„Der Wolf ist herumgekommen, er hat einen langen und interessanten Weg hinter sich“, sagt Marius – Nachname Wolf – über sich selbst. Er lebt das Vereinsmotto, das da heißt: „Und du stehst immer wieder auf...“ Im dritten Anlauf hat sich der 26-Jährige im Kader des Deutschen Pokalsiegers etabliert, ist gefühlt der „zwölfte Mann“, jedenfalls eine der ersten Einwechsel-Optionen für Cheftrainer Marco Rose, wenn er den Wolf nicht schon von Beginn an spielen lässt wie gegen Augsburg, wo er vorne links anfing und hinten rechts aufhörte. Flexibilität ist eine seiner Stärken, noch wichtiger Einsatzbereitschaft und Identifikation.

Das erste Trikot hat er immer noch. „Liegt irgendwo im Haus meiner Eltern“, sagt Marius. Klassisches Gelb mit schwarz abgesetztem Kragen und ebenfalls schwarzen, lang gezogenen Streifen an den Armen. In diesem Trikot ist Borussia Dortmund 1996 Deutscher Meister geworden. Außerdem hat es dem BVB die ewige und Echte Liebe des Marius Wolf beschert, auch wenn das damals noch ein wenig unter dem Radar lief.

Der Cousin hat ihm das Hemd geschenkt, es passte ihm nicht mehr, aber dem kleinen Marius reichte es bis zu den Knien. „War eher ein Nachthemd“, und es hat ihn über Nacht zum Fan gemacht. Ach, schwarzgelbe Borussia, wie bist du wunderschön! Fortan lag er dem Vater immer wieder damit in den Ohren, einmal in dieses sagenumwobene Dortmund zu fahren, „auch wenn ich überhaupt keine Vorstellung hatte, wo das so ungefähr sein könnte“. Also hat Papa Wolf seinen achtjährigen Sohn ins Auto gesetzt und ist mit ihm zum Bundesligaspiel gegen Bayer Leverkusen ins schönste Stadion der Welt gefahren. 430 Kilometer einfache Strecke, das Haus der Wolfs liegt im oberfränkischen Einberg. Als Marius 15 Jahre später seinen Vertrag beim BVB unterschrieb, hat ihm die Mama das Foto mit dem schwarzgelben Nachthemd geschickt und darunter geschrieben: „Der Traum ist wahr geworden!“ 

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Die Geschichte mit dem ersten Trikot findet sich in Ronald Rengs zauberhaft schönem Buch „Der große Traum“, in dem er über neun Jahre drei Jungs begleitet, die es unbedingt in die Bundesliga schaffen wollen. Marius, wie fühlt es sich an, Held eines Buches zu sein? Das ist schon aufregend. Erstmal muss ich sagen, dass der Ronald das sehr gut aufgeschrieben hat. Ich habe da schon ab und zu gedacht: Schade, dass es so ein Buch zu meiner Jugendzeit noch nicht gab. Da werden schon einige wichtige Sachen vermittelt, wie das so läuft mit der Schule und dem täglichen Training und den Problemen im Alltag, mit denen du dich rumschlägst, wenn du Profi werden willst. Das ist mal ein ganz anderes Buch mit einem ganz neuen Ansatz! Ich kann es allen jungen Fußballern nur empfehlen, und ihren Eltern auch. Und am Ende bleibt: Ich bin jetzt endlich angekommen!

Der Wolf hat sein Revier gefunden?!

So ist es! Der Wolf ist herumgekommen, er hat einen langen und interessanten Weg hinter sich, das ist mir jetzt noch mal beim Lesen des Buchs aufgefallen. Ich bin ja in meinen jungen Jahren schon so etwas wie ein Umzugsexperte. Nürnberg, München, Hannover, Dortmund – und zwischendurch noch Berlin und Köln. Frage mal meinen Vater und meinen Cousin...

Den, der dir das erste BVB-Trikot geschenkt hat?

Genau! Er war mit meinem Papa bei meinen Umzügen dabei. Alle haben wir zusammen Wolfs Revier gesucht und jetzt endlich gefunden. Ich bin endlich da, wo ich hingehöre!

Auch in dem Buch gibt es für Dich ein Happy End. Du bist der Einzige der drei Jungs, der es bis nach ganz oben geschafft hat. Dabei sah es nicht immer danach aus. Du hattest mit Rückschlägen zu kämpfen. Als Jugendlicher beim 1. FC Nürnberg, später als Jungprofi bei 1860 München, bei Deinem ersten Bundesliga-Engagement in Hannover und auch beim BVB. Das geht vielen so, aber das Großartige bei Dir ist: Du bist immer wieder aufgestanden! Du lässt Dich nicht klein kriegen, bis Du endlich da bist, wo Du hinwillst! Ist das ein Wesenszug von Dir über den Fußball hinaus?

Absolut. Es gibt immer Phasen, in denen es mal nicht so gut läuft, im normalen Leben wie auch im Fußball. Das gehört einfach dazu, auch und ganz besonders bei mir. Aber jetzt bin ich hier, und das zählt!

Hast Du auch einmal gedacht: Jetzt geht es nicht mehr weiter? Ich bin als Fußballprofi einfach nicht gut genug und muss etwas anderes machen?

Ganz so weit würde ich nicht gehen. Aber vor fünf Jahren in Hannover, als ich unbedingt den Sprung in die Bundesliga schaffen wollte und in die zweite Mannschaft abgeschoben wurde, da habe ich schon ein wenig an mir gezweifelt. Ich war weit weg von zu Hause, habe mich erst verletzt und bin dann auch noch am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt. Sportlich war ich total weg vom Fenster. Es war mein großes Glück, dass ich in dieser Phase immer die Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde gespürt habe. 

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Das prägt Dich bis heute. Egal, was kommt: Du weißt, dass Du das durchstehst. Du wächst auch an Deinen Krisen.

Wie definierst du Krisen? Ich habe immer nur Herausforderungen gesehen, und die musst du annehmen. Deswegen spiele ich jetzt für den BVB! Ich hatte zum Beispiel am Anfang meiner Karriere ein Problem in Nürnberg, mit Wachstum und so weiter, ich bin in zwei Jahren zwanzig Zentimeter größer geworden. Da verlierst du einige Sachen und gewinnst sie später wieder, aber das weißt du da noch nicht. Ich habe ein Dreivierteljahr dafür gebraucht, dann war alles wieder beim Alten. Ich hatte damals das Glück, dass mein ehemaliger Trainer aus der U15 beim 1. FC Nürnberg als Chef das Nachwuchsleistungszentrum bei 1860 München übernahm. Der hatte mich noch auf dem Schirm.

Bei 1860 bist Du durchgestartet. Zum Stammspieler in der U19-Bundesliga und über die U23 gleich weiter zu den Profis in der Zweiten Bundesliga, aber auch da gab es Ärger. Weil Du eine Vertragsverlängerung nicht sofort akzeptiert hast und deswegen für ein Auswärtsspiel in Bochum suspendiert worden bist.

Das war schon eine einschneidende Erfahrung. Meine erste, wie das so laufen kann im Profigeschäft. Ich habe das nicht verstanden und auch nicht geglaubt, dass so etwas überhaupt möglich ist. Ich hatte gerade meine erste Einladung für die U21-Nationalmannschaft bekommen, da rechnest du doch nicht damit, dass der Verein zu so einer Maßnahme greift.

Egal. Bin ich eben als suspendierter Spieler zur Nationalmannschaft gefahren und hatte etwas, womit ich mich bestens von dem Stress in München ablenken konnte.

Als nächstes kam der Kulturschock mit Hannover 96. Zum ersten Mal weit weg von der Familie und den Freunden.

Ich habe diesen Wechsel als Chance gesehen. Ich wollte in der Bundesliga spielen, Hannover gab mir die Möglichkeit dazu. Dass es dann so laufen würde, mit der Verletzung, dem Drüsenfieber und der Abschiebung in die zweite Mannschaft ... egal! Ich möchte diese Zeit nicht missen, denn ich habe mich nicht hängen lassen und an meine Chance geglaubt. Ich wusste, dass ich es in der Bundesliga schaffen kann. Wenn nicht in Hannover, dann eben woanders.

Was dann passiert ist, gehört zu den verrücktesten Geschichten in der an verrückten Geschichten nicht armen Bundesliga.

Du meinst den Wechsel nach Frankfurt, obwohl ich eigentlich schon mit Bochum klar war? 

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Im Januar 2017 hattest Du am vorletzten Tag der Winter-Transferperiode schon in einem Bochumer Hotel eingecheckt. Abends um halb elf klingelte das Telefon. Der Anrufer war Bruno Hübner, der Sportdirektor von Eintracht Frankfurt, der Dich unbedingt verpflichten wollte. Einen 22-Jährigen, der sich beim Absteiger Hannover nicht durchgesetzt hatte und zuletzt nur in der Regionalliga spielen durfte...

Ja, es passieren manchmal schon seltsame Sachen. Ich hatte mich voll auf Bochum eingestellt und wollte dort unbedingt Spielpraxis bekommen. Durch den Anruf von Bruno Hübner hat sich alles geändert. Seine Söhne kannten mich und haben wohl ein gutes Wort bei ihm für mich eingelegt. Wie hätte ich mir das entgehen lassen können? Ich hatte wieder die Chance, in der Bundesliga zu spielen, das war mein Traum! Da gab es kein Überlegen. Also habe ich im Hotel wieder ausgecheckt, den Bochumern abgesagt und bin gleich weiter nach Frankfurt.

Zwei Monate hat es bis zu Deinem ersten Bundesligaspiel für die Eintracht gedauert und nochmal vier Monate bis zu Deinem ersten Bundesligator, das Du ausgerechnet gegen den BVB erzielt hast. Man findet auf Youtube alles, sogar ein Tor von Dir für die U23 von 1860 gegen Würzburg. Dieses Tor gegen den BVB aber ist einfach nicht aufzutreiben.

Na, da helfe ich dir doch gern weiter! Das war ein sehr aufgewühltes Spiel, Dortmund lag 2:0 vorn, aber wir haben schnell den Anschluss geschafft und gemerkt: Da geht noch was! Wir sind angerannt, Mijat Gacinovic hat den Ball durchgesteckt, und ich habe mir gedacht: Nimm ihn und hau ihn rein! Also habe ich ihn genommen und reingehauen.

Es war übrigens das erste Spiel von Jadon Sancho für den BVB.

Ach ja? Das wusste ich nicht, war also sozusagen ein doppeltes Debüt. Wieder was dazugelernt.

Auch in Deiner großartigen Frankfurter Zeit hattest Du eine mentale Mini-Krise durchzustehen. Im Halbfinale des DFB-Pokals gegen Borussia Mönchengladbach hast Du Dich so schwer an der Schulter verletzt, dass Du für das Endspiel gegen den BVB ausgefallen bist. Das war verdammt hart. So oft erreicht die Eintracht, so oft erreiche ich ein Pokalendspiel nicht. Glaube mir, ich habe die Ärzte lange genervt und immer wieder gebettelt, ob da nicht noch was geht, ob man die Operation nicht vielleicht verschieben kann. Keine Chance! Die Verletzung war so schwerwiegend; die Schulter musste sofort operiert werden. Es gibt nichts Schlimmeres für einen Fußballspieler, als tatenlos mitanzuschauen, wenn die Kollegen auf dem Platz stehen, ausgerechnet in so einem Spiel...

... das dann 1:2 gegen den BVB verloren ging. Aber es hat ja gleich im nächsten Jahr noch mal geklappt, und wie! 3:1 im Endspiel gegen den großen Favoriten Bayern München!

Ein unglaubliches Erlebnis, aus mehreren Gründen. Es war ja nicht nur dieses sensationelle Spiel und mein bis heute größter sportlicher Erfolg. Sondern auch mein letztes Spiel für die Eintracht vor dem Wechsel nach Dortmund. Es hätte wohl keinen schöneren Abschied geben können als diesen Pokalsieg! 

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In Frankfurt hast Du in Kevin Prince Boateng einen Freund fürs Leben kennengerlernt. Habt Ihr vor Deinem Wechsel auch über den BVB gesprochen? Er hat ja vor ein paar Jahren mal kurz hier gespielt.

Natürlich. Er war einer der Ersten, denen ich von meinem Wechsel erzählt habe. Wir sind danach noch zusammen in den Urlaub nach Ibiza geflogen, da war das immer wieder mal ein Thema. Kevin hat gesagt: Sehr gute Entscheidung, Bruder, musst Du unbedingt machen, Dortmund ist ein Super-Club!

Das erste Jahr beim BVB lief ganz gut, im zweiten aber hast Du Dich schnell in Richtung Berlin verabschiedet.

Ich hatte mir das natürlich ganz anders vorgestellt. Die Vorbereitung im Sommer 2019 war nach meinem Empfinden die beste, die ich je absolviert habe. Deshalb habe ich ja mit dem Wechsel so lange gewartet, bis zum letzten Tag, weil ja auch von Vereinsseite keine Zeichen kamen, dass man mich abgeben wollte. Aber irgendwann musste ich mir eingestehen, dass es für diese Saison schwer wird. Kein Problem, dann muss ich eben woanders daran arbeiten, dass ich demnächst in Dortmund besser weiterhelfen kann. Deswegen der Last-Minute-Wechsel nach Berlin.

Der damalige BVB-Trainer Lucien Favre hat schon Lukasz Piszczek vom Stürmer zum Verteidiger umfunktioniert, auch Deine Qualitäten hat er weiter hinten gesehen. Das macht Dich zu einem noch variableren Spieler. Bleibt das als positive Erinnerung aus einer nicht ganz so positiven Zeit hängen?

Stimmt, davon habe ich mit Sicherheit profitiert. Ich habe zwar schon in Frankfurt ab und zu als Verteidiger gespielt, allerdings in der Fünferkette, das ist schon was anderes als jetzt in der Viererkette. Natürlich habe ich mich dadurch als Fußballspieler weiterentwickelt, insofern war diese Phase ein Gewinn. Auch aus dieser Dortmunder Phase nehme ich nur Positives mit!

In Berlin gab es ebenfalls eine Krise, allerdings eine, die nicht nur Dich allein getroffen hat. Hertha drohte im Chaos zu versinken, als Jürgen Klinsmann Hals über Kopf Berlin verließ und ein recht seltsames Vermächtnis hinterließ. Du warst einer der wenigen, die in seiner Abrechnung positiv beurteilt wurden. In seinem via „Sportbild“ veröffentlichten Tagebuch heißt es: „Marius Wolf, 24, Leihspieler von Dortmund, super Einstellung, sollte man kaufen und dann Mehrwert erzeugen.“

Tja, was soll ich dazu sagen? So etwas hat die Bundesliga noch nicht erlebt. Wir als Spieler haben da nicht so drauf geachtet. Auch wenn ich im Nachhinein sagen muss, dass es einen natürlich freut, wenn man so positiv beurteilt wird, wenn auch in einem sehr ungewöhnlichen Zusammenhang. Mir als Spieler hat es ohnehin nicht viel gebracht, weil ja gleich ein neuer Trainer kam und der natürlich seine eigenen Bewertungsmaßstäbe hatte. 

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Nach dem Jahr bei Hertha ging es zurück zum BVB und wieder von vorn los. Noch ein- mal alles geben und angreifen, aber am Ende der Vorbereitung stand wieder eine Ausleihe, diesmal nach Köln. Kommt man sich da nicht irgendwie hin- und hergeschoben vor?

Daran habe ich nie gedacht. So ist nun mal das Geschäft. Ich wollte Fußball spielen, und weil das beim BVB auch in jener Saison schwierig geworden wäre, musste ich halt woanders hin. Ich habe mich bemüht, auch diese Situation positiv zu sehen. Durch die vielen Wechsel und Leihen habe ich viel mitgenommen, tolle Städte kennengelernt und interessante Menschen. Das nimmt mir keiner mehr weg. Und: Ich habe immer für Vereine mit geilen Fans gespielt! 

Das Kölner Jahr hätte beinahe mit einem weiteren Tiefpunkt geendet. Erst im zweiten Relegationsspiel gegen Holstein Kiel seid Ihr dem Abstieg entgangen.

Ach, ich war mir ziemlich sicher, dass wir es noch schaffen. Zum einen, weil wir eine gute Mannschaft hatten, zum anderen, weil ich die Situation kannte. Ich hatte schon mal mit 1860 in der Relegation gegen Kiel gespielt und nach einem eher schwachen Hinspiel im Rückspiel noch die Klasse gehalten. Das war schon eine kuriose Sache.

In diesem Sommer bist Du nun zum dritten Mal nach Dortmund gekommen, diesmal aber unter neuen Voraussetzungen. Es gab ein neues Trainerteam und damit auch eine neue Chance für Dich.

Das war absolut motivierend! Der neue Trainer kannte mich nicht und hat alles auf null gestellt. Bevor Du jetzt fragst, ob ich wegen der blöden Sprunggelenkverletzung in der Vorbereitung schon wieder eine Krise befürchtet habe: Nein, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Erstmal passieren Verletzungen nie zu einem guten Zeitpunkt, außerdem habe ich früh gemerkt, dass ich sehr schnell wieder zurückkommen würde. Noch mal: Es ist wahnsinnig wichtig, positiv zu denken. Auch deshalb war ich nach zwei Wochen wieder zurück auf dem Platz.

Das könnte auch Dein Kumpel Kevin-Prince Boateng so formuliert haben. Wie intensiv ist denn Euer Kontakt heute in diesem intensiven Bundesliga-Geschäft?

Wir telefonieren immer noch jede Woche und spielen auch öfter mal Playstation gegeneinander.

Wer gewinnt?

Da gewinne schon ich, das ist ja auch eine Generationsfrage, und, sorry Kevin: Playstation kann Deine Generation nicht besonders gut!

Autor: Sven Goldmann