Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Falko Henning über das Spiel Borussia Dortmund gegen den SC Paderborn (18.04.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Der König von Dortmund dankt ab

Ich bin ein fußballerischer Spätzünder, vielleicht nicht einmal das. Manchmal bilde ich mir ein, auf der Höhe meiner Fähigkeiten zu spielen und zu schreiben, kurz danach bin ich mir wieder sicher, dass ich weit darunter bleibe.

Seit 2005 bin ich in der deutschen Autorennationalmannschaft, seitdem habe ich in ungefähr 100 Spielen mein erstes und bisher einziges Tor 2008 in Gießen geschossen. Und noch immer bin ich kein Fan einer Mannschaft, abgesehen von meiner eigenen. Das wäre nicht sehr bedenklich, wenn mein Fußballwissen nicht allgemein unterbelichtet wäre. Das hat sich wohl sogar bis zu Denis Seger von Evonik herumgesprochen, meinem Ansprechpartner für meinen ersten Besuch eines Bundesligaspiels. Er ruft extra einige Tage vorher an und überprüft vorsichtig, ob ich von Jürgen Klopps Kündigung beim Ballspielverein Borussia erfahren habe. Klopps häufig aufblitzende Schwäche in der Impulskontrolle fand ich immer sympathisch, war aber froh, nicht sein Gegenüber zu sein, wenn er die Zähne bleckte. An Klopp kann man sehen, dass Lächeln und Lachen ursprünglich Drohgebärden waren.

2008 hatte er den vom Abstieg bedrohten Dortmunder Ballspielverein übernommen und ihn bis Spätherbst 2010 zum Tabellenführer gepusht. Zum König von Dortmund wurde er 2011 mit dem ersten Meistertitel. Das Wunder wiederholte sich 2012, dazu vernichtete der BVB Bayern im Pokal-Finale mit 5:2. Der Zauber war noch 2013 im Endspiel der Champions League in Wembley zu spüren, so nahe war der BVB der Weltspitze. Allerdings unterlag Dortmund dem FC Bayern unglücklich. 2014 scheiterte der BVB ganz knapp im Viertelfinale der Champions League an Real, einem der großen Spiele der BVB-Geschichte, und die Dortmunder schlugen Bayern 3:0 in München!

Doch im Januar 2015 war Dortmund dann Tabellenletzter. Was wird nun passieren beim ersten Spiel in Klopps Abschiedsserie, dem gegen Paderborn? Reißen sich die Spieler den Arsch auf, oder bricht die Mannschaft auseinander?

Meine Freundin und ich sind eingeladen, werden von freundlichen Evonik-Leuten durch das Stadion geführt und sind, ehe wir richtig darüber nachdenken können, Freunde des BVB. Dass der BVB Herzenssache ist, dafür steht ein Holzkohlengrill für den Stadionsprecher, wo der vor Beginn noch ein Würstchen mit Freunden isst, die sich gar nicht für Fußball interessieren und gleich wieder abhauen. Der Stand wurde aufgebaut, weil der BVB immer gewinnt, wenn der Sprecher sich auf diese Weise stärkt. Fußball ist gar nicht so kompliziert, denke ich.

Vor Anpfiff werden Fahnen geschwenkt, wie wir es noch nie gesehen haben. Gelbe Fahnen auf grünem Rasen vor der Gelben Wand. Es ist eher ein Meer aus Schals, Transparenten, Kleidung und natürlich noch mehr Fahnen, die in riesigen Formaten ununterbrochen geschwenkt werden, so dass wir uns fragen, wie die Zuschauer hinter einer solchen Fahne überhaupt das Spiel sehen können. 

