Norweger und Borussia Dortmund: Das passt. Nach Stürmer Erling Haaland ist Julian Ryerson seit Januar 23 ein wichtiger Bestandteil der Mannschaft. Im Interview spricht der früherer Unioner über die Arbeitseinstellung in seiner Heimat, seine Liebe zu Fernreisen, pinke Frisuren und verrät, wie schnell sein Wechsel nach Dortmund klappte...

Julian, wir wollen heute ein wenig über Deine private Seite sprechen.

Das mache ich ja am liebsten... (grinst)

In Dortmund wirkst Du seit Deinem Wechsel bisher eher zurückhaltend.

Insgesamt bin ich in der Kabine tatsächlich eher ruhig, das gebe ich zu. Ich muss nicht zu sehr herausstechen. Ich mache meinen Job.

Dann bist Du plötzlich mit einem Mercedes 190 SL am Trainingsgelände in Brackel vorgefahren – einem schwarzen Oldtimer. Im Urlaub hast Du Dir die Haare pink gefärbt. Kann es sein, dass Du gar nicht so schüchtern bist, wie viele denken mögen?

Ich möchte es so ausdrücken: Wenn Urlaub ist, dann ist Urlaub. Und dann bin ich etwas anders unterwegs (lacht). Mit älteren Autos bin ich aufgewachsen, mein Vater hatte früher schon einen Oldtimer. Wenn ich da- mit über die Landstraßen cruise, am besten bei gutem Wetter mit offenem Cabrio-Dach, dann macht das einfach Spaß. Und zu den pinken Haaren: Ich habe mir nicht viel dabei gedacht...

In den sozialen Netzwerken ging das Foto viral. Sogar Atlético Madrid ist darauf aufmerksam geworden. Der offizielle Vereinsaccount hat kommentiert, Deine Frisur erinnere stark an Superstar Antoine Griezmann, der ebenfalls die Haare pink hatte.

Ja, das habe ich unter meinem Beitrag natürlich auch gelesen. Wie schon gesagt: Das war spontan im Urlaub. Solche Einfälle gibt es bei mir das eine oder andere Mal. Ganz ehrlich: So schlimm fand ich’s nicht. Jetzt sind die Haare auch schon wieder fast normal blond.

Viele Deiner Kollegen verbringen ihren Sommerurlaub auf Ibiza oder auf Mallorca und lassen am Strand die Seele baumeln. Du warst in der Millionen-Metropole New York City. Brauchst Du keine Erholung?

Ich habe auch dort meine Ruhe bekommen. Es war nicht zu voll. Ich konnte in Brooklyn sogar mitten auf der Straße freihändig mit dem Fahrrad fahren. Ich war danach noch in Rio de Janeiro. Achja, und kurz in Miami – aber das war nur ein kleiner Zwischenstopp.

Du bist also ein Typ für Fernreisen.

Ich möchte etwas von der Welt sehen. Wir haben elf Monate im Jahr, in denen wir praktisch in einer Blase leben. Und wenn ich dann Zeit habe, geht es gerne weiter weg. Und nicht immer an die gleichen Orte. New York hat mich tatsächlich am meisten beeindruckt bisher.

Du bist mit 21 Jahren von Norwegen nach Deutschland gekommen, als Du bei Union Berlin unterschrieben hast. Wie war die Umstellung auf ein neues Land für Dich?

Ich bin mit 15 Jahren schon zuhause ausgezogen. Ich habe Lyngdal verlassen, als ich zu Viking (Erstligaklub in Norwegen, Anm. d. Red.) gewechselt bin. Also lebe ich jetzt schon fast zehn Jahre allein. Das hat mir bei diesem Schritt sicher geholfen. Selbstständig war ich immer. Deutsch war eine neue Sprache für mich, obwohl ich ein paar Brocken aus der Schule konnte. Aber: Wenn du so fokussiert auf Fußball bist, dann lernst du die wichtigsten Wörter schnell. Trotzdem war gerade der Anfang eine Herausforderung. Ich habe nichts geschenkt bekommen. Mein direkter Konkurrent auf der Position war Kapitän Christopher Trimmel. An solchen Aufgaben wächst man.

Du sprichst Deinen Heimatort Lyngdal an. Er liegt im Süden Norwegens an einem Fjord. Laut Internet ist dort bis heute die Wikingerkultur zugegen...

Interessant. Das ist nicht das Erste, was mir in den Kopf kommt. Sondern eigentlich viel eher: Fußball!

Warum?

Das ist eine verrückte Sache. Wir sind eine Stadt mit 8000 Einwohnern. Aber wir haben sehr viele Fußball- Profis hervorgebracht. Mit Stefan Strandberg spiele ich in der Nationalmannschaft zusammen. Mein Cousin Mathias Rasmussen ist jetzt zu Saint Gilloise (belgischer Europapokalteilnehmer, d. Red.) gewechselt. Es gibt auch noch einen weiteren Profi in Schweden. Woran das liegen könnte, werde ich oft gefragt: Vielleicht ist es die Arbeitermentalität von dort.

Das passt ja zum BVB.

Wir haben zuhause viele Angler und viele Bauern; viel Natur und einen wunderschönen See. Der Fußball spielt aber eine große Rolle bei uns. Meine Eltern haben mich mit vier Jahren auf dem Fahrrad zu einem Training gefahren, und seitdem war es geschehen mit mir und dem Fußball. Liebe auf den ersten Blick. Meine Freunde dort waren alle ein paar Jahre älter. Mit ihnen habe ich auch eine meiner schönsten Erinnerungen erlebt.

Welche?

Das Team bestand nur aus Leuten aus meiner Straße. Wir haben gefühlt jeden Tag auf dem Bolzplatz gespielt. Mit 13 oder 14 Jahren sind wir dann ins Finale der norwegischen Meisterschaft gekommen. Das war wirklich cool – und drei, vier Leute haben es jetzt in den Profifußball geschafft.

In Dortmund wirst Du für Deine intensive Spielweise geschätzt. Im Ruhrgebiet können Spieler zu Publikumslieblingen werden, die nicht nur mit Finesse oder Toren glänzen, sondern mit harter Arbeit. Echte Malocher.

Das habe ich vom ersten Tag an gespürt. Hier stehen die Leute nicht nur auf und jubeln, wenn man ein Tor schießt, sondern feiern auch eine geile Grätsche. Ich finde es mega, dass die Mentalität hier so ist. Das passt zu mir. Es macht richtig Bock und da will man als Spieler noch ein paar Prozente mehr herauskitzeln.

Dein Spitzname soll „Little Pitbull“ sein. Stimmt das?

Du kannst mich nennen, wie Du willst. (grinst)

Nach Deinem Wechsel zu Union Berlin hast Du betont, dass Du Dich mit der Geschichte des Vereins beschäftigt hast und sie zu Dir gepasst hat. Warum jetzt Dortmund?

Es musste etwas Besonderes für mich kommen, um aus Berlin wegzuziehen. Und Borussia Dortmund ist ein Klub, der ganz besonders ist, und da musste ich nicht lange überlegen. Ich war in Kontakt mit den Verant- wortlichen, und dann ging alles wirklich schnell.

Wie schnell?

Als ich mich zum ersten Mal mit Sebastian Kehl getroffen habe, haben wir den Vertrag unterschrieben. Das Treffen dauerte nur eine Stunde. Wir haben schnell gesagt: Das machen wir! Und am nächsten Tag war ich hier. Also ich würde sagen: sehr schnell.

Nach viereinhalb Jahren in Berlin war das ein nächster Karriereschritt. Dort warst Du Vize-Kapitän und einer der Lieblinge von Trainer Urs Fischer. Der Wechsel, so hört man, habe Union sehr wehgetan.

Ich habe versucht, diesen Schritt für mich logisch zu betrachten. Es war natürlich sehr emotional, gerade als die Unioner Fans hier ins Stadion gekommen sind und mich mit Applaus empfangen haben. Aber ich habe im Winter versucht, das Interesse des BVB aus einer logischen und sportlichen Perspektive zu denken. Ich war viereinhalb Jahre in Berlin. Ich habe mich in die Stadt und den Verein verliebt. Es war eine intensive Zeit – und auch nicht immer nur schön. Es war viel harte Arbeit. Wir haben uns aus der zweiten Liga nach Europa hochgearbeitet. Da gehören beim Abschied Emotionen dazu. Aber ich habe für mich eine gute Entscheidung getroffen. Und die heißt: BVB!

Wie hat Dich die Zeit unter Urs Fischer geprägt?

Schon sehr. Du sagtest zuvor, ich sei ein „Lieblingsschüler“ gewesen. Ich will es so sagen: Es war schon auch sehr hart unter ihm. Der Trainer hat auf alles aufgepasst, jedes kleinste Detail. Urs Fischer sind die Basics, die einfachen Dinge, wichtig. Das trage ich in mir. Und das ist im Fußball aus meiner Sicht total unterschätzt: Welche spezifischen Aufgaben auf der Position gefordert sind, wie man sich zunächst in ein Spiel arbeitet und dass ein Spieler nicht abhebt. Wenn man daran gewöhnt ist, im Leben nichts geschenkt zu bekommen, dann hilft das auch auf dem Fußballplatz. Diese Werte während der Karriere nicht zu verlieren, ist umso wichtiger. Das lernt man bei Urs Fischer.

Dein erstes Pflichtspiel für den BVB war der 4:3- Sieg gegen Augsburg. In Mainz hast Du im zweiten Spiel Dein erstes Tor geschossen. Warum hast Du kaum Anlaufzeit gebraucht?

Ich hatte gar nicht die Zeit, alles zu sortieren und nach- zudenken. Alles ging schnell. Nach wenigen Tagen stand ich das erste Mal mit den Jungs in der Startelf. Das Spiel gegen Augsburg konnten wir zum Glück für uns entscheiden, aber eins war damals direkt klar: Wir müssen Spiele anders gewinnen als 3:2, 4:3 oder 5:3 und defensiv stabiler werden. Das haben wir dann auch gezeigt mit zehn Siegen in Serie.

Bis zur Winterpause holte die Mannschaft 1,67 Punkte pro Spiel. In den 17 Liga-Spielen, in denen Du mitgewirkt hast, waren es 2,35 Punkte. Die Zahl der Gegentore sank von 1,40 pro Partie auf 1,29.

Ich glaube, deswegen bin ich hier, oder? Es ist ein Verdienst der gesamten Mannschaft. Aber es gehört sicherlich für mich dazu, defensiv zu denken und Stabilität reinzubringen. Es hilft immer, wenn man kommt und direkt spielen kann. Dann muss man auch nicht so viel reden. Man kann über den Fußball kommunizieren. Da lernt man seine Mitspieler am besten kennen. Und wir haben einander sofort gut verstanden.

Hier bei Borussia spielst Du mal linker Verteidiger, mal rechter Verteidiger. Du hast bei Deinen vorherigen Stationen auch schon Innenverteidiger und Sechser gespielt. Was ist denn Deine Lieblingsposition?

Bei Union habe ich bei einem Auswärtsspiel in Bremen sogar schon Stürmer gespielt. Das Wichtigste ist für mich, auf dem Platz zu stehen. Es ist aber sicherlich auch eine Qualität, dass ich flexibel einsetzbar bin. Schon in der Jugend, als ich mit den älteren Kindern gespielt habe, habe ich die Positionen gewechselt: Innenverteidiger, Außenverteidiger, zentrales Mittelfeld, rechter Flügel. Da habe ich den Fußball von allen Positionen kennengelernt. Ich denke, daher kommt das. Es ist für mich auch gar kein Problem. Früher war ich Offensivspieler. So wie es ist, passt es.

In Ramy Bensebaini ist ein neuer Linksverteidiger dazugekommen. Wie siehst Du die Konkurrenz im Kader?

Konkurrenz ist sehr gut. Man muss den Druck vom Mitspieler spüren. Es geht um die Startplätze. Das hilft uns als Mannschaft und auch jedem Einzelnen, damit wir uns verbessern.

Am letzten Spieltag hat es am Ende knapp nicht zur Meisterschaft gereicht. Wie hast Du das verlorene Saisonfinale erlebt?

Ich habe alles drumherum aufgesaugt. Aber so viel kann und will ich darüber nicht sagen. Nach dem Spiel war ich wie jeder andere auch in mir selbst versunken. Manchmal passieren solche Dinge. Nur das war der schlimmste Moment dafür, der möglich gewesen wäre. Das hat sehr weh getan.

Schmerzt es immer noch?

Ich kann und will wirklich nicht mehr darüber sagen. Ich habe versucht, den Tag wegzustecken und zu verarbeiten. Es geht mir immer wieder schlecht, wenn ich daran denke. Es kommt immer wieder hoch. Es ist deswegen generell sehr schwierig, über mein erstes halbes Jahr in Dortmund zu sprechen.

Wie meinst Du das?

Viele Leute sagen, dass ich persönlich einen guten Schritt gemacht habe. Ich habe in der Champions League gespielt und habe viele Einsätze gehabt. Aber es ist schwierig, das positiv zu sehen, weil wir als Mann- schaft am Ende eine riesengroße Enttäuschung erlebt haben. Wenn man nur logisch denkt – und nicht emotional –, dann war es ein gutes Jahr für mich persönlich. Aber ich bin nie zufrieden. Ich will immer mehr, habe den Hunger und will mich verbessern. Wir werden wieder angreifen.

Die verlorene Meisterschaft könnte den Hunger in der Mannschaft noch einmal verstärken.

Ja. Ich hoffe, dass dieser Tag in allen tief drinsteckt und etwas auslösen kann. Das kann uns guttun. Wir haben Ziele. Ich glaube weiter daran. Wir haben gezeigt, dass wir angreifen können. Im Urlaub war jeder selbst dafür verantwortlich, das Erlebte zu verarbeiten und zu reflektieren. Als Fußballer hat man viel Zeit, über Dinge nachzudenken. Diese Zeit sollte man sich nehmen. Es gilt, zusammen da rauszukommen. Bis jetzt sieht es gut aus.

Bei Union Berlin warst Du Vize-Kapitän. Wie siehst Du jetzt Deine Rolle in der Mannschaft?

Hier musste ich erstmal alles wirklich kennenlernen. Aber ich hoffe, dass ich auch für die Kabine gewisse Qualitäten einbringe. Ich will meine Mitspieler auf und neben dem Platz unterstützen. Es ist sehr wichtig für uns, dass wir alle miteinander reden. Mich haben alle Spieler sehr offen empfangen. Das war direkt ein gutes Zeichen.

Du sollst auch in der BVB-Golf-Gruppe vertreten sein.

Als kleiner Junge habe ich mit dem Golfen angefangen, da hatte ein neuer Platz bei uns eröffnet. Mit 23 Jahren habe ich den Sport dann wiederentdeckt. Ein paar gute Golfplätze haben wir hier rund um Dortmund, auf denen ich mit Niklas Süle, Gregor Kobel und Nico Schlotterbeck auch schon gestanden habe. Über die Ergebnisse spreche ich aber nicht...

Ein anderer Norweger und Dein Nationalmannschaftskollege, Erling Haaland, ist hier ein guter Bekannter. Habt Ihr über den BVB gesprochen?

Natürlich. Seine Geschichte ist sehr bekannt. Auch dank ihm kennt man Dortmund in ganz Norwegen. Der BVB ist ein Thema zwischen uns. Eigentlich fast immer, wenn wir uns sehen. Erling ist ruhig und lustig in der Kabine. Ihr kennt ihn hier wahrscheinlich noch besser. Er ist ein guter Junge und ja: ganz okay Fußballspielen kann er auch...

In der EM-Qualifikation steht Ihr in der Gruppe hinter Schottland und Georgien nur auf Platz drei. Auch Spanien ist ein großer Konkurrent und hat weniger Spiele absolviert. Wie schätzt Du die Chancen ein, noch das EM-Ticket zu lösen?

Es ist nicht zu Ende, bevor es zu Ende ist. Wir haben noch eine weitere Chance über die Nations League. Ich glaube, mit der Truppe und Qualität können wir schon von der EM-Teilnahme träumen. Aber wenn wir die Qualifikation nicht schaffen, dann haben wir es auch nicht verdient.

Für Norwegen spielen aktuell Martin Ödegaard vom FC Arsenal, Erling Haaland und Du. Ist das eine „goldene Generation“?

Das kann ich nicht sagen. Vor 20 Jahren haben in der Nationalmannschaft fast nur Premier-League-Spieler auf dem Platz gestanden. Aber ich glaube, in der Spitze hat es so eine Qualität wie jetzt vielleicht noch nicht gegeben. Allerdings man muss es auch umsetzen und immer auf dem Platz zeigen.

Union spielt in diesem Jahr erstmals Champions League. Was wünscht Du Deinem Ex-Verein?

Nur Erfolg. Solange sie in der Bundesliga-Tabelle hinter uns bleiben, ist alles okay. Die Champions League ist eine tolle Geschichte für den Verein. Ich habe dort einfach schöne Jahre verbracht und alles investiert. Jetzt wird die Geschichte beim BVB weitergeschrieben. 

Autor: Jonas Ortmann

Fotos: Alexandre Simoes 

Der Text stammt aus dem Mitgliedermagazin BORUSSIA. BVB-Mitglieder erhalten die BORUSSIA in jedem Monat kostenlos. Hier geht es zum Mitgliedsantrag.