersten Hälfte eine Verletzung vor, zog sich den Ärger seines Trainers zu – blieb letztlich aber in der Halbzeit in der Kabine zurück. Allein. Es war die Gelegenheit. Nie wird er diesen Moment vergessen. Raducanu duschte, packte seine Tasche und spazierte einfach so aus dem Stadion. Unbemerkt. Draußen wartete der Freund in einem Auto. Gemeinsam fuhren sie nach Hannover. 

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„Und dann ging’s los mit den Fehlern“, sagt Marcel Raducanu. Er habe einige davon gemacht. Der erste und schwerwiegendste war, zuerst einen Vorvertrag in Hannover und dann einen Vertrag beim BVB zu unterschreiben. „Ich hatte ein bisschen Muffe, ob ich es auf Anhieb in der Bundesliga schaffen würde, deshalb war ich zuerst in Hannover.“ Der BVB musste ihn auslösen. Dr. Reinhard Rauball und Walter Maahs haben die Dinge damals geregelt. Raducanu aber wurde ein Jahr gesperrt. Hannover bekam für die Abtretung seiner Rechte eine halbe Millionen D-Mark zugesprochen. „Das war eines der besten Geschäfte in deren Vereinsgeschichte. Ich kriege heute noch Einladungen, wenn in Hannover was los ist“, sagt Raducanu. Mittlerweile kann er darüber lachen. Damals aber war das alles äußerst ärgerlich. „Das Geld hätte auch ich haben können. Ich hatte ja ursprünglich nichts an Ablöse gekostet, bin für Lullu aus Rumänien gekommen. Aber das war mein Fehler.“ 

Als es für den begnadeten Fußballer dann endlich losging, war Trainer Branko Zebec schon wieder weg. Insgesamt habe er eine nicht so günstige Konstellation erwischt. In der Tat gab es bessere Dekaden in der Vereinsgeschichte von Borussia Dortmund als die Achtziger Jahre. Aber: „Für meine persönliche Entwicklung war es gut. Ich bin froh, dass ich beim BVB gespielt habe. Es war eine tolle Zeit. Ich war sehr beliebt. Die Zuschauer waren zufrieden mit mir.“ Man dürfe sich auch nicht zu viele Gedanken machen. Vor allem dürfe man nicht quervergleichen nach dem Motto: Was wäre, wenn man heute spielen würde. „Uwe Seeler hat noch weniger verdient als ich – und der war ein Weltklassespieler.“ So hat alles und jeder seine Zeit. 
Nils Hotze 

Spottke und das Lob des Bundespräsidenten

Heute ist es fast ein Pflichtprogramm, dass sich jeder von uns in den sozialen Netzwerken mehr oder weniger heftig einem eigentlich peinlichen Seelenstriptease unterzieht. Das war vor fast 40 Jahren ganz, ganz anders: Das Bundesliga-Spiel des BVB gegen den HSV in der Spielzeit 1986/87 fand am 15. Mai 1987 vor 41.800 Besuchern statt und endete mit einem 4:3-Sieg der Gastgeber. Zur Halbzeit stand es 1:1. Fast aber hätte diese Partie gar nicht stattgefunden. 

Was war geschehen? Im Frühjahr 1987 gab es in Deutschland leidenschaftliche Debatten um die erste staatliche Volkszählung. Musste das überhaupt sein? Wollte der Staat im Sinne von Orwells „1984“ als „Big Brother“ einen zu intimen Blick auf seine Bürger werfen? Stünde vielleicht sogar der Orwellsche „gläserne Mensch“ vor der Tür? Fragen über Fragen, die zahlreiche Volkszählungsgegner auf den Plan riefen. Diese waren mit ihren Aktionen durchaus erfinderisch. So staunten die Mitarbeiter des Sportamtes der Stadt Dortmund, an ihrer Spitze Stadion-Verwalter Gustav Sträter, nicht schlecht, als sie an besagtem 15. Mai 1987, einem Freitag übrigens, morgens ins Westfalestadion kamen. Da stand in riesigen Lettern auf dem grünen Rasen zu lesen: „BOYKOTTIERT UND SABOTIERT DIE VOLKSZÄHLUNG“. 

Donnerwetter: Waren da doch in der Nacht die Täter über den Zaun geklettert, um ihren Protest gegen die staatliche „Spitzelaktion“ plakativ zu artikulieren. Damit, so hofften sie, wäre ihnen die gewünschte bundesweite Aufmerksamkeit sicher. Zum ersten Mal in der Geschichte der Fußball-Bundesliga wurde hier ein Stadion missbraucht, um eine politische Parole unters Volk zu bringen. 

Und das war noch keineswegs alles! Denn durch diese Aktion war die Austragung des abendlichen Bundesligaspiels gefährdet. 

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Der DFB wollte nicht zulassen, dass ein solcher Boykott-Aufruf während der 90 Minuten von Dortmund zu sehen sein würde. Genau das nämlich ergab eine morgendliche Anfrage von Sportdezernent Erich Rüttel bei den Herren in der Otto-Fleck-Schneise zu Frankfurt. Guter Rat war nunmehr also teuer. Zunächst versuchte die Sträter-Crew, die „Botschaft“ mit grüner Farbe zu übermalen und dadurch verschwinden zu lassen. Das Ergebnis lautete: Misserfolg.

Rüttel berief eine innerstädtische Gesprächsrunde ein und erörterte die Situation. Den rettenden Einfall hatte Werner Spottke, der Leiter des Ordnungsamtes. Er schlug vor, den Boykott-Aufruf lediglich mit einigen Wörtchen zu ergänzen. Die Idee fand allgemeine Zustimmung. Kleiner Haken: Wenn man es so machte, bedurfte man der offiziellen Genehmigung durch Bundespräsident Freiherr Richard von Weizsäcker, der als Absender der Botschaft herhalten sollte. Flugs wurde telefonisch eine Verbindung nach Bonn hergestellt. Von Weizsäcker fand lobende Worte für die Dortmunder Kreativität und segnete den Spottke-Vorschlag ab. 

Als in den Abendstunden die Fußballfans ins Westfalenstadion strömten, staunten sie nicht schlecht, als sie auf dem Spielfeld lesen konnten: „DER BUNDESPRÄSIDENT: BOYKOTTIERT UND SABOTIERT DIE VOLKSZÄHLUNG NICHT.“ Man hatte die Botschaft schlichtweg ins Gegenteil verkehrt. 

Das Ende vom Lied: Das Spiel gegen den HSV konnte stattfinden, der Rasen im Westfalenstadion durfte gemütlich nachwachsen und sich damit peu a peu von der weißen Farbe trennen. Spottke sei Dank!
Gerd Kolbe

Die Texte stammen aus dem Mitgliedermagazin BORUSSIA. BVB-Mitglieder erhalten die BORUSSIA in jedem Monat kostenlos. Hier geht es zum Mitgliedsantrag.