In der ersten Halbzeit passiert allerdings für die über 80.000 Zuschauer in der ausverkauften Arena wenig, zwar sind die Dortmunder deutlich überlegen, aber was nützt das, ohne Tore? Das soll der Anfang vom Ende der Ära Klopp sein? Wir machen uns stattdessen Gedanken über die Stutzen, die uns eher an Ringelsöckchen erinnern und mir kindlich erscheinen, passender für Bienenkostüme im Kindergarten als für Mats Hummels und sein Team. Wir sitzen gegenüber der Gelben Wand auf der Nordtribüne, und links unter uns trommelt, schreit und singt ein Häufchen wackerer Paderborner für ihre Mannschaft, aber wir haben das Gefühl, dass sie eigentlich nur zu hören sind, wenn die Gelbe Wand mal etwas leiser geworden ist. Psychologie im Fußball, die Paderborner haben keine Chance gegen diese Wand, und mit ihr im Rücken spielen die Dortmunder wie enthemmt.

Mit Anpfiff der zweiten Halbzeit platzt der Knoten, schon nach anderthalb Minuten köpft Mkhitaryan in die unfassbar kurze Ecke. Wir fotografieren die Gelbe Wand und schauen doch fassungslos auf dieses Spektakel, die Freude von 80.000 Menschen. Paderborn hat dem weiteren Schützenfest der Dortmunder nicht viel entgegenzusetzen, cool lupft Aubameyang den Ball über Kruse hinweg zum 2:0.

Nach zwei wegen Abseits ungültigen Treffern erzielt Kagawa den Endstand von 3:0. Zweimal gibt es stehende Ovationen und „Kloppo! Kloppo!“-Sprechchöre. Aber eigentlich sind wir mit den vielen Einzelheiten, die wir im Stadion sehen, überfordert. Im Fernsehen wird scheinbar immer alles Wichtige gezeigt, hier kommt ein Junge die Treppe hoch, ein Baby sitzt auf dem Schoß, ein Nebenmann hat gelb-schwarz lackierte Fußnägel, der andere auf die Wade das Vereinswappen tätowiert, Klopp schreit in seiner gelben Jacke, Rauchwolken schweben über den Zuschauern rechts von uns.

Der Abschied von Klopp hat begonnen und ist nicht leicht. Tränen sehen wir nicht, aber vielleicht sind wir zu abgelenkt von den vielen Details um uns herum, die so anders sind, als bei Fernsehübertragungen. Das U lockt uns auf das Dach des Wahrzeichens von Dortmund, wo vor der Kulisse des Stadions die Sonne hinter der Roten Erde versinkt. So perfekt dieser Ball ist, wie eine Seifenblase aus brodelndem Magma hinter den Zechen und Kühltürmen, so perfekt war dieser Tag für den BVB – auch für uns.

Für Klopp, den hippesten Trainer der Welt, sieht die Zukunft rosig aus, egal ob er in Manchester oder bei Arsenal London neu beginnt, bei Real Madrid oder der Nationalmannschaft, vielleicht sogar in der Autorennationalmannschaft. Diesen Klopp würden wir nehmen.

von Falko Henning

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Falko Henning

Falko Henning, geboren 1969 in Berlin. Schriftsetzerlehre und Abitur in der Abendschule. Seit Mitte der 90er Jahre Kolumnen, Artikel, Kurzgeschichten, Hörspiele, Essays, Romane. Ab 1999 Mitarbeit an „Alkor“, „Echolot“ und „Ortslinien“ von Walter Kempowski. Seit 2000 als Buchautor, Journalist und Vortragsreisender selbständig. Romane: „Alles nur geklaut“ (1999), „Trabanten“ (2002); Kurzhörspiele: „Radio Hochsee“ (2004); weitere Veröffentlichungen „Volle Pulle Leben“ (2005), „100 % Berlin“ (2008), „Der Eisbär in der Anatomie. Geschichten aus 300 Jahren Charité“ (2010), „Ohne Dich ist alles Staub“ (mit Robert Weber, 2012), „Welche Mauer eigentlich? Texte zu 1989 & 1990“ (herausgegeben mit Alessandra Schio, 2014). Seit 2014 Spaziergänger und Touristenführer in Berlin. Sein Moment für die Ewigkeit: das Tor am 3. Februar 2014 in Ponta do Sol auf der kapverdischen Insel Santo Antao. 

      

Evonik Industries
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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